20.06.2023
Stilles Beben
Im Umland von Ankara leben seit dem Erdbeben viele Schutzsuchende unter schlechten Bedingungen, die alles verloren haben und wieder bei null anfangen müssen. Foto: Privat
Im Umland von Ankara leben seit dem Erdbeben viele Schutzsuchende unter schlechten Bedingungen, die alles verloren haben und wieder bei null anfangen müssen. Foto: Privat

Mehr als 500.000 afghanische Schutzsuchende leben in der Türkei, viele von ihnen im vom Erdbeben betroffenen Gebiet. Dis:orient-Mitglied Wais war im Zuge einer Spendenaktion in Ankara und teilt seine Eindrücke mit uns.

Am sechsten Februar erschütterten Erdbeben mehrere Provinzen im Südosten der Türkei und im Norden Syriens. Wais erzählt von neuen Erschwernissen, die diese Katastrophe für afghanische Schutzsuchende in der Türkei mit sich bringt und von strukturellen Hürden, die seit jeher bestehen.

Gab es nach dem Erdbeben einen Anstieg an Gewalt und Hetze gegen Schutzsuchende?

Die Situation von Schutzsuchenden in der Türkei hat sich bereits seit 2015 verschlechtert, das türkische Wort yabanci geht innerhalb der Gesellschaft um. Der Begriff bedeutet übersetzt in etwa ,Ausländer‘, früher wurde er neutral benutzt, heute ist es ein Schimpfwort. Hinzu kommt, dass die türkische Republik auf einem homogenen Bild der türkischen Gesellschaft gegründet wurde, was bis heute zu nationalistischen Einstellungen führt. Erkennbar wird das unter anderem im Umgang mit Geflüchteten.

Es gab Parteien, die so eine Krise ausnutzen wollten und Gerüchte verbreiteten. Sie behaupteten etwa, afghanische und syrische Geflüchtete hätten sich am Hab und Gut der vom Erdbeben betroffenen Menschen bedient und geplündert oder Gewalt an der türkischen Bevölkerung ausgeübt. Diese Vorwürfe waren falsche Diffamierungen. Gleichzeitig kann es bei Naturkatastrophen diesen Ausmaßes passieren, dass es einzelne Täter:innen gibt und in den daraus resultierenden Notsituationen Chaos und gewisse Formen der Anarchie ausbrechen.

Unter welchen Bedingungen lebten Schutzsuchende in der Türkei vor dem Erdbeben?

Tatsächlich lebten die Menschen in unterschiedlichsten Umständen, denn die Gruppe von afghanischen Schutzsuchenden in der Türkei ist an sich sehr heterogen. Einige von ihnen leben bereits seit den 1980er-Jahren in der Türkei und haben sich eine eigene Community aufgebaut, ihre Kinder sind dort aufgewachsen, sie sprechen besser Türkisch als Dari, Paschtu oder andere afghanische Sprachen. In der vom Erdbeben betroffenen Provinz Hatay gibt es beispielsweise ein Dorf namens Okavent, in dem fast nur Afghan:innen leben – unterschiedlichste ethnische Gruppen aus Afghanistan, alle durchweg vertreten. Diese Personen konnten sich ein Leben in der Türkei aufbauen.

Auch, wenn die meisten Afghan:innen in dieser Region unter sehr einfachen Bedingungen lebten, nicht vergleichbar mit dem Wohlstand türkischer Großstädte, waren die Personen, mit denen ich sprechen durfte, recht zufrieden mit ihrer Situation vor dem Erdbeben. Allerdings gibt es auch viele Schutzsuchende, die erst nach der Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 in die Türkei gekommen sind. Diese Menschen müssen unter ganz anderen Umständen leben, vor allem ökonomisch, und werden in der Bevölkerung negativ angesehen, weil sie beispielsweise die Sprache nicht gut beherrschen. Sie haben mit deutlich mehr Herausforderungen zu kämpfen, sowohl in der Erdbebenregion als auch in den Großstädten.

Wie sieht es in der türkisch-syrischen Grenzregion aus?

Man muss generell sagen, dass die Region, in der das Erdbeben passierte, vollkommen marginalisiert ist. Insbesondere die kurdischen Gebiete wurden seit langer Zeit von der Regierung vernachlässigt. Zeitgleich leben in diesen Regionen viele Geflüchtete, die es zum Teil noch schlechter haben und über deren Situation wir überhaupt nicht Bescheid wissen, weder in der Türkei noch in Deutschland.

Sind auch die Menschen, die seit Jahrzehnten im Erdbebengebiet leben, auf Hürden gestoßen?

Überraschenderweise, das hat mich wirklich schockiert, tragen diese Personen immer noch den Status ,Flüchtling‘. Sie haben kaum die Chance bekommen, tatsächlich türkische Bürger:innen zu werden.

Und auch nach Jahrzehnten bekommen sie keinen offiziellen Aufenthaltsstatus oder die Staatsbürgerschaft?

Das ist richtig, auch nach langer Zeit werden sie immer noch als yabanci bezeichnet und tragen den Status von Schutzsuchenden. Die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, betrachteten das zum Großteil gar nicht so kritisch. Sie verstehen sich als Afghan:innen und brachten ganz klar ihre Dankbarkeit gegenüber der Türkei zum Ausdruck, was mich etwas überrascht hat.

Was bereitet den Menschen, neben fehlendem offiziellen Status, die meisten Schwierigkeiten?

Am meisten Schwierigkeiten bereitet ihnen zum einen, dass sie von der Bevölkerung mittlerweile missachtet und nicht gerne gesehen werden. Natürlich trifft das nicht auf die gesamte türkische Bevölkerung zu, aber diese Entwicklung ist bemerkbar, vor allem in den letzten Jahren. Auch die wirtschaftliche Situation hat sich deutlich verschlimmert, alles ist extrem teuer geworden. Das hat ebenfalls dazu beigetragen, dass Schutzsuchende, vor allem neu Angekommene, unerwünscht sind. Bei der Präsidentschaftswahl wurde von allen Seiten, von Regierungsseite als auch von der Opposition, gegen Geflüchtete gehetzt, um Wähler:innenstimmen zu gewinnen. Das bereitet den Geflüchteten erhebliche Probleme, ob in der Interaktion mit Behörden, den Menschen vor Ort oder der Polizei. In jeder Lebenslage kommen hierdurch Hürden auf.

Die wirtschaftliche Situation stellt ebenfalls eine große Herausforderung dar. Viele von ihnen haben nie wirklich Anschluss in der türkischen Bevölkerung gefunden, ihnen fällt es dementsprechend schwer, anständige Arbeit zu finden und Geld zu verdienen. Einige haben kaum türkische Sprachkenntnisse, viele kommen aus sehr bescheidenen Verhältnissen, nur wenige sind Akademiker:innen. Da ist die Chance deutlich geringer, sich in der Türkei ein Leben aufbauen zu können. In den seltensten Fällen schaffen sie es, selbständig und mit geliehenem Geld ein kleines Geschäft zu eröffnen. Großteils müssen Afghan:innen für geringen Lohn für türkische Unternehmen oder für türkische Kleinhändler:innen arbeiten, und dort machen sie meistens nicht die allerbesten Erfahrungen.

Und auch diese Arbeitsplätze haben die Menschen jetzt verloren?

Alle afghanischen Schutzsuchenden aus dem Erdbebengebiet, ob sie dort seit Jahrzehnten leben oder erst seit wenigen Monaten, fangen wieder bei null an. Sie haben fast all ihr Hab und Gut verloren, ihr Erspartes, ihre Häuser, ihre Geschäfte, Familienangehörige.

Aber nicht nur die wirtschaftliche Situation ist belastend, es existiert auch eine psychologische Problematik, die kaum beachtet wird. All diese Menschen wurden ebenfalls seelisch vom Erdbeben getroffen, und das wird meist vergessen.

Wie kann ich mir die Bedingungen, unter denen afghanische Schutzsuchende jetzt leben müssen, vorstellen?

Die meisten afghanischen Schutzsuchenden leben unter sehr schlechten Bedingungen. Wir haben zum Teil Familien getroffen, die zu acht, zu neunt in einer kleinen Zweizimmerwohnung gelebt haben. Die meisten dieser Wohnungen sind Bruchbuden, in Deutschland würden wir sie eher als Keller bezeichnen: Wohnungen mit niedrigen, kleinen Fenstern, unter dem ersten Stockwerk, ohne Möbel, ohne Zugang zu Heizungen. Im Winter war es besonders schwierig, viele haben berichtet, wie sehr sie sich über den Sommerbeginn freuen.

Dann gibt es andere Familien, die in noch schlechteren Verhältnissen leben. Sowohl in Ankara als auch in den umgebenden Gebieten existieren verwahrloste Viertel, beispielsweise die Gemeinde Akyurt. Dort findet man viele heruntergekommene Häuser, die kurz davor sind, abgerissen zu werden. Das sind ebenfalls die Bestrebungen der Regierung, weil sie dort deutlich modernere Hochhäuser bauen möchte. Davon würden auch die Besitzer:innen dieser Grundstücke profitieren. Die Menschen, die jetzt dort leben, müssen sich dann etwas Neues suchen.

Dadurch, dass die türkische Bevölkerung, die aus dem Erdbebengebiet in die Großstädte gezogen ist, Unterstützung durch die Regierung erhalten hat, beispielsweise beim Bezahlen von Mieten, sind die Mietpreise extrem angestiegen. Vermieter:innen gingen davon aus, dass die Regierung alles bezahlen wird und sie somit horrende Preise verlangen können. Auch in Vierteln, in denen viele afghanische Familien leben, mussten die Menschen mit einem Anstieg von 700-800 Lira Miete im Monat auf 2000-3000, in einigen Gebieten sogar 4000 Lira rechnen. Zu diesem Zeitpunkt (Stand April 2023) waren 22 Lira umgerechnet ein Euro. Afghanische Schutzsuchende verdienen maximal 3000 bis 4000 Lira im Monat.

Die Familien, mit denen ich gesprochen habe, kämpfen momentan damit, ihre Miete zu zahlen, geschweige denn überhaupt Lebensmittel einzukaufen oder medizinische Versorgung finanzieren zu können.

Bekommen sie von der Regierung Hilfe?

Ich habe mit circa zwanzig Familien gesprochen, und von keiner Familie, von keiner Person erfahren, dass es tatsächlich ein Unterstützungsprogramm für geflüchtete Menschen von der Regierung gibt. Anfangs allerdings, etwa bei der medizinischen Versorgung, oder der Evakuierung der Menschen, wurde nicht geschaut, wer ins Krankenhaus kommt und ob diese Person beispielsweise afghanischer, türkischer, syrischer oder kurdischer Herkunft ist. Man hat versucht Menschenleben zu retten, so viele wie möglich. Alle waren mit der Situation überfordert und konnten überhaupt nicht an irgendein bürokratisches Verfahren denken.

Möchten die Menschen ins Erdbebengebiet zurückkehren, ist das überhaupt möglich?

Die meisten Menschen haben sich gar keine Gedanken darüber gemacht, wieder zurückzukehren, weil sie zum Zeitpunkt mit ganz anderen Problemen beschäftigt sind. Zum einen haben sie emotional sehr viel erlitten, zum anderen müssen sie mit massiven wirtschaftlichen Problemen kämpfen. Eine Familie meinte, sich viele Lebensmittel, etwa Fleisch, nicht mehr leisten zu können. Andere haben ganz offen darüber gesprochen, dass sie Familienangehörige verloren haben, zum Teil Kinder. Viele andere haben Ausweispapiere verloren, die sie vorweisen müssen, sie haben jetzt noch mehr Angst, abgeschoben zu werden, als zuvor schon. Es ist nicht ihr erster Gedanke zurückzukehren, um wieder etwas aufzubauen – natürlich ist dieser Wunsch da. Das haben uns einige Familien mitgeteilt, aber das ist aktuell sicher nicht ihre primäre Sorge.

Wie kann man afghanische Schutzsuchende in der Türkei unterstützen?

Leider muss ich sagen, dass die Unterstützung schwerfällt. Ich habe selbst eine Initiative ins Leben gerufen, im kleinen Rahmen, aber immerhin war es möglich, 20 Familien finanziell zu unterstützen. Auf NGO Seite gibt es allerdings kein wirkliches Programm mit Fokus auf Geflüchteten. Es gibt Programme, die bevölkerungsübergreifend im Erdbebengebiet aktiv sind, der Bedarf aber ist so enorm, dass gerade solche Gruppen vernachlässigt werden. Oft wurde auch nicht transparent gemacht, wen Hilfsgelder tatsächlich erreicht haben.

Viele dieser großen Organisationen haben diesen Details keine Aufmerksamkeit geschenkt. Wer erhält diese Spenden und wie kommen sie dorthin? Welche Gruppen werden unterstützt und wie werden sie unterstützt? Erhalten sie das allernötigste, das, was sie wirklich brauchen?

Gibt es Eindrücke, die dir ganz besonders in Erinnerung geblieben sind?

Erst wenn man vor Ort ist und mit den Betroffenen spricht, wird einem bewusst, was sie eigentlich durchgemacht haben. In Erinnerung bleibt mir etwa ein Gespräch mit einem Familienvater, der miterleben musste, wie sein ältester Sohn, der 12 Jahre alt war, über 36 Stunden unter diesen Trümmern lag und sich nicht befreien konnte. Der Junge starb an den Folgen, sein Vater blieb die ganze Zeit über bei ihm. Er hat über all diese Stunden gehört, wie sein Sohn unter unvorstellbaren Schmerzen leiden musste.  

Es gibt unzählige solcher unfassbar traumatischen Geschichten. Viele der Überlebenden haben bleibende gesundheitliche Schäden, etwa wurden Arme und Beine schwer verletzt und mussten in einigen Fällen sogar amputiert werden. Eine ausreichende medizinische Versorgung vor Ort war oft nicht mehr möglich, denn die Anzahl der Opfer war so hoch, dass vielen Menschen unter den Trümmern nicht sofort geholfen werden konnte. Da reichten die ganzen Hilfsprogramme, die ganzen Hilfsorganisationen und ihre Unterstützung nicht aus. Die Türkei war ganz klar damit überfordert.

Siehst du darin eine gewisse Mitschuld?

Natürlich kann man auch der Regierung ein Stück die Schuld in die Schuhe schieben, weil sie keine erdbebenfesten Häuser bauen haben lassen. Häufig handelte es sich dabei um Bauaufträge von regierungsnahen Unternehmen, die an den Kosten sparen wollten. Das Ergebnis dieser Entscheidungen mussten wir im Erdbebengebiet sehen, als die Gebäude gefallen sind wie Kartenhäuser. Sie sind so schnell eingestürzt, dass die Menschen völlig überrascht worden sind. Auch die Aufräumarbeiten werden hierdurch erschwert, weil zum Teil kein Stein mehr auf dem anderen liegt. In den Gesprächen mit den betroffenen Menschen habe ich natürlich eine gewisse Form von Wut und Trauer erlebt, zeitgleich trotz all der Traumata eine Dankbarkeit, überhaupt noch am Leben zu sein und es bis Ankara geschafft zu haben.

Dass das alles einfach wieder vergessen wurde und keine mediale Aufmerksamkeit mehr bekommt, finde ich sehr schade. Wenn eine Katastrophe stattfindet, wird kurz akut geholfen und Betroffenheit generiert, danach bricht alles sofort wieder weg. Viele glauben schnell, dass alles wieder seine Normalität und seinen Alltag gefunden hat. Das ist nicht der Fall. Es ist wichtig, darauf Aufmerksam zu machen und die Menschen daran zu erinnern, dass die Folgen noch Jahrzehnte andauern werden.

 

 

 

Sophie Romy studiert Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus. Von Herbst 2019 bis Herbst 2022 leitete sie das Nerv-Magazin für studentisches Sein. Ihre Texte erschienen in diversen Literaturzeitschriften und Anthologien. Seit Oktober 2022 ist sie Hospitantin beim ZEIT Wissen Magazin.
Redigiert von Pauline Jäckels, Claire DT