26.03.2017
Flucht aus Tunesien: Wieder nur hoffen
In Tunesien kann Homophobie tödlich sein. Illustration: Monia Ben Hamadi
In Tunesien kann Homophobie tödlich sein. Illustration: Monia Ben Hamadi

Bisexuell zu sein, ist in Tunesien lebensgefährlich. Deshalb sind Yasin und seine Familie nach Deutschland geflohen. Doch nun droht ihnen die Abschiebung. Eine Reportage von Maximilian Ellebrecht.

Nachts plagen Yasin Albträume. Er träumt, nach Tunesien abgeschoben und von seiner Familie verfolgt zu werden. Wenn er aufwacht, ist er verwirrt und fühlt sich verloren. „Bin ich in Tunesien oder Deutschland?“, fragt er sich dann und läuft zum Fenster, um sich zu vergewissern. Erst wenn er merkt, dass er noch in Deutschland ist, beruhigt er sich.

Yasin trägt eine große Last; er fühlt sich für die Situation verantwortlich. Seine sexuelle Orientierung zwang ihn, seine Frau und die gemeinsamen Kinder zur Flucht. Als sein Bruder erfuhr, dass er außerhalb der Ehe Beziehungen zu Männern unterhielt, versuchte er, ihn umzubringen. Yasin konnte entkommen und tauchte unter, doch sein Bruder suchte ihn. Mit zwei Freunden ging er zu Yasin nach Hause, traf dort aber nur dessen Ehefrau an. Als sie sich weigerte, Auskunft über Yasins Aufenthaltsort zu erteilen, prügelte er sie bis an den Rand der Bewusstlosigkeit. Mit der Unterstützung einer Familienangehörigen gelang der ganzen Familie schließlich die Flucht nach Europa.

Heute sitzt Yasin im Wohnzimmer einer Zweizimmerwohnung. Er ist Anfang dreißig, hat weiche Gesichtszüge und einen kleinen Bauch. Auf dem Stuhl neben ihm sitzt seine kaum jüngere Frau Amira. Sie trägt eine Mütze, obwohl der Raum eigentlich warm ist. Yasin und Amira heißen eigentlich anders, doch aus Angst vor Yasins Familie wollen sie ihre echten Namen nicht veröffentlicht wissen.

Der Ablehnungsbescheid

Auf dem Couchtisch im Wohnzimmer stehen Teller mit Pistazien, Erdnüssen und scharf gewürzten Cashews. Dazu gibt es Fertigkuchen und Instant-Kaffee. Beide Söhne rennen herum, während die vor wenigen Monaten geborene Tochter im Kinderwagen schläft. Der Fernseher läuft stumm im Hintergrund. Auf dem Tisch liegt ein Brief. Anfang Januar erreichte die Familie der Ablehnungsbescheid vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Im Falle einer Abschiebung drohe den Antragstellern keine Gefahr für Leib und Leben, heißt es in dem Bescheid. Im sicheren Drittstaat Schweden sei ihr Antrag auf internationalen Schutz zuvor bereits abgelehnt worden. Ein weiteres Asylverfahren müsse deshalb nicht mehr durchgeführt werden.

Zuflucht im Bahnhof

Yasin und Amiras Wirklichkeit ist eine andere. 2015 flohen sie mit ihren zwei Söhnen aus Tunesien. Sie hatten Glück, denn die lebensgefährliche Fahrt übers Mittelmeer blieb ihnen erspart. Erfolgreich beantragten sie bei der italienischen Botschaft ein Touristenvisum und reisten auf legalem Wege nach Europa. Mit dem Flieger in Italien gelandet, fuhren sie auf dem Landweg zu ihrem Wunschziel Schweden weiter. Dort angekommen, meldeten sie sich bei der Polizei, um Asyl zu beantragen.

Die Anhörung in Schweden fand jedoch nie statt. Schweden wandte das Dublin-Verfahren an und schickte die tunesische Familie zurück nach Italien – in das Land, über das sie den Schengen-Raum betreten hatten. Auch dort wandten sie sich umgehend an die Polizei, doch diese gab ihnen keine Chance, einen Asylantrag zu stellen. „Von euch haben wir schon genug“, sagten die italienischen Polizisten und setzten die vierköpfige Familie auf die Straße. Nachts suchten Yasin und Amira mit ihren Kindern am Bahnhof von Bologna Zuflucht. Kein sicherer Ort, erzählt Amira. Unheimliche Gestalten und Diebe hätten sich dort rumgetrieben. Sie seien bedroht und beinahe ausgeraubt worden. Noch in derselben Nacht buchten sie den Zug nach Deutschland.

„Wir hatten in Tunesien ein glückliches Leben“, sagt Amira immer wieder. Sie und ihr Mann hatten ein Auto und ein Haus, betrieben ein Restaurant, das gut lief. Ihre Ehe war harmonisch. Auch als Yasin seiner Frau eines Tages gestand, sich zu Männern hingezogen zu fühlen, änderte sich daran nichts. Amira war einverstanden, die Ehe zu öffnen. Das ging mit klaren Regeln einher. Die erste Bedingung lautete: absolute Geheimhaltung vor den Kindern. Die zweite: kein ungeschützter Geschlechtsverkehr. Yasin hielt sich daran und ihre geheime Übereinkunft ging einige Jahre gut – bis Yasins Bruder eines Tages mithörte, wie er mit einem Liebhaber über Sex sprach.

„Er wird nicht ruhen, bis er mich findet“, sagt Yasin. Sein Bruder sei altmodisch, wolle ihn umbringen, um die Familienehre wiederherzustellen. Früher waren die beiden gemeinsam im ganzen Land unterwegs, im Außendienst einer tunesischen Firma. Die Leute kannten sie im Doppelpack. Deswegen wäre es Yasin langfristig unmöglich gewesen, sich in Tunesien zu verstecken, meint er. Früher oder später hätte sein Bruder ihn aufgespürt. Nun befindet sich Yasin seit einem Dreivierteljahr in psychologischer Behandlung. Er klagt über Depressionen, fühlt sich müde und gereizt, hat Kopfschmerzen und kann nicht schlafen. Vor einigen Monaten entwickelte er dazu noch eine Herzrhythmusstörung. Auch Amira geht es nicht gut. Sie sagt, sie könnte Tag und Nacht weinen, aber einer von ihnen müsse eben immer stark sein. Für die Kinder.

Nicht vor den Kindern!

Unangekündigt verlässt Yasin den Raum. Wenn sie von diesen Dingen reden und die Kinder da sind, geht er zum Weinen ins Nachbarzimmer, sagt Amira. Dem Gespräch können die Kinder nicht folgen, weil sie kein Französisch sprechen. Doch Yasins Tränen hätten ihn verraten. Die Kinder sollen seine Unsicherheit nicht spüren.

Amira serviert Schwarztee mit Pinienkernen, eine tunesische Spezialität. „Ich bin davon ausgegangen, dass wir erst mal einen Ablehnungsbescheid bekommen würden und dann in Berufung gehen müssten“, sagt sie. Das war ihre Erwartung, nachdem sie beobachtet hatte, wie das Asylverfahren von anderen Geflüchteten aus Tunesien verlief.

Aufmerksam hat Amira die politischen Geschehnisse in den Nachrichten verfolgt: die Debatte über sichere Herkunftsländer, der migrationspolitische Rechtsruck und dann der Anschlag in Berlin. Letzterer beschäftigt die Familie sehr. Manchmal schämen sie sich, aus dem Haus zu gehen, weil die Menschen aus der Nachbarschaft wissen, wo sie herkommen. Amira sagt: „Natürlich sind wir nicht gleich mitverantwortlich, nur, weil wir aus dem gleichen Land kommen wie der Attentäter von Berlin. Aber so reflektiert sind ja nicht alle Menschen.“

Nach Tunesien zurückzugehen, ist für die Familie keine Option. Nachdem Yasins Bruder von der Bisexualität erfuhr, hat er seine Entdeckung unter Familienangehörigen, Freunden und der Nachbarschaft verbreitet. Yasins sexuelle Orientierung ist nun kein Geheimnis mehr. In Tunesien stehen Homo- und Bisexualität unter Strafe, sagt Yasin. Nach einer Abschiebung müssten sie beide ins Gefängnis: er, weil er bisexuell ist – und Amira, weil sie davon wusste.

„Die anderen Häftlinge würden schlimme Dinge mit uns machen“, sagt Yasin. „Da sitzen Kriminelle, auch radikale Islamisten. Sie würden uns foltern, vielleicht mit Messerschnitten.“ Und schließlich, fürchtet Yasin, würde sein Bruder kommen und ihn umbringen. Dass er dann selbst ins Gefängnis müsste, wäre ihm egal.

Kein Weg zurück

Amira greift zur Papiertuchrolle auf dem Tisch, wendet ein Blatt zwischen ihren Fingern. „Mein einziges Ziel ist es, in Frieden und Glück mit meiner Familie zusammenzuleben“, sagt sie. „Deswegen sind wir hier.“ Und wenn das verwehrt wird? Wenn sie wirklich abgeschoben werden sollten? Amira spricht betont ruhig: „Wenn wir wirklich nach Tunesien zurückmüssen, dann bringen wir uns vorher um. Wir sind unsere Optionen durchgegangen und haben uns so entschieden.“ Für Yasin und sie wäre eine Abschiebung ohnehin ein Todesurteil, sagt sie. Die Kinder müssten in Tunesien ihr Leben lang das Stigma ihres bisexuellen Vaters tragen. In Deutschland würde sich wenigstens der Staat um sie kümmern, hier hätten wenigstens die Kinder eine Zukunft.

So weit muss es nicht kommen. Gegen die Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge haben sie umgehend Klage eingereicht. Fürs Erste erfolgreich, wie sie einige Tage nach dem Gespräch am Couchtisch erfahren. Ihr Dublin-Bescheid aus Schweden bewies eindeutig, dass dort keine Auseinandersetzung mit ihren Asylgründen stattgefunden hat. Jetzt muss das BAMF ihr Asylgesuch erneut prüfen. „Das stimmt uns wieder etwas zuversichtlicher“, sagt Amira am Telefon.

Ein Ende der Ungewissheit bedeutet das aber noch nicht. Wieder können die beiden nur warten und hoffen. Und Yasins Albträume werden ihn weiter verfolgen.  

 

Dieser Beitrag erschien in leicht geänderter Form zuerst in der FreitagAusgabe 08/17.

Maximilian hat in Leipzig, Amman und London Politik, Arabisch und internationale Entwicklung studiert. Er lebt in Leipzig, arbeitet mit Geflüchteten und schreibt nebenher als freier Autor. Bei dis:orient betreut er seit 2020 die Kolumne „Des:orientierungen“ und ist unter anderem Teil des Social-Media-Teams.