16.01.2023
Es braucht mehr als Lippenbekenntnisse
Jesid:innen protestieren 2015 in Dohuk im Norden Iraks gegen die Gewalt des IS, der zahlreiche jesidische Frauen verschleppte, missbrauchte und verkaufte. Foto: Seivan M.Salim - AP
Jesid:innen protestieren 2015 in Dohuk im Norden Iraks gegen die Gewalt des IS, der zahlreiche jesidische Frauen verschleppte, missbrauchte und verkaufte. Foto: Seivan M.Salim - AP

Obwohl sie meist weniger aktiv am Krieg beteiligt sind, erfahren Frauen in Konfliktgebieten besonders häufig sexualisierte Gewalt und Unterdrückung. Eine Diskussion über patriarchalische Strukturen und feministische Außenpolitik. 

August 2022 in Berlin: An einem Samstag versammeln sich 29 Frauen aus Afghanistan, Eritrea, dem Irak, Sudan und der Ukraine zu einem Runden Tisch. Sie selbst oder ihre Eltern sind aus Konfliktgebieten geflohen. Zurzeit leben alle Frauen in Deutschland. Eindrücklich erzählen sie von der Situation in ihren Heimatländern und dem Ringen um internationale Maßnahmen gegen die widrigen Umstände vor Ort. Eingeladen zu dem Treffen haben YAAR e.V., ein Verein, der sich für die afghanische Diaspora in Deutschland einsetzt, und DaMigra e.V., der bundesweite Dachverband für Migrant:innenorganisationen. 

Enttäuschung über feministische Außenpolitik 

Es seien die patriarchalen Strukturen, die das Leid der Frauen und Mädchen in Konfliktgebieten besonders verstärken, meint Mecbure Oba. Die Soziologin Oba ist vom Dachverband der jesidischen Frauenräte, selbst Jesidin und in Deutschland aufgewachsen. 2014 begann die Terrormiliz des sogenannten Islamischen Staats (IS) einen Völkermord an den Jesid:innen. Beim Angriff auf die nordirakische Stadt Sindschar, einem der jesidischen Hauptsiedlungsgebiete, tötete der IS systematisch Männer, vergewaltigte Frauen und Mädchen und verkaufte sie als Sex-Sklavinnen. Mehr als 200.000 Jesid:innen flohen

Oba verfolgte die Ereignisse damals mit Entsetzen. Acht Jahre später sei die Situation noch immer katastrophal, berichtet sie. Es gäbe kaum psychologische Hilfe für betroffene Frauen, auch der Aufbau der zerstörten Ortschaften verlaufe schleppend. Viele Vertriebene fürchten sich davor, in die unsichere Region zurückzukehren, wo laut UNHCR circa 3.000 jesidische Frauen und Mädchen als vermisst gelten. 

Die UN-Resolution „Frauen, Frieden und Sicherheit“ gibt es seit 2000 und soll die aktive Teilnahme von Frauen an Friedensverhandlungen und deren stärkere Beteiligung in militärischen Kontexten sicherstellen. 2002 wurde außerdem zum ersten Mal in der Geschichte des Völkerstrafrechts Vergewaltigung explizit als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als Kriegsverbrechen benannt. Auch die feministische Außenpolitik findet zuletzt mehr Zuspruch von Staaten, unter anderem der neuen Bundesregierung unter Außenministerin Annalena Baerbock. 

Doch bisher bleiben diese Bestrebungen oft nur bei rhetorischen Absichtserklärungen. Oba fordert deshalb „ein energischeres Vorgehen in der Verurteilung der Täter“. Die Strafverfolgung von sexualisierten Gewaltverbrechen ist für Überlebende ein wichtiger Schritt hin zur Verarbeitung, auch weil deren Thematisierung oft als Tabubruch gilt. 2021 legte der weltweit erste Strafprozess gegen einen ehemaligen IS-Angehörigen am Oberlandesgericht Frankfurt den Grundstein in der Strafverfolgung des jesidischen Völkermordes. 

Die Aufarbeitung dieser Gewaltverbrechen kommt jedoch nur schleppend voran. Grund dafür ist auch, dass europäische Staaten nur zögerlich IS-Kämpfer aus ihren Ländern  und deren Familien zurückholen. Viele der Gefangenen sitzen noch in kurdischen Gefängnissen in Rojava, wo immer wieder türkische Bomben fallen. Die feministische Außenpolitik sei für Oba bisher eine große Enttäuschung. Der demokratische Zustand einer Gesellschaft, davon ist Oba überzeugt, lasse sich an der Stellung der Frau ablesen. Gemeinsam mit anderen Aktivist:innen hat sie deshalb das Projekt Nûjîn gegründet, das sich unter anderem um jesidische und kurdische Frauen in Deutschland kümmert. Diese haben Gewalt durch den IS erlebt oder wurden Opfer patriarchaler Gewalt innerhalb von Familien. 

Widerstand für Frieden

Frauen können auch eine entscheidende Rolle dabei spielen, friedlichen Widerstand zu leisten. Davon weiß die sudanesische Friedensaktivistin Mai Ali Shatta zu erzählen. 2007 kam sie als Informatikstudentin in Khartum mit der Sudanesischen Entwicklungsorganisation gegen Gewalt (ONAD) in Kontakt. ONAD organisiert Workshops zur gewaltfreien Konflikttransformation. Daraufhin beginnt Shatta selbst als Trainerin zu arbeiten und koordiniert Menschenrechtsverteidiger:innen. Auf Großdemonstrationen spricht sie über die Lehren von Ghandi, Nelson Mandela und Martin Luther King. Dann wird sie mehrmals inhaftiert, im Gefängnis gefoltert und flieht schließlich nach Deutschland ins Exil. 

Als 2019 eine großflächige sudanesische Protestbewegung entsteht, unterstützt Shatta die Proteste von Deutschland aus. Etwa 70 Prozent der Protestierenden, so berichtete die BBC, waren Frauen. Diesen war es bis dahin im Sudan verboten, ohne Kopftuch oder in Hosen auf die Straße zu gehen. Auch das Verlassen des Hauses ohne einen männlichen Verwandten war Frauen untersagt. Für Shatta waren es unvergleichliche Momente, als landesweit Frauen zusammenkamen und unabhängig von Klasse, ethnischer Herkunft oder Religion für eine neue Gesellschaft demonstrierten. „Die Frauen haben eine Führungsrolle im Kampf um einen friedlichen Wandel zu einer freien, demokratischen Gesellschaft eingenommen“, so Shatta. 

Auf die Proteste folgte der Sturz des islamistisch-militärischen Regimes von Präsident Umar al-Baschir. Doch der politische Transformationsprozess gelang nicht. Der Sudan rutschte in einen Machtkampf zwischen Armee und zivilen Oppositionsgruppen ab. Zu Beginn des Jahres 2022 kam es erneut zu Protesten mit hoher Frauenbeteiligung, denen gewaltsam begegnet wurde. Die weiblichen Demonstrierenden berichteten zudem von gezielten sexuellen Übergriffen. 

Studien zeigen, dass die Beteiligung von Frauen an Friedensprozessen einen entscheidenden Einfluss auf deren nachhaltigen Erfolg haben kann. Trotzdem sitzen kaum weibliche Interessensvertreter:innen an den Verhandlungstischen. Auch im Sudan waren nur wenige Frauen an der Regierungsbildung beteiligt; noch weniger, wenn sie marginalisierten Gesellschaftsschichten angehörten. Suella Tirai, Projektkoordinatorin bei YAAR e.V., sieht dabei auch einen fehlenden Willen an nachhaltigen Friedensverhandlungen zugunsten machterhaltender oder geopolitischer Interessen. „Nehmen wir das Beispiel Afghanistan“, so Tirai, „trotz internationaler Bemühungen für die Wahrung der Frauenrechte in den Friedensverhandlungen wurden die afghanischen Frauenrechte für ein politisches Friedensabkommen aufs Spiel gesetzt und die Taliban sind an die Macht gekommen.“ 

Vergessen und alleingelassen: Frauen in Afghanistan 

In Afghanistan hat sich seit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 die Lage von Frauen drastisch verschlechtert. Innerhalb von siebzehn Monaten erließen die Taliban zahlreiche Restriktionen, die insbesondere die Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten sowie die Mobilität von Frauen drastisch einschränken. So können Mädchen nach der sechsten Klasse keine weiterführende Schule besuchen und Frauen ohne männliche Verwandte nicht mehr reisen. Vor kurzem verschärften die Taliban die Regeln weiter: Frauen ist es jetzt verboten, an Universitäten zu studieren oder in NGOs zu arbeiten.

Amena Rahemy fordert ein stärkeres Vorgehen gegen diese Restriktionen. Die junge Afghanin arbeitete als Ortskraft für die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) in Masar-e Scharif, der viertgrößten Stadt im Norden des Landes. Beim Runden Tisch in Berlin erzählt sie eindrücklich von ihrer Evakuierung eine Woche nach der Machtübernahme durch die Taliban. Seither lebt sie in Deutschland. 

Auch Samira Hamidi, Expertin für Südasien bei Amnesty International, weiß um die ausweglose Situation in Afghanistan. Zwar hätten Frauen gegen die Maßnahmen protestiert, aber daraus eine überregionale, systematische Bewegung zu machen, sei nicht realistisch. Zuletzt wurden mindestens fünf Aktivistinnen festgenommen. „Mit den Verhaftungen versuchen die Taliban ein Klima der Einschüchterung und Angst zu schaffen“, so Hamidi. Ein bisschen Hoffnung gibt es trotzdem: Seit dem Hochschulverbot für Frauen in Afghanistan boykottieren auch viele der männlichen Kommilitonen aus Solidarität den Unterricht.

Hamidi fordert ein aktives Eingreifen der internationalen Gemeinschaft. „Tweets werden nichts daran ändern, dass 50 Prozent der Bevölkerung eines Landes ausgeschlossen sind“, kritisiert sie. Neben einem klaren Vorgehen gegen die Verbrechen der Taliban fordert sie mehr Bildungsangebote an Online-Kursen und Stipendien für Frauen und Mädchen. Amena Rahemy ist derweil bemüht, ihre Familie nach Deutschland zu bringen, nachdem diese mehrmals von den Taliban bedroht wurde. Im letzten Bescheid des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vom November heißt es, es gäbe keinen direkten Zusammenhang zwischen den Drohungen gegen ihre Familie und ihre Arbeit für die deutsche Regierung. „Wenn es keinen Zusammenhang gibt, warum bin ich dann hier?“, fragt sie.

So unterschiedlich die Erfahrungen und Berichte der Frauen an diesem Samstag im August 2022 auch sind, der gemeinsame Austausch macht die großen Zusammenhänge sichtbar. Gewalt und Unterdrückung von Frauen werden häufig als Mittel des Machterhalts und der Kriegsführung eingesetzt. Die Kontrolle über Frauen zu haben bedeutet die Erhaltung von repressiven Regimen. Gewalt gegen Frauen kann allem Widerstand und aller Unterstützung zum Trotz also nur dann aufhören, wenn ein Großteil der Gesellschaft die patriarchale Machtverteilung ablehnt. 

 

 

Michaela ist Literaturwissenschaftlerin und freie Journalistin. Sie schreibt über Zivilgesellschaft, Feminismus und Umwelt. Momentan promoviert sie mit einem Heinrich-Böll-Stipendium zu Gegenwartslyrik an der Universität Basel.
Redigiert von Sophie Romy, Bruna Rohling