04.03.2022
Inszenierung einer Scheinteilhabe
„Brot, Arbeit, Freiheit" ist einer der Slogans protestierender Frauen gegen die repressive Politik der Taliban, auch in der Bildung. Graphik: Zaide Kutay.
„Brot, Arbeit, Freiheit" ist einer der Slogans protestierender Frauen gegen die repressive Politik der Taliban, auch in der Bildung. Graphik: Zaide Kutay.

Die Taliban haben angekündigt, Schulen und Universitäten für Frauen wieder zu öffnen. Ein Erfolg für mehr Teilhabe? Nicht wirklich – die Entscheidung ist vor allem eine Absage an komplexe Lebensrealitäten von Frauen in Afghanistan, findet Mina Jawad.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint. The article is also available in English.

Sotooda Forotan steht auf einem Podest in der Zitadelle der Stadt Herat, im Westen Afghanistans. Vor ihr zwei Mikrofone und die weiße Flagge des Taliban-Emirats im Miniatur-Format. Die 15-Jährige soll anlässlich des Prophetengeburtstags ein Gedicht rezitieren. Stattdessen blickt sie in die Menge und richtet ihre Worte an die Taliban selbst: „Herat ist die Stadt der Bildung und Kultur. Als eine Tochter dieser Stadt frage ich: Warum sind die Pforten zu den Schulen für Mädchen geschlossen?“

Sotooda ist eine von über drei Millionen Schülerinnen und Studentinnen in Afghanistan. Schulen und Universitäten blieben nicht nur aufgrund der Wirren der zerfallenden Republik ab August 2021 für Frauen geschlossen. Die Schließungen waren vielmehr ein „Willkommensgeschenk“ des sich ausbreitenden Emirats – Ferien auf unbestimmte Zeit, zumindest für Mädchen. Als Sotooda ihre Rede hält, neigt sich der Oktober bereits dem Ende zu. Jungen hingegen durften bereits ab September zurück auf die Schulbänke.

Ende Januar kündigten die Taliban nach langem Ringen nun auch für Mädchen die erneute Öffnung der Schulen zum Frühlingsbeginn ab 21. März an. Die Öffnung von staatlichen Universitäten für Frauen und Männer erfolgte flächendeckend im Laufe des Februars. In moderatem Ton, mit Lächeln und Oxford-Englisch erklärten die Taliban, Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Frauenrechte würden „im Rahmen der Scharia und afghanischer Werte“ selbstverständlich umgesetzt. Daneben stellen sie eigene Youtube-Videos ins Netz und suchen förmlich das Rampenlicht, um ihre Politik zu propagieren. Und dass, nachdem sie in den 90er-Jahren noch an einer regelrechten „Kameraphobie“ litten. Sind sie auf einmal kritikfähig geworden? Oder gar gemäßigter?

Wohl kaum. Vielmehr ist diese Entscheidung der Taliban ein weiteres Beispiel für ihre Fähigkeit zu strategischem Timing. Schließlich beginnt am 21. März nicht nur der Frühling, sondern traditionell das neue Schul- und Kalenderjahr in Afghanistan. Bereits in der Vergangenheit haben die Taliban symbolträchtig zum Jahresbeginn Orte der ehemaligen Regierung und der Zivilgesellschaft angegriffen.

Auch hinter den jüngsten Hausdurchsuchungen, die die Taliban in den letzten Tagen exzessiv in Kabul und Pol-e Chomri durchführten, steckt ein solches Kalkül für den passenden Zeitpunkt. Während die Weltöffentlichkeit auf das Grauen in der Ukraine schaut, nutzen die Taliban die ohnehin fehlende Aufmerksamkeit, um weiterhin Gegner:innen aus dem Weg zu räumen und ihre brutale Politik weiter durchzusetzen.

Zermürbung nach innen und außen

Ihre Entscheidung zur Öffnung der Schulen wurde ebenfalls mit einer perfiden Strategie umgesetzt: der des monatelangen Hinhaltens. Die Taliban ließen die Bevölkerung und die internationale Gemeinschaft schlicht in Ungewissheit, ob und wie Schulöffnungen vollzogen würden. Für die Mädchen und Frauen im Land bedeutete dies eine zermürbendes Warten und Bangen, das es den Taliban ermöglichte, selbst eine Öffnung unter weitaus repressiveren Bedingungen noch als Erfolg zu verkaufen.

So wurde eine Veränderung der Curricula angekündigt, hin zur stärkeren Vermittlung „islamischer und afghanischer Werte", ebenso eine striktere räumliche als auch zeitliche Trennung beim Unterrichten von Mädchen und Jungen. Zwar stellte der gemeinsame Unterricht auch vor der Machtübernahme der Taliban ab der dritten Klasse eher eine Selteneinheit dar, doch mit der Anweisung, dass die Kinder auch jeweils nur noch vom gleichen Geschlecht unterrichtet werden dürfen, wird Mädchen der flächendeckende Zugang zu Bildung praktisch verunmöglicht. Es gibt weitaus mehr männliches Lehrpersonal als weibliches – eine paritätische Besetzung der Lehrfächer ist nicht gegeben. Dies steht in Einklang mit einem Bericht, demnach Mädchen zukünftig gar nicht mehr in technischen Fächern, Staatskunde und Gesang unterrichtet werden dürfen.

Auch für die Universitäten haben die Taliban eine „Reform“ der Lehrpläne angekündigt: Eine genauere Erklärung blieb der Hochschulminister Abdul Baqi Haqqani jedoch bislang schuldig. Der neue Kanzler der Kabuler Universität Ashraf Ghairat ließ hingegen durchblicken, dass fortan wohl weniger Theorie und mehr Praxis geplant seien – ein Schlussstrich für eigenes Denken. In den Vorlesungssälen sollen Vorhänge entsprechend der Proportion der Geschlechter angebracht werden: Vertikal bei gleicher Verteilung, quer bei geringerer Anzahl, um jeglichen Sichtkontakt zu unterbinden. Studierende der Kunstwissenschaften haben bereits ihre Sorgen geäußert, dass sie eine Veränderung der Lehrbücher befürchten. Die Äußerungen bleiben angesichts der Selbstzensur afghanischer Medien ungehört.

Durch dieses Spiel mit der Ungewissheit wollen die Taliban auch ihre Position in den internationalen Verhandlungen um ihre Anerkennung stärken. Indem sie sich weigerten, schnelle Schul- und Universitätsöffnungen zu ermöglichen, gelang es ihnen, diese nach ihren Vorstellungen vorzubereiten und auszugestalten. Die simple Erfüllung eines Menschenrechtes, die Tatsache, dass Mädchen überhaupt wieder die Schultüren geöffnet werden, kann so als Erfolg an die internationale Öffentlichkeit verkauft werden. Dass dieser Schein nach gerechteren Bildungschancen im Land ein Trugbild ist und es den Taliban insbesondere auch durch die Bildungsinstitutionen gelingt, Frauen und Mädchen in vorgeschriebene Lebensentwürfe und Abhängigkeiten zu drängen, gerät dabei fatalerweise aus dem Blick.

Bildung ist nicht alles

Durch die Konzentration auf Bildung als Gradmesser bleibt außerdem unsichtbar, wie die Chancen von Mädchen und Frauen in Afghanistan auch in anderen Lebens- und beruflichen Bereichen immer weiter eingeschränkt werden. So wurden Journalistinnen staatlicher Medien wie Shabnam Khan Dawran mit der Machtübernahme entlassen und werden selbst bei privaten Medienhäusern aktiv an ihrer Arbeit gehindert. Frauen in diversen Positionen im Staatsdienst haben in den letzten Monaten ihren Job verloren, beispielsweise die ehemalige Staatsanwältin Moshtari Danesh, die sich, als selbst Betroffene, besonders für Fälle von Frauen mit Behinderung einsetzte. Oder die ehemalige Gefängnisdirektorin Alia Azizi, die inzwischen seit Monaten als vermisst gilt. Das Frauenministerium wurde abgeschafft, stattdessen in eine für „die Förderung von Tugenden und die Verhinderung von Lastern“ zuständige Inquisition umgewandelt.

Welche Möglichkeiten bleiben für Frauen dann noch am öffentlichen Berufsleben teilzunehmen, neben dem Bildungssektor? Die Ernennung der Ärztin Malalay Faizi zur Leiterin eines Geburtskrankenhauses in Kabul spricht dafür Bände: Die gedankliche und räumliche Nähe zum Gebären, um sich auch in ihrem Berufsleben um die Kinder zu kümmern und alte Rollenverteilungen weiter zu zementieren. Dieses erneute Trugbild einer angeblichen Teilhabe bedeutet noch lange keinen Erfolg – im Gegenteil. Vielmehr ist es offensichtlicher Ausdruck einer Politik des Tokenism – also vorgeschobener Maßnahmen, bei denen nur symbolische Anstrengungen unternommen werden, marginalisierte Menschen gleichzustellen, sich strukturell jedoch nichts ändert. In ihre neue PR- und Charmeoffensive passen Beispiele solcher Frauen perfekt hinein.

Land versus Stadt

Ein wichtiger Baustein der Taliban-Politik ist dabei die Übertragung herrschender Verhältnisse aus den Provinzen auf die urbanen Zentren. Dieses patriarchale Aufbegehren gegen die Stadtbevölkerung stellt sich gegen die Komplexität der Lebensrealitäten von Frauen und zielt auf ihre Vereinheitlichung ab. Um die Landbevölkerung vor den „verdorbenen“ Städten zu schützen, reaktivierten die Taliban zudem das Gesetz zur Einschränkung des Bewegungsradius aus ihrer ersten Herrschaft: Ab 72 Kilometern sind Frauen auf die Begleitung eines männlichen Verwandten angewiesen. Begründet wird diese Entscheidung tautologisch damit, dass Frauen längere Reisen ohnehin nicht ohne männliche Verwandte vornehmen würden, weil sie sonst einer Belästigung durch Männer ausgesetzt seien – Empfehlung zur Vollverschleierung inklusive. Das ist kein Pragmatismus, sondern die Institutionalisierung von Frauenfeindlichkeit und Täter:innen-Opfer-Umkehr par excellence.

In besonderen Maße sind von dieser Politik Frauen aus der urbanen Mittelschicht betroffen. „Aufsteigerinnen“ und Intellektuelle, teils vernetzt mit Aktivist:innen in der Diaspora. Frauen, die im Narrativ der Taliban für die Laster und Dekadenz des urbanen Raumes stehen. Frauen, die seit der Machtübernahme das ambivalente Privileg innehatten, sich teilweise ins Ausland abzusetzen. Frauen, die in dem Mikrokosmos urbaner Zentren sozialisiert wurden, während die Mehrheit der Bevölkerung auf dem Land lebt.

Diese Frauen und Mädchen wie Sotooda Forotan sind es auch, die Proteste gegen die Taliban anführen und seit der Machtübernahme auch mit dem Sprechchor „Brot, Arbeit, Freiheit“ auf die Straßen gehen. Selbstverständlich sind auch sie für die Öffnung von Schulen für Mädchen. Aber hier hört der Kampf nicht auf: Afghanische Frauen haben individuelle Wünsche, Hoffnungen, diverse Lebensentwürfe – diese Komplexität nicht anzuerkennen raubt ihnen einen Teil ihrer Menschlichkeit.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

Mina Jawad ist freie Autorin. Sie befasst sich mit der Konstruktion von Raum, Gender und ihren Wechselwirkungen. Ihre Schwerpunkte liegen in postkolonialer Analyse in Kunst, Kultur und Gesellschaft. Mina Jawad is a freelance writer. She works on the construction of space, gender and their interactions. Her work focuses on postcolonial analysis in...
Redigiert von Johanna Luther, Sophie Romy