18.01.2021
Imazighen in Nordafrika: „Das Recht ist immer noch gegen uns.“
Amazigh Flagge Quelle: Wikimeda Commons
Amazigh Flagge Quelle: Wikimeda Commons

Imazighen in Nordafrika sind von alltäglicher Marginalisierung und struktureller Unterdrückung betroffen. Das gilt besonders für Frauen. Die Revolutionen von 2011 haben daran wenig geändert, aber es gibt auch Lichtblicke.

Dieser Text ist Teil der Reihe Leipzig Postkolonial, die im Rahmen des Kooperationsseminars „Grenzen und Möglichkeiten journalistischer Berichterstattung aus postkolonialer Perspektive zu WANA (Westasien, Nordafrika)“ an der Universität Leipzig entstanden ist. Das Seminar fand im Sommersemester 2020 unter Leitung von dis:orient-Mitglied Leonie Nückell bereits zum zweiten Mal statt.

„Wo sind wir, wo sind wir hier überall, in dieser ganzen Sache? Wir wollen doch einfach nur repräsentiert werden, das ist alles“, erklärt Taziri, ein Mitglied der Libyschen Organisation Tamazight Women Movement. Sie fühlt sich den Imazighen[1] zugehörig, ein Oberbegriff für verschiedene indigene Gruppen in Libyen und anderen Teilen Nordafrikas, die keine Araber:innen sind.

Weltweit sind Imazighen häufiger unter der Bezeichnung „Berber“ bekannt, ein Begriff abgeleitet von „Barbaren“. Damit weißt er bereits etymologisch darauf hinweist, wie Imazighen in der Vergangenheit wahrgenommen wurden und teilweise noch immer werden.

Während Imazighen vor der arabisch-muslimischen Eroberung Nordafrikas im siebten Jahrhundert matriarchal organisiert waren, ist die indigene Gruppe heutzutage weitestgehend arabisiert und ihre Lebensweisen unterdrückt. Von der Atlantiküste Marokkos, über Ägypten im Westen, sowie Mali und Niger im Süden, zählen sich heute 30 bis 40 Millionen Menschen den Imazighen zugehörig.

Trotz einer - wie Taziri es nennt – „langen Reise des Kämpfens“ bestehend aus bedeutenden Erfolgen von NGOs und diversen staatlichen Versprechen seit den Revolutionen des sogenannten „Arabischen Frühlings“, sind Imazighen weiterhin eine marginalisierte Minderheit in Nordafrika, deren kulturelle Identität, Werte und Sprache (Tamazight) oft keine Anerkennung findet.

Strukturelle Diskriminierung von Imazighen – vor allem von Frauen

Obwohl sich Tamazight in zahlreiche Dialekte aufteilt und keine einheitliche Hochsprache existiert, sodass sich Sprecher:innen von verschiedenen Dialekten - etwa Taschelhit und Tarifit in Algerien und Marokko, oder Nafusi in Libyen und Algerien - häufig nur schwer verständigen können, sprechen die meisten Imazighen von ihrem Dialekt nur als Tamazight.

In verschiedenen nordafrikanischen Regionen, besonders Westlibyen, Mittelatlas und dem Rif, sprechen viele Menschen einsprachig Tamazight. Allerdings ohne, dass die Existenz oder der Erhalt von mazighischen Dialekten von Institutionen, Regierungen oder den Mehrheitsgesellschaften in Libyen, Marokko und anderen nordafrikanischen Staaten unterstützt wird. ,,Wir verstehen nicht, warum unsere Sprache nicht in Schulen gesprochen wird, warum sie nicht Teil der Bildung ist und wir sie nur zuhause sprechen können“, erklärt Taziri wütend.

Neben der sprachlichen Bedeutung von ,,Tamazight“ bezeichnet der Begriff ebenfalls die weibliche Form von „Amazigh“, dem Singular von Imazighen, und damit eine intersektional diskriminierte Gruppe in Nordafrika. Denn innerhalb der Amazigh-Gemeinschaft sind es besonders Frauen, die unter der Inakzeptanz gegenüber ihrer Muttersprache leiden.

Von den Frauen wird häufig erwartet, früh zu heiraten und sich vorwiegend um Haushalt und Kinder zu kümmern. Dadurch wird vielen der Zugang zu Schulen oder anderen Bildungseinrichtungen verwehrt. Besonders in ländlichen Gegenden führen die hieraus resultierend hohen Raten von Analphabetismus und die Unkenntnis der arabischen Sprache dazu, dass sich zahlreiche Tamazight-Frauen im Alltag mit existenziellen Problemen konfrontiert sehen – etwa wenn sie Ärzt:innen von ihren Beschwerden erzählen wollen, Polizist:innen um Hilfe bitten, oder sich vor Gericht verteidigen müssen.

Wirtschaftliche Einschränkungen

Sollte es Frauen dennoch möglich sein, außerhalb des Hauses zu arbeiten, reduzieren die sprachlichen Barrieren und der soziale Druck Angebot und Chancen. Aicha, eine Mitarbeiterin der marokkanischen Frauenrechtsorganisation La Voix de la Femme de Amazigh, betont diesbezüglich die Angst von Tamazight-Frauen vor ,,einem Gefühl von Minderwertigkeit und Verachtung“. Viele würden laut Aicha befürchten, dass Institutionen ihre Rechte und Forderungen von Tamazigh-Frauen nicht ernst nehmen und sie ihnen somit verwehrt bleiben.

Der offensichtlich einzige Weg, wie Tamazight-Frauen diese Formen der Marginalisierung überwinden könnten, wäre das Erlernen der arabischen Sprache, die Anpassung an arabische Lebensstile[2] und die Unterordnung in das System.

Legale Einschränkungen

Trotz einiger gesetzlicher Ansätze in den letzten 15 Jahren hin zu einer Verbesserung der Situation von Tamazight Frauen, hat sich in der Realität grundlegend nicht viel verändert. 2004 verabschiedete Mohammad VI., der derzeitige König Marokkos, einen Familienkodex namens Mudawana, um Geschlechtergleichheit und Frauenrechte in Marokko zu stärken. 2011 erließ der König ein Grundgesetz, das Tamazight in Marokko als gleichwertige Sprache neben Arabisch anerkennt.

Dennoch- der Familienkodex basiert auf der Scharia und obwohl Tamazight theoretisch akzeptiert wird, gibt es in Marokko fast keine Schulen, an denen in mazighischen Sprachen unterrichtet wird. Im Bereich der Verwaltung, der Justiz oder im Parlament sind Übersetzungen ebenfalls nicht anzutreffen.

In Libyen ist die mazighische Sprache bis heute nicht offiziell anerkannt. ,,Alles was mit der Regierung zu tun hat ist immer noch auf Arabisch und die Medien sind immer noch auf Arabisch, es ist als wäre alles auf Arabisch“ , erklärt Taziri: ,,Ich fühle mich immer, als hätte sich nichts geändert seit 2011.“

Bis zu den Aufständen des „Arabischen Frühlings“ im Jahre 2011 war jede Form der mazighischen kulturellen Ausübung sogar strukturell verboten. Muammar al Gadaffi und sein nationalistisches Regime in Libyen untersagten die Eintragung von nicht-arabischer Namen und Tamazight wurde missbillig als ein bloßer Dialekt des Arabischen - der „einzig wahren und heiligen“ Sprache Nordafrikas - deklariert.

,,Das ehemalige Regime zog jede Person raus, die zum Beispiel Tamazight verteidigte oder es laut sprach, und brachten sie ins Gefängnis. Also haben wir zuhause immer diesen Gedanken, dass wir Tamazight nicht öffentlich sprechen dürfen, nicht auf der Straße, nicht in den Schulen und wenn wir es doch tun sollten [...] würden die Lehrer:innen und Schüler;innen sagen: Was ist diese komische Sprache?!“

Taziri greift oft zu den Worten ,,Verwirrung“ und ,,Trauma“ wenn sie erklärt, wie sich für sie und andere Amazigh-Kinder die Grundschulzeit anfühlte, ohne ein Wort arabisch zu sprechen; ihre Köpfe waren voll mit Fragen um das ,,Warum“ . Sie hatte das Gefühl, dass niemand in der Lage war oder sich traute, einen Raum zu schaffen, um über dieses ,,Warum“ zu sprechen und den Grund für ihre Verwirrung zu erklären.

Nachdem Taziri unter Gaddafis Regime gezwungen war, den arabischen Namen ,,Fatma" zu tragen, änderte sie ihn nun inoffiziell in ihren jetzigen Tamazight- Namen. Auch die Stadt, aus der Taziri kommt, ist offiziell unter dem arabischen Namen ,,Zuwara“ eingetragen, obwohl sie ursprünglich und von ihrer mehrheitlich mazighischen Bevölkerung noch heute ,,Wat Willul“ genannt wird.

Taziri mit traditionell mazighischer Kleidung ©Albiro Foundation

Die Assoziierung mazighischer Kultur mit Frauen

Das moralische Konzept, dass hauptsächlich Frauen die Amazigh-Kultur in sich tragen und an die nächsten Generationen weitergeben, war mit dem Plan der Arabisierung Marokkos konfrontiert, der von Hassan II., dem ehemaligen König und Vater von Mohammad VI., initiiert wurde.

,,Amazigh Frauen spielten eine wichtige Rolle in der Geschichte Nordafrikas. Sie teilten die Entscheidungsmacht mit Männern gleichermaßen. Sie waren fortwährend präsent in allen Aspekten des Lebens und sie wurden nicht lediglich auf die Rolle des Gebärens reduziert“, erklärt Aicha, von La Voix de la Femme de Amazigh aus Marokko.

Da weibliche Führung einen Hauptbestandteil mazighischer Kultur bildet, impliziert die Unterdrückung von Frauen zwangsläufig, dass auch dieses Konzept nicht weiter ausgeführt werden kann. Im Gegenteil - in Kombination mit dem Aufzwingen patriarchaler, Männer- orientierter Normen, abgeleitet von arabischen und westlichen[3] Gesellschaften, werden Tamazight-Frauen in eine niedere Position gedrückt und auf häusliche Tätigkeiten beschränkt.

Aicha bemerkt hierzu: „Die Regierung berief sich auf Programme anderer Länder, die bereits für ihr Patriarchat bekannt waren und in denen Frauen unter Minderwertigkeit litten - wie zum Beispiel in Frankreich.“

Auf der anderen Seite konzentrieren sich aufkommende feministische Gruppen in Nordafrika, wie Taziri erklärt, ausschließlich auf arabische Frauen und lehnen die Auseinandersetzung mit der matriarchalen Geschichte und Diskriminierung von Tamazight-Frauen ab.

,,Es ist nicht mein Zuhause“

Mit 19 Jahren erlebte Taziri die gesamte Zeit des „Arabischen Frühlings“ in Libyen, der letztendlich zum Fall Gaddafis führte. ,,Ich erinnere mich, als die Revolution geschah war es so ‘okay, jetzt haben wir eine Stimme, wir haben unsere Rechte und jetzt sind wir gleichwertig mir den Araber*innen, Libyer*innen, weißt du, wir würden keinen Unterschied mehr spüren.“

Und doch spürt sie noch immer diesen Unterschied zwischen der Akzeptanz ihrer Identität und der arabischen. Es gibt weiterhin keine offizielle Erklärung zu einer ursprünglichen Amazigh-Gruppe, die als gleichwertiger Teil der libyschen Gesellschaft fungiert. ,,Wir haben eine andere Kultur und das war's", sagt Taziri: ,,Ich hab immer das Gefühl [...], dass ich keine Stimme in Libyen habe und Libyen... es ist mein Land, aber es ist nicht mein Zuhause.“

Die auferlegte Idee, dass nur arabische Lebensweisen richtig sein können - teilweise in Zusammenhang mit sexistischen Interpretationen des Islams - führt inzwischen so weit, dass auch innerhalb der Amazigh. Gemeinschaft Probleme mit männlicher Dominanz und patriarchalen Verhaltensweisen auftreten. Beim Versuch, von Frauen geführte Aktivitäten mazighischer Kultur durchzuführen, würden laut Taziri Menschen von außen immer nach der Teilnahme von Männern fragen.

Dieser Umstand markiert einen weiteren Aspekt der intersektionalen, doppelten Diskriminierung von Tamazight-Frauen: selbst innerhalb ihrer eigenen Community haben sie kaum eine Stimme.

Als Antwort auf diese Probleme konzentrieren sich einige Amazigh-Organisationen, die sich in den 1990s gründeten, inzwischen speziell auf die Anliegen von Tamazight-Frauen, darunter La Voix de la Femme de Amazigh in Marokko und Tamazight Women Movement in Libyen. Durch Workshops, Veranstaltungen und Kampagnen versuchen diese NGOs und Verbände, die Tamazight-Sprache und Tifinagh (das Tamazight-Alphabet) zu etablieren, um die Sicherheit von Frauen zu gewährleisten, ihre Rechte in die öffentliche Politik einzubeziehen und Gleichberechtigung zu erreichen.

Ausblick

Und tatsächlich erzielt die Arbeit aller Amazigh- und Tamazight-Communities einige Erfolge. Neben der Gesetzesänderung 2011 und der Moudawana Reform in Marokko, wird Tamazight inzwischen in mehreren Grundschulen in Wat Willul unterrichtet und die dortige Universität bietet die Spezialisierung in mazighischen Sprachen an. In Algerien, wo Tamazight bereits seit 2002 offiziell anerkannt ist, kämpfen Amazigh Bewegungen für die Autonomie der Kabylei, einer Gebirgsregion, die etwa fünf Millionen Imazighen beheimatet, die sich Kabylen nennen.

Aicha erklärt außerdem, dass die kulturelle Identität und Sprache von Imazighen auch allgemein innerhalb der marokkanischen Gesellschaft auf immer mehr Akzeptanz stoßen.

Dennoch betonen beide Tamazight-Frauen die Notwendigkeit besserer Reaktionen und Gesetzgebungen der nordafrikanischen Regierungen. Ohne gesetzliche Bestimmungen befürchtet Taziri, dass die zukünftigen Generationen den Kampf, den ihre zu einer Revolution geführt hat, nicht fortsetzen können. ,,Was ist mit meiner Tochter oder meinem Sohn? Was ist mit den nächsten Generationen? Wenn das Gesetz nichts enthält, was unsere Rechte einräumt, werden wir wieder von vorne anfangen.“

 

[1] Die Pluralform variiert je nach Region. Hier verwendet die Autorin Amazigh als maskulinen Singular, Tamazight als weiblichen, Imazighen als Plural und mazighisch als Adjektiv.

[2]   Selbstverständlich existieren unzählige verschiedene Lebensstile, die als „arabisch“ bezeichnet werden. Hier steht „arabisch“ für die in diesem Kontext akzeptierten Lebensweisen in Kontrast zu mazighischen Lebensstilen.

[3] In diesem Kontext bezeichnet der Begriff ,,westlich" keine geographische Lage, sondern ein Konzept von Machtverhältnissen, das eine Dichotomie aus ,,westlichen“ und ,,nicht-westlichen“ Staaten konstruiert, bezugnehmend auf Stuart Halls ,,The west and the rest: discourse and power“ (1995)

 

 

 

Friederike Wegscheider studiert Sozial-und Kulturanthropologie an der Universität Leipzig. Neben dem Studium engagiert sie sich in politischer Bildungs- und Integrationsarbeit zu globaler Gleichberechtigung.
Redigiert von Henriette Raddatz, Anna-Theresa Bachmann