01.05.2017
Interview mit Ali Amiri: „Es fehlt eine Strategie gegen den islamischen Extremismus in Afghanistan“
"An den Universitäten findet die junge Generation: Alles bleibt beim Alten. Das ist langweilig für die Studenten. Eine kulturelle Wüste", sagt Ali Amiri. Das Bild zeigt eine Universität in Kabul. Foto: Michael Foley/Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)
"An den Universitäten findet die junge Generation: Alles bleibt beim Alten. Das ist langweilig für die Studenten. Eine kulturelle Wüste", sagt Ali Amiri. Das Bild zeigt eine Universität in Kabul. Foto: Michael Foley/Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)

Der afghanische Philosoph und Islamwissenschaftler Ali Amiri erklärt im Gespräch mit Martin Gerner, warum er noch immer Hoffnung für sein Land hat, wie er das Verhältnis zwischen Islam und Demokratie sieht und wie die Dschihadisten in Afghanistan effektiver bekämpft werden könnten.  

Wie sicher ist Afghanistan vor dem Hintergrund aktuellen Abschiebungen? Diese Frage wirft auch ein Schlaglicht auf die verschiedenen Formen von Extremismus am Hindukusch sowie der gesellschaftlichen Strategien, diesen entgegenzuwirken. Unter afghanischen Intellektuellen herrscht weitgehend Einigkeit, dass die hanafitische Prägung des Islam ein konsens-orientiertes Erbe in sich trägt, das es neu zu entdecken gilt.

Vor diesem Hintergrund argumentiert der afghanische Philosoph und Islamwissenschaftler Ali Amiri für eine Modernisierung und eine Rückbesinnung religiöser Werte zugleich.

Amiri ist Mitbegründer der privaten Ibn Sina Universität in Kabul. Er hat über Werk und Wirken des deutschen Philosophen Wittgenstein im Iran promoviert und sich in mehrere Arbeiten mit dem Verhältnis zwischen Islam und Moderne befasst. Als Dozent in Kabul ist er in den letzten Jahren vor allem Zeuge des Exodus junger Studenten nach Europa, ein Entschluss, der auch für die Frustration vieler Menschen mit den bestehenden Verhältnissen in Afghanistan steht. Die Aktualität macht das Interview mit Ali Amiri, von dem Martin Gerner unlängst Auszüge im Deutschlandfunk veröffentlich hat, zu einem wichtigen Beitrag zum Verständnis von Religion und Gesellschaft in Afghanistan.

Alsharq: Wir sprechen in Deutschland und im Westen gemeinhin von einem Steinzeit-Islam in Afghanistan. Wie sehen Sie das?

Ali Amiri: Christentum, Judentum und der Islam – sie alle sind aus der abrahamitischen Tradition hervorgegangen. Abraham ist der Vater dieser drei Religionen. Der Koran nennt Moses und Jesus ebenfalls als seine Propheten, auch Mutter Maria kommt häufig vor. Das verbindet uns. Wir sind im Grunde Teil einer Tradition und Kultur.

Sie gehören als 39 Jahre alter Islamwissenschaftler und Philosoph, der über Wittgenstein promoviert hat, zur intellektuellen Elite Afghanistans. Was macht ihnen Hoffnung  für ihr Land, trotz Taliban, Al Qaida und des sogenannten „Islamischen Staats“?

Natürlich sind verschiedene radikale Bewegungen aktiv in Afghanistan, die sich den Islam auf die Fahnen schreiben. Für ein präzises Bild müssen wir aber genauer hinschauen, anstatt von einem Steinzeit-Islam in Afghanistan zu reden. Es gibt eine Reihe religiöser Ausprägungen, wenn wir über Afghanistan sprechen. Ich interpretiere den Islam nicht als eine politische Ideologie, sondern als religiöses Phänomen. Als etwas, das sich ausschließlich zwischen Gott und dem Menschen abspielt. Ich erkläre, wie diese Beziehung sich historisch entwickelt hat.

Die Taliban sind ein ideologischer Import aus Pakistan. Wie konnte ihr wahabitisches Islam-Verständnis an die Stelle gemäßigter Koran-Auslegung treten?

Bei einem Teil der Sunniten und durch die Kriegsjahre bedingt, hat die salafistische Interpretation in vielen Fällen das ursprüngliche hanafitische Verständnis ersetzt. Nach der Invasion der Roten Armee in Afghanistan 1979 brauchte es eine politische Ideologie und eine Begründung, um den Kampf und den Jihad gegen die Russen zu rechtfertigen. Der Begriff ‚Dschihad‘ meint dabei im Kern nicht den bewaffneten Kampf, sondern eine geistige Grundhaltung, das Übel in sich selbst, in der eigenen Seele zu bekämpfen. Sich zu überprüfen – das bedeutet der ‚große Dschihad‘ im Ursprung. Den Dschihadisten von heute fehlt es genau an dieser inneren Auseinandersetzung. Sie betreiben keine Einkehr, wollen aber die Welt verändern.

Sie haben in Iran studiert, ein Land, dem Sie politisch nach eigenen Worten kritisch gegenüberstehen. Politisch stehen Sie Abdullah Abdullah nah, dem faktischen Premier-Minister unter Ashraf Ghani, dem aktuellen afghanischen Präsidenten. Wie beurteilen Sie seine Politik in Sachen Religionsfragen?

Präsident Ghani hat in den USA studiert. Seine Außenpolitik schaut nach Westen. Das ist gut. Aber innenpolitisch nützt es ihm nicht, zumal der Westen nicht versteht, was in Afghanistan vor sich geht und das Land voranbringen würde. Ghani steht mächtig unter Druck religiöser Hardliner. Er koaliert mit ihnen und sie pflegen eine enge Beziehung zu ihm. Praktisch bedeutet dies, dass unter seiner Regierung viele junge Männer sich radikalisieren können, im Sinne der Ideologie von Taliban, Al-Qaida oder Islamischem Staat. Große Teile im afghanischen Erziehungsministerium stehen unter Einfluss dieser Konservativen. Das kann in Zukunft zu deutlich mehr extremistischem Gedankengut führen. Was fehlt, ist eine Politik gegen den Extremismus. Das bereitet mir große Sorgen.

Spielt die Intervention von USA und NATO in Afghanistan dabei eine Rolle?

Nach der US-Intervention hat sich die Situation noch zugespitzt. Vom Standpunkt der Religion aus ist es meiner Ansicht nach dringend notwendig, dass die hanafitische als die tolerante, vernunft-orientierte Interpretation des Islam, die traditionell in Afghanistan überwogen hat, wieder mehr zur Geltung kommt. Sie würde es den Menschen erlauben, zu sich zu finden. Das würde ich mir wünschen.

Welche der Regionalmächte in der Region stellt aus afghanischer Sicht die größere Bedrohung für den Frieden dar, Iran oder Saudi-Arabien?

Beide. Beide besitzen massiven Einfluss auf Afghanistan und auf die Politisierung von Religion und Glauben im Land. Leider fehlt es an effektiven Versuchen, diese Einflussnahme zu schwächen. Die Menschen im heutigen Afghanistan  sind jetzt seit über tausend Jahren Muslime, genau gesagt seit 1430 Jahren. Warum aber, fragen sich viele, wird ausgerechnet jetzt so heftig gekämpft im Namen des Islam in Afghanistan? Wenn wir den Extremismus bekämpfen wollen, müssen wir also zunächst einmal gegen die gedankliche Software dieser Extremisten angehen, uns anschauen, was in den Bildungseinrichtungen passiert und in der Ulema, dem höchsten Gremium der Geistlichen. Diese Politik gegen den Extremismus fehlt bislang.

Sunniten und Schiiten leben in Afghanistan weitgehend friedlich zusammen, anders als in vielen anderen Teilen der muslimischen Welt. Spielen der Sufismus und seine Tradition dabei eine Rolle?

Während der letzten fünfzig Jahre ist diese Tradition weitgehend zerstört worden. Aber es gibt sie immer noch. Wir haben mehrere aktive Sufi-Zentren in Kabul. Die Sufis rezitieren dort die über 1000 Namen, die Gott zugeschrieben werden. Sie nehmen sich einen Namen heraus und sprechen ihn in Mantra-artiger Form immer und immer wieder vor sich her aus. Ein Zeremoniell. Es gibt auch einflussreiche Sufi-Zentren im Westen, in Herat, der zweitgrößten Stadt in Afghanistan. Der Sufismus lebt nach wie vor. Was von ihm übrig ist, kann eine wichtige Rolle spielen bei der politischen und gesellschaftlichen Wiederbelebung des Landes, vor allem die Toleranz, die vom Sufismus ausgeht. Tolerant sein, eine Absage an gesellschaftsschädigendes Verhalten, an Gewalt gegen Dinge, Menschen und Tiere. Das ist der Kern der Sufi-Lehre.

Im Alltag trifft die Ausübung der Religion in Afghanistan auf einen hohen Prozentsatz an Analphabeten. Die Menschen können kein Arabisch. Ein Problem?

Richtig. Viele Afghanen beten zu Gott auf Arabisch. Ohne Arabisch zu verstehen. Das ist ein Ritual. Das darf so sein. So wie es Karneval als Ritual in Köln gibt, so gilt es, auch hier bestimmte Rituale zu respektieren. Was es braucht ist vielmehr eine vernünftige Deutung des Islam. Ich bin zum Beispiel für die Beteiligung von Frauen am politischen Leben und gegen eine Diskriminierung, was ihr Erbrecht angeht. Viele der realen Einschränkungen für Frauen finden keine Entsprechungen im Islam. Sie haben sich vielmehr historisch so entwickelt. Dadurch, dass immer wieder Behauptungen aufgestellt wurden, hat sich eine Mehrheit danach gerichtet. So ist eine Reihe von Dogmen entstanden. Aber es gibt keinen Grund, diese Dogmen zu beherzigen. Im Gegenteil. Sie können geändert werden.

Wie denken Sie über die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie?

Vom theologischen Standpunkt aus sind Demokratie und Islam vereinbar. Zugleich müssen wir lernen, was die afghanische Geschichte uns hierzu lehrt. Es ist auch ein Klischee zu sagen, Demokratie und Islam sind vereinbar. Zuversicht allein bringt uns nicht weiter. In sozialen Medien wie Facebook wird viel diskutiert über diese Frage. In den Printmedien und im Fernsehen dagegen finden keine offenen Debatten über Fragen der Religion statt. Darüber, was die Ulema tut, das höchste Gremium der Geistlichen. Man müsste also erst einmal anfangen zu reflektieren, was hier abläuft. Meinungsfreiheit in Afghanistan ist dabei nicht das Thema. Man kann hier frei reden. Keiner kontrolliert, was man sagt oder nicht. Es geht vielmehr um Bildung, um Einrichtungen, um Möglichkeiten zum systematischen Lernen, zum Austausch. Daran fehlt es. Das kann sogar ein Grund sein, das Land zu verlassen.

Sie haben im vergangenen Jahr über 220 Studenten Ihrer Universität durch Migration nach Deutschland und Europa verloren. Wird diese Ausreise-Welle andauern?

Ja, sie wird weitergehen. Aber weniger stark. Das ist meine Prognose. Die Bedingungen und Motivationen für Migration haben sich nicht geändert in den vergangenen Monaten. An den Universitäten findet die junge Generation: Alles bleibt beim Alten. Das ist langweilig für die Studenten. Eine kulturelle Wüste. Einige wenige verlassen also auch das Land, weil sie hier keinen wirklichen Austausch zu diesen Themen finden.

Ein offenes Geheimnis in Kabul ist, dass auch dort in den vergangenen Jahren Menschen  zum Christentum konvertiert sind. Konvertiert wird heimlich, weil Abfall vom Glauben unter Strafe steht. Zu Recht?

Beide, Shia wie Sunna, sagen traditionell, dass es verboten sei, aus dem Islam in eine andere Religion zu konvertieren. Historisch und auch logisch fehlt es aber an Grundlagen, um dieses Verbot aufrechtzuerhalten. Der Koran kennt eine Anzahl von Versen und Überlieferungen des Propheten, dass jeder frei ist, im Glauben seinen Weg zu gehen. Ein Widerspruch also. Es gibt keine Stelle im Koran, die rechtfertigt, einen anderen zu töten, weil er zu einem anderen Glauben konvertiert.

Wie erleben Sie den interreligiösen Dialog zwischen Islam und Christentum – als ausbaufähig?

Ich denke, dem westlichen Christentum fehlt es an fundiertem, glaubwürdigem Wissen über den Islam. Wünschenswert ist eine größere Empathie füreinander, die hilft, sich besser zu verstehen. Es reicht nicht, eine deutsche oder französische Übersetzung des Koran allein zu besitzen. 

Der Anspruch nach Überlegenheit im Westen ist offenbar. Aber die christliche Religion beansprucht, soweit ich das sehe, keinen Vorrang über die anderen Religionen. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, 1962, wurde der Islam auch formell durch den Katholizismus als monotheistische Religion anerkannt. Das ist eine Errungenschaft und gut für die Koexistenz der Religionen. Kulturell gibt es also keine Probleme, in der Theorie. Politisch dagegen schon eher. Die extreme politische Rechte in Europa gewinnt aktuell an Einfluss. Das ist ein neuer Trend. Auf diese Art sind unsere Beziehungen natürlich sehr wohl von gesellschaftlichen, sozialen und politischen Faktoren bestimmt. Das macht es so komplex.

Vielen Dank für das Gespräch!

Martin Gerner ist freier ARD-Korrespondent und Alsharq-Autor. Er berichtet regelmäßig aus Konflikt- und Krisengebieten, Nahen und Mittlerem Osten, der arabischen Welt und Afghanistan. Sein Dokumentarfilm „Generation Kunduz“ wurde international ausgezeichnet.