27.02.2016
Interview mit Yanal Kassay zur Oscarnominierung von "Theeb": „Wir haben bereits mehr erreicht, als wir uns je erträumt haben“
Naji Abu Nowar (li) und Yanal Kassay (re) beim Internationalen Filmfest in Venedig, September 2014. Photo: Privat
Naji Abu Nowar (li) und Yanal Kassay (re) beim Internationalen Filmfest in Venedig, September 2014. Photo: Privat

Heute werden in Los Angeles die 88. Academy Awards verliehen. Unter den nominierten Filmen ist das jordanische Drama „Theeb“, das die Geschichte eines Beduinenjungen im jordanischen Wadi Rum zu Beginn des 1. Weltkriegs erzählt. Yanal Kassay hat bei „Theeb“ mitgewirkt und spricht im Interview mit Alsharq über dieses bisher erfolgreichste aller jordanischen Filmprojekte und die Zukunft der jordanischen Filmindustrie.

Alsharq: Am 28. Februar werden in Los Angeles die Oscars verliehen und nominiert als bester fremdsprachiger Film ist das jordanische Drama „Theeb“. Yanal, Du hast als Produktionsleiter und Regieassistent an diesem Film mitgearbeitet. Kannst Du Deine Gedanken und Gefühle angesichts dieses enormen Erfolgs beschreiben?

Yanal Kassay: In meiner bisherigen Karriere war ich noch nie in einem Filmprojekt so sehr involviert wie in „Theeb“. Es war einer der härtesten Jobs, die ich je gemacht habe – und gleichzeitig einer der lohnendsten. Unser Team war sehr eng verbunden und egal wie sehr wir gelitten, gezweifelt und gekämpft haben, so wussten wir doch, dass es die Arbeit wert sein würde. Der tatsächliche Erfolg geht jedoch weit über das hinaus, was wir erwartet haben. Ich bin ekstatisch. Ich spreche regelmäßig mit dem Regisseur und den Produzenten und ich bin so unglaublich stolz auf sie und auf uns alle, die wir mitgearbeitet und an das Projekt geglaubt haben.

Um was geht es in dem Film?

„Theeb“ ist Arabisch und bedeutet „Wolf“. Der Film vereint mehrere Genres, er ist ein Middle Eastern Western und gleichzeitig eine Coming-of-Age-Story. Aber eigentlich ist er noch viel mehr als das. Der Nahe Osten im Jahr 1916, in welchem der Film spielt, befindet sich in einer Übergangsphase: Fremde Mächte mischen sich verstärkt ein, die Spannung des bevorstehenden Krieges bestimmt die Atmosphäre. „Theeb“ beschreibt diese Ruhe vor dem Sturm. Es ist die Geschichte eines Jungen, der in dieser Zeit der schwerwiegenden Veränderungen im Land seiner Vorväter aufwächst und lernen muss, schnell erwachsen zu werden.

 Privat. Jacir Eid al-Hwietat übernahm die titelgebende Rolle des Beduinenjungen Theeb. Wie alle Darsteller in dem Film stammte auch Jacir aus einem südjordanischen Beduinenstamm und besaß keine schauspielerischen Vorkenntnisse. Photo: Privat.

 

„Theeb“ wurde nicht nur für die diesjährigen Academy Awards nominiert, sondern hat auch noch eine ganze Reihe anderer internationaler Preise und Nominierungen erhalten. Wie erklärst Du Dir diesen enormen internationalen Erfolg?

Ehrlich gesagt kann ich diese Frage gar nicht beantworten. Es war nicht so, dass wir versucht haben, einen Film zu drehen, der besonders in Europa und Amerika erfolgreich sein würde. Wir wollten vielmehr eine Geschichte erzählen. Ich persönlich bin dazu gestoßen, weil ich eben diese Geschichte mochte und nicht nur mich, sondern viele von uns trieb in erster Linie unsere persönliche Leidenschaft an. Natürlich hofften wir, dass der Film auch bei einem westlichen Publikum gut ankommen würde – aber wir konnten das nicht wirklich im Vorhinein abschätzen.

Ich war dabei, als „Theeb“ 2014 auf dem Internationalen Filmfest in Venedig Weltpremiere feierte. Ich kann das Gefühl von damals kaum beschreiben: Es war das erste Mal, dass jemand außerhalb des Teams den Film zu sehen bekam und wir alle waren sehr nervös. Ich machte mir wirklich Sorgen, dass Naji (Anm.: der Regisseur Naji Abu Nowar) einen Panikanfall bekommen würde. Doch der Applaus, die anschließende Feier und dann sogar die Preisauszeichnung für Naji (Anm.: Abu Nowar erhielt in Venedig den Venice Horizon Award als bester Regisseur) – das war mehr, als wir jemals hätten erwarten können.

Und auch die Tatsache, dass wir nun für die Oscars nominiert wurden, ist weit weit mehr, als wir jemals erhofft hatten. Natürlich würden wir gerne den Oscar gewinnen – wer würde das nicht? – aber wir haben bereits so viel mehr erreicht, als wir uns je erträumt hatten.

Der Erfolg von „Theeb“ fällt nicht nur auf Abu Nowa und das Team, sondern allgemein auf den jordanischen Film. Du arbeitest schon eine Weile in diesem Geschäft. Wie hat sich die Filmindustrie in den letzten Jahren gewandelt, auch im Vergleich zu den anderen Ländern der Region? Siehst du noch weiteres Potential für die Zukunft?

Als ich anfing, in der jordanischen Filmszene zu arbeiten, ging es vor allem um ausländische Filme, die aufgrund der Landschaft oder der niedrigen Produktionskosten hier gedreht wurden. Das hat sich weiter entwickelt; inzwischen werden Filmprojekte in Jordanien auch wegen der hiesigen Filmexpertise verwirklicht. Noch wichtiger ist jedoch, dass wir irgendwann anfingen, an eigenen Produktionen zu arbeiten und das, was wir bei den ausländischen Filmen gelernt hatten, in unserer eigenen Filmindustrie anzuwenden. „Theeb“ war nicht der erste Film dieser Art.

Ich sehe definitiv großes Potential in der jordanischen Filmindustrie. Zeit und Ort sind günstig, einerseits wegen des enormen Erfolgs von „Theeb“, aber auch schon zuvor. Irgendwie haben wir das Gefühl, dass wir alles erreichen können. Und es gibt eine große Passion für Film an sich im Land.

Andere Länder aus der Region sind vielleicht schon länger dabei, das hat uns aber in gewisser Weise auch geholfen, uns auf unsere eigene Art weiter zu entwickeln. Wir haben nicht versucht, den ägyptischen oder den libanesischen Film zu imitieren – obwohl wir die Stärke und Schönheit beider anerkennen. Wir haben es geschafft, selbstständig und unabhängig zu wachsen.

Jordanien ist eine interessante Anomalie in der Region – eine außergewöhnliche Mischung von Menschen und Kulturen; in gewisser Weise ist Jordanien also in kultureller Verwirrung aufgewachsen. Das kann man als Hindernis auffassen oder eben auch als Möglichkeit. Ich glaube, dass wir es in der Filmszene zu letzterer gewandelt haben.

Wie du bereits sagtest, ist das Interesse ausländischer Filmprojekte an Jordanien jedoch keineswegs gesunken – insbesondere da andere nahöstliche Drehorte in den letzten Jahren aus Sicherheitsgründen weggefallen sind. Beispielsweise wurde dort erst kürzlich der Film „Desert Queen“ mit Nicole Kidman als Gertrude Bell abgedreht. Ist der Einfluss solcher internationalen Filmprojekte nach wie vor wichtig für jordanische Filmemacher?

Auf jeden Fall. Ich habe beispielsweise bei „Hurt Locker“, „Transformers II“, „Fair Game“ und „Zero Dark 30“ in Jordanien mitgearbeitet. Und obwohl ich mich persönlich mehr in die Richtung des Independent und Local Cinema bewege, so habe ich doch aus den großen Filmprojekten eine ganze Menge an Erfahrungen und Wissen mitgenommen und dieses dann weiter entwickelt und abgewandelt, um es für meine eigenen Projekte anwenden zu können. Der Film ist ein Handwerk und man muss es erst erlernen und sich ausprobieren, bevor man sein eigenes Talent findet. Man muss von unten anfangen und sich hocharbeiten. Keine Frage, es ist ein schwerer Job und man muss ihn wirklich mögen und hart arbeiten.

 
 Privat. Die Dreharbeiten zu "Theeb" fanden ausschließlich im jordanischen Wadi Rum statt. Yanal Kassay ist in der Mitte des Bildes zu sehen. Photo: Privat.

 

Wie schätzt Du den Einfluss der jordanischen Filmszene auf das Land und seine Bevölkerung ein, beispielsweise in wirtschaftlicher oder auch kultureller Hinsicht?

Nun, ich kann mich noch an Zeiten erinnern, da in Jordanien niemand vom Film alleine leben konnte. Es gab einfach nicht genug Job-Möglichkeiten. Nun werden die Crews größer, der Film bietet Arbeitsmöglichkeiten für viele von uns. Früher habe ich oft Taxi-Fahrer getroffen, die ein Ingenieursstudium abgeschlossen hatten. Heute treffe ich Leute, die im Film arbeiten und früher Taxifahrer waren. Es ist ein tolles Arbeitsfeld: Wenn man hinein kommt und gut ist, dann wird man auch eine Beschäftigung finden. Es geht nicht mehr um Verbindungen und Vetternwirtschaft, das war einmal.

Meiner Erfahrung nach hat der Film außerdem zum kulturellen Austausch im Land selbst beigetragen. Unsere Dreharbeiten haben uns zu Orten gebracht, die wir zuvor aufgrund ihrer Abgeschiedenheit gemieden hatten und wir haben Verbindungen zu den dort lebenden Menschen aufgebaut. Es war nicht mehr so, dass sie uns und unsere Ausrüstung angeschaut haben als seien wir Aliens und dass wir sie angeschaut hatten, als seien sie gefährlich. Der Film hat Menschen mit verschiedensten Hintergründen vereinigt.

Du bist gut mit Abu Nowar befreundet. Sind für Dich weitere Projekte mit ihm in Planung?

Dazu kann ich nicht viel sagen, aber die kurze Antwort lautet: Ja.

Wirst du bei der Oscar-Verleihung am 28. Februar anwesend sein?

Ich wünschte, aber leider ist das sehr schwer zu organisieren. Und außerdem muss ich wie immer an diesem Tag arbeiten. In meinem Herzen werde ich jedoch – ebenso wie die gesamte Film-Crew, unsere Freunde und das ganze Land – dort sein.

Vielen Dank für das Gespräch!

Laura hat Islamwissenschaft, Soziologie und Entwicklungsstudien in Hamburg, Birzeit, Teheran und London studiert. Seit 2014 engagierte sie sich im Verein. Zunächst war sie vor allem im Bereich Magazin aktiv, inzwischen ist sie als Vorstandsmitglied vor allem in interne Kommunikations- und Organisations- prozesse eingebunden. Hauptberuflich...