20.12.2023
„Die Sorge, nie wieder zurückkehren zu können, ist reell“
Das Bild zeigt die Zerstörung in der Omar Mukhtar Straße, der Hauptstraße in Gaza City, am 8. Dezember 2023. Foto: Emad El Byed, Unsplash
Das Bild zeigt die Zerstörung in der Omar Mukhtar Straße, der Hauptstraße in Gaza City, am 8. Dezember 2023. Foto: Emad El Byed, Unsplash

Christoph Dinkelaker schätzt die politischen und militärischen Ziele im aktuellen Konflikt zwischen Israel und der Hamas ein. Er spricht über menschliche Schutzschilde in Gaza und die völkerrechtliche Verpflichtung zum Schutz von Zivilist:innen.

Christoph Dinkelaker ist Politikwissenschaftler mit Fokus auf Westasien und Mitbegründer von dis:orient. Er hat mehrere Jahre in Israel und Palästina gelebt, zahlreiche Freund:innen auf beiden Seiten und direkten Einblick in die vielschichtigen Perspektiven und Schicksale in dem Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer. Im folgenden Interview gibt er eine Einordnung der aktuellen Lage in Israel und Palästina. 

Am 7. Oktober hat die Hamas Israel angegriffen und dabei rund 1.200 Menschen getötet. Etwa 240 Männer, Frauen und Kinder wurden als Geiseln nach Gaza verschleppt. Kannst du die politische Stimmung in den palästinensischen Gebieten vor dem Angriff beschreiben?

Vor dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel wurden die palästinensischen Gebiete von zwei palästinensischen Parteien regiert. Einerseits von der Hamas im Gazastreifen, die den Weg der Militanz und der Konfrontation mit Israel gewählt hat und im Westjordanland von der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), klar dominiert von der Fatah, die mit Präsident Mahmoud Abbas nach dem Ende der Zweiten Intifada 2005 den diplomatischen Weg als alternativlos erklärte und darüber hinaus mit Israel eine Sicherheitskooperation einging. Während es der Hamas immer wieder gelungen ist, „Erfolge“ zu erzielen, beispielsweise als der israelische Soldat Gilad Schalit im Jahr 2006 entführt wurde und im Austausch für ihn 1027 palästinensische Häftlinge freigelassen wurden, hat die PLO keine diplomatischen Erfolge erreicht und dementsprechend große Glaubwürdigkeit innerhalb der Bevölkerung verloren.

Die Fatah und die von ihr dominierte Palästinensische Autonomiebehörde (PA) haben im Westjordanland in den letzten Jahren problematische Entwicklungen zu verantworten: Die Regierung hat kein demokratisches Mandat mehr (Anm. d. Red.: Seit den Wahlen 2006, als die Hamas die stärkste Kraft wurde, haben keine Wahlen im Westjordanland und Ost-Jerusalem mehr stattgefunden) und ist immer autoritärer geworden. Der Journalist Nizar Banat, der die herrschenden Kreise im Westjordanland immer wieder kritisierte, wurde 2021 mutmaßlich von Sicherheitskräften der PA getötet und die Räume für die Zivilgesellschaft sowie für andere politische Parteien werden immer enger. 

Obwohl viele Menschen im Westjordanland, Ostjerusalem und im Gazastreifen der Hamas aufgrund ihrer konservativen gesellschaftspolitischen Vorstellungen und ihrer autoritären Herrschaft kritisch gegenüberstanden, nahm die Anerkennung und Popularität der islamistischen Organisation immer während Gewalteskalationen zu: Dann mehrten sich die Stimmen, dass die Hamas immerhin für die palästinensische Sache einstehe und Israel die Stirn biete. Das ist problematisch, aber sehr bezeichnend. 

Wie ist diese Entwicklung nach dem 7. Oktober einzuschätzen?

Mit dem Angriff vom 7. Oktober hat sich die Hamas aus meiner Sicht endgültig selbst diskreditiert, sie kann nicht mehr Teil einer zukünftigen Verhandlungslösung sein. Denn die Art und das Ausmaß der terroristischen Akte der Hamas sind in Bezug auf israelische Opferzahlen in den international anerkannten israelischen Grenzen, einmalig in der Geschichte des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Eine abscheuliche Tat, die in ganz großen Teilen Zivilist:innen ins Visier genommen hat. Ich kenne Menschen in Israel, deren Angehörige entführt und getötet wurden. Manche von ihnen waren links eingestellt, haben sich freiwillig gemeldet, um Menschen vom Grenzübergang in die Krankenhäuser zu fahren, die aus dem Gazastreifen ein Permit für eine medizinische Behandlung in Israel bekommen haben.

Daher halte ich es für hochproblematisch, wenn im Zuge des medialen Diskurses ein „aber“ auf die Verurteilung der Terrorakte der Hamas folgt, die man klar als solche benennen muss. „Gleichzeitig“ wäre ein passenderes Wort, um auf den Kontext der Besatzung Bezug zu nehmen und zu erklären, inwiefern diese eine Rolle bei der Entstehung und Radikalisierung einer Organisation wie der Hamas gespielt hat. Problematisch ist auch, dass der Kontext der Besatzungssituation in der medialen Darstellung nur selten Erwähnung findet, da er notwendig ist, um den Hergang dieser abscheulichen, terroristischen Angriffe einzuordnen.

 Ist die umfangreiche Gegenoffensive von Israel auf den Gazastreifen in deinen Augen gerechtfertigt, gerade auch im Hinblick auf die anhaltende Besatzung Gazas durch Israel?

Innerhalb der besetzten Gebiete, im Gazastreifen, hat sich mit der Hamas eine militante Kraft entwickelt, die seit der Ersten Intifada 1987 mit bewaffneter Gewalt gegen Israel vorgeht. Seit mehreren Jahrzehnten greift sie in Form von terroristischen Attentaten gezielt zivile Ziele in Israel an, sei es während des Oslo-Prozesses oder später während der Zweiten Intifada. Dass dieser Akteur für Israel einen Feind darstellt, ist nachvollziehbar. Und dass Israel sich gegen solche Angriffe auf das israelische Kernland wehren muss, ist aus meiner Sicht auch klar.  Nachdem was nun geschehen ist, bedurfte es einer Reaktion, davon war  nicht nur das israelische Militär, sondern auch die israelische Öffentlichkeit in großen Teilen überzeugt. Die Frage ist, wie man das macht, justiziell oder militärisch.

Israel hat den Weg militärischer Stärke gewählt. Das befreit den Staat aber nicht von der Einhaltung des Kriegsrechts. Die israelische Armee ist angehalten, so präzise wie möglich Angriffe auf jene durchzuführen, die für die terroristischen Akte auf dem israelischen Kernland verantwortlich sind. Gleichzeitig sollte sie alles praktisch Mögliche dafür tun, zivile Opfer zu vermeiden. Und auch wenn das herausfordernd ist, geschieht es nicht genug. Das bestätigt ein Blick auf die schieren Zahlen: Mittlerweile sprechen die Gaza-Behörden von mehr als 20.000 getöteten Palästinenser:innen, darunter mehr als 8.000 Kinder. 

Diese Zahlen überschreiten auf palästinensischer Seite bereits jetzt bei weitem das Ausmaß der Zweiten Intifada, die fast fünf Jahre andauerte. Die Intensität, mit der die Luftangriffe  und Bodenoperationen durchgeführt werden und der Anteil an Zivilbevölkerung, der dabei zu Schaden kommt, sind sehr unverhältnismäßig und extrem; ganz zu schweigen von der beispiellosen humanitären Katastrophe, verbundenen mit der Vertreibung von mehr als 80 Prozent der Bevölkerung Gazas, die sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit abspielt. 

Ein konkreter Angriff auf ein militärisches Ziel darf im Verhältnis zu den verursachten zivilen Opfern nicht unproportional sein. Dabei hängen die absoluten Zahlen an zivilen Opfern mit der Frage zusammen, welche Ziele attackiert werden. Wenn die israelische Armee zum Beispiel in dicht besiedelten Gebieten Angriffe vornimmt und dabei  Mauern von Schulen, Moscheen oder Krankenhäusern zerstört, und infolgedessen zahlreiche Zivilist:innen sterben, dann ist das nicht akzeptabel. Die aktuellen Angriffe, bei denen für jeden getöteten Hamas-Terroristen ein Vielfaches an zivilen Menschen getötet werden, sind alles andere als präzise. 

Israel wirft der Hamas allerdings vor, die Zivilbevölkerung in Gaza als menschliche Schutzschilde zu verwenden, sodass ihnen keine andere Wahl bleibt. 

Der Begriff der menschlichen Schutzschilde verleitet zu der Annahme, die Hamas würde Menschen dazu zwingen, sich in exakt dem Gebiet, in dem sie agiert, aufzuhalten. Das stimmt so nicht. Zum einen liegt das an der hohen Bevölkerungsdichte, vor allem in den urbanen Gebieten Gazas. Zum anderen bedingt die Guerilla-Kriegstaktik der Hamas, dass zivile Ziele und militärische Ziele nah beieinander liegen. 

Aus einem militärischen Blickwinkel heraus, ist es logisch, dass die Hamas ihre Kommandozentralen nicht auf den wenigen freien Flächen im Gazastreifen einrichtet. Es ist  völlig unumstritten, dass die Hamas auch aus bevölkerten und urbanen Gebieten agiert, also über Kommandozentralen in der Nähe von zivilen Einrichtungen wie etwa Krankenhäusern oder Schulen verfügt. Bedingt durch die Tatsache, dass die Hamas über die Jahre ein Tunnelsystem geschaffen hat, ist es außerdem gut möglich, dass sie teilweise auch direkt unterhalb von Wohnhäusern, zivilen Einrichtungen, Krankenhäusern und Schulen Kommandozentralen besitzt. Die Tunnelsysteme verlaufen unterhalb von großen Städten wie Gaza-Stadt oder Dair al-Balah. 

Welches Ziel verfolgt das israelische Militär mit den weiträumigen Zerstörungen in zivilen Wohngebieten und mit welcher Strategie geht die Hamas vor?

Die wochenlangen, israelischen Luftangriffe dienten vorerst dazu, oberirdisch sehr viel Infrastruktur und auch militärische Infrastruktur zu zerstören. Sie sollten die Menschen zwingen, diese Gebiete zu verlassen, sodass die Armee anschliessend in „geräumtem Gebiet“ operieren konnte, um sich der Tunnelstruktur anzunehmen, die aus der Luft nicht zu zerstören ist. Zeitversetzt rückte die israelische Armee am Boden nach. 

Die Hamas nimmt zivile Opfer in Gaza in Kauf oder kalkuliert diese mit ein. Zudem ist sich die Hamas bewusst, dass sie Israel militärisch stark unterlegen ist und sie nutzt das Dilemma der Bevölkerungsdichte als Teil der eigenen Kriegsführung. Denn diese Art Guerilla-Kriegsführung macht es Israel schwerer, die Hamas zu treffen. Israel entbindet das jedoch nicht von seiner Verpflichtung gegenüber zivilem Leben.  Dass Israel - wie die IDF auf ihren Kanälen kommuniziert - alles daran gelegen ist, ziviles Leben zu schützen, entspricht nicht der Realität dieses Krieges. 

Hunger als militärische Strategie zu involvieren, indem man Nahrungszufuhr und Zufuhr zu Wasser und Strom kappt, ist kriegsrechtlich verboten. Ohne Wasser, Strom und elektrische Zufuhr können Güter nicht mehr gekühlt werden und Wasser wird ungenießbar. Israel ist nach Ansicht der Vereinten Nationen und allen wichtigen Menschenrechtsorganisationen weiterhin Besatzungsmacht und damit verpflichtet, die zivile Bevölkerung mit dem Notwendigsten wie Wasser, Strom und Nahrung zu versorgen. Auch der Evakuierungsaufruf, der hunderttausende Menschen aufforderte, innerhalb weniger Tage den Nordteil des Gazastreifens zu verlassen, war allein aufgrund der vielen alten und verletzten Menschen nicht umsetzbar; zumal dann auch im Süden Luftangriffe durchgeführt wurden. Im Norden Gazas befinden sich zudem wichtige Krankenhäuser. 

Viele Palästinenser:innen in Gaza weigern sich, die Gebiete zu verlassen. Auch aufgrund des Traumas der Nakba, also der Vertreibung in Folge der Staatsgründung Israels 1948, fürchten viele, nie wieder zurückkehren zu können. Hältst du die Sorge für realistisch? 

Zwei Drittel der palästinensischen Bevölkerung in Gaza sind Geflüchtete von 1948 oder deren Nachkommen. Die Sorge ist vor allem für die im Norden beheimateten Menschen in Gaza reell aufgrund der Zerstörung durch die Bombardements und wegen der erklärten politischen Ziele der israelischen Regierung. Zu diesen Zielen gehört beispielsweise die Schaffung einer größeren „Pufferzone“ innerhalb der palästinensischen Gebiete des Gazastreifens, in der Menschen sich nicht mehr bewegen dürfen. Es gibt bereits eine Shooting-Zone und eine No-Go-Zone, also Gebiete an der Sperranlage, die zwischen Israel und dem Gazastreifen liegen und die Palästinenser:innen laut israelischem Militär nicht betreten dürfen. 

Dieses Sperrgebiet wird definitiv ausgeweitet werden und sich wahrscheinlich ausdehnen auf einige Kilometer. Das ist bei der Fläche des Gazastreifens erheblich, der mit vierzig mal zehn Kilometer etwa so groß ist wie die Stadtfläche von Köln. Darüber hinaus haben einzelne israelische Politiker eine ganzheitliche, dauerhafte Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus dem Gazastreifen gefordert.

Das Entscheidende aktuell ist auch, dass israelische Entscheidungsträger:innen angekündigt haben, den politischen Status quo im Gaza-Streifen verändern zu wollen, das heißt, die Hamas zu vernichten. Dieses Kriegsziel halte ich für extrem problematisch. Nicht weil die Hamas kein sehr problematischer Akteur ist und definitiv nicht mehr im Gazastreifen die Macht haben sollte, sondern weil das - wie wir aktuell sehen - mit sich bringt, dass sehr viele unschuldige Menschen sterben. 

Ist dieses Kriegsziel überhaupt realistisch? 

Eine Zerschlagung der Hamas dürfte sehr schwierig werden, weil die Organisation auch über die Grenzen des Gazastreifens hinweg ein wichtiges Netzwerk besitzt. Wichtige politische Führungsfiguren sitzen im Exil, zum Beispiel in Katar. Zwar ist eine Gleichsetzung der palästinensischen Bevölkerung mit der Hamas Irrsinn, weil ein Großteil der Menschen in Gaza der Hamas kritisch gegenüberstehen aufgrund ihrer autoritären Herrschaft, der starken Beschneidung von zivilgesellschaftlichen Spielräumen und der Unterdrückung anderer politischer Bewegungen. Doch aufgrund ihres religiös-konservativen Outlooks und ihrer kompromisslosen Strategie gegen Israel verfügt die Hamas durchaus über eine Stammwählerschaft in Palästina. 

Selbst wenn die Hamas militärisch besiegt wird, wird es schwer, die Ideologie vollständig zu bekämpfen. Es ist viel eher wahrscheinlich, dass eine militärische Zerschlagung der Hamas eine zunehmende Radikalisierung von jedem wirklich überzeugten Unterstützer mit sich bringen wird. Zumal man, wenn man die Hamas wirklich zerschlagen möchte, genauso versuchen müsste, andere dschihadistische, islamistische Gruppierungen zu vernichten. Ich denke, diesen Konflikt militärisch zu lösen, geschweige denn zu befrieden, ist nicht möglich. Es braucht eine politische Lösung und ich muss  klar sagen, dass die verschiedenen Regierungen unter Vorsitz von Benjamin Netanjahu seit 2009 sehr wenig dafür getan haben.

 

 

 

Hanna ist seit 2023 Mitglied bei dis:orient. Sie hat Journalismus, Kommunikation und Medienwissenschaften studiert und arbeitet hauptberuflich als Redakteurin und Autorin. Bei dis:orient ist sie vor allem im Bereich Magazin tätig. Ihre Themenschwerpunkte sind Migration und Bildung.
Redigiert von Nora Krause, Bruna Rohling