04.12.2023
Rezension: „Das Buch vom Verschwinden“
Der alte Hafen von Jaffa und die Skyline Tel Avivs. Die Protagonisten Ariel und Alaa wohnen beide im gleichen Haus in Tel Aviv. Als Ariel nach Alaa’s Verschwinden dessen Notizbuch findet, stößt er dabei auch auf Alaas Erinnerungen an seine Großmutter, an deren Erfahrung der Nakba und an ein historisches Jaffa, das heute nicht mehr existiert. Foto: Wikimedia.
Der alte Hafen von Jaffa und die Skyline Tel Avivs. Die Protagonisten Ariel und Alaa wohnen beide im gleichen Haus in Tel Aviv. Als Ariel nach Alaa’s Verschwinden dessen Notizbuch findet, stößt er dabei auch auf Alaas Erinnerungen an seine Großmutter, an deren Erfahrung der Nakba und an ein historisches Jaffa, das heute nicht mehr existiert. Foto: Wikimedia.

In Azems Roman verschwindet die palästinensische Bevölkerung über Nacht. Das fiktive physische Verschwinden ist Aufhänger einer persönlichen und hochaktuellen Analyse der öffentlichen Verdrängung palästinensischer Erinnerungen und Lebensrealitäten.

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig Bücher und Filme vor. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

„Erinnerungen sind eine Wahl“. Ein Satz, der in Ibtisam Azems Roman „Das Buch vom Verschwinden“ Wellen schlägt. Denn Azems Roman handelt von Erinnerungen – und vom Verschwinden solcher, die in der Gegenwart keinen Platz zu finden scheinen. Um diesen Satz herum konstruiert ihre Geschichte ein undenkbares Ereignis: Die gesamte palästinensische-arabische Bevölkerung ist mit einem Mal und ohne Hinweise auf ihren Verbleib aus Israel und den besetzten Gebieten verschwunden. Doch ist dies so absurd? Azem wagt dieses Gedankenexperiment und zeigt: Das Gefühl des Verschwindens ist in der Wahrnehmung vieler Palästinenser:innen alltäglich.

„Das Buch vom Verschwinden“ wurde bereits 2014 veröffentlicht. Vor wenigen Monaten erschien nun die deutsche Erstausgabe und könnte kaum aktueller sein, wird doch seit dem 7. Oktober auf Nachrichtenplattformen und sozialen Medien laut über die „richtige“ Abwägung von menschlichem Leid diskutiert. Palästinensische Perspektiven auf dieses am eigenen Körper erfahrene Leid werden öffentlich kaum wahrgenommen. Azem thematisiert diese Wahrnehmung des Verschwindens und zeigt, wie dieser Prozess die selektive Wahrnehmung von menschlichem Leid auch gegenwärtig prägt.

Im Zentrum der Geschichte steht Alaa, ein Kameramann palästinensischer Herkunft aus Jaffa, und Ariel, ein jüdischer Israeli, der als Journalist arbeitet. Sie sind gute Freunde, leben im gleichen Haus und teilen einen ähnlichen Lebensstil. Trotz ihrer räumlichen Nähe und persönlichen Verbindung zueinander unterscheidet sie vieles in ihrem Denken, in ihren Gefühlen und den Geschichten, die sie sich erzählen. Als die palästinensische Bevölkerung plötzlich verschwindet, macht sich Ariel, der einen Zweitschlüssel zu Alaas Wohnung besitzt, auf die Suche nach seinem guten Freund. Dort findet er ein rotes Notizbuch. Alaa schreibt in diesem Notizbuch an seine verstorbene Großmutter.

Die Nakba, die Staatsgründung Israels und die Gegenwart

Dabei erinnert Alaa sich an Spaziergänge mit seiner Großmutter durch die Straßen Jaffas. Sie zeigt ihm ihr Jaffa, dass für sie unter den neuen Straßennamen und all den Veränderungen, die mit der Staatsgründung Israels und der Nakba einhergingen, verloren gegangen ist. Alaas Beziehung zu seiner Umgebung ist durch das Schicksal seiner Großmutter geprägt: Während der Vertreibung eines Großteils der palästinensischen Bevölkerung ist sie als schwangere Frau gemeinsam mit ihrem Vater in Jaffa geblieben, während ihr Mann und der Rest der Familie nach Jordanien flohen.

Nicht nur Alaas Wahrnehmung ist durch Erinnerungen geprägt. Auch Ariels Interpretation der Gegenwart ist mit den kollektiven Erinnerungen seiner Familiengeschichte und dem Trauma der Shoa verbunden: Aufgrund der Erzählungen seines Großvaters und einem tödlich endenden Flugzeugabsturz seines Vaters während eines Militäreinsatzes ist seine Heimat für ihn ein Ort, der ihn an den Mut und die Tapferkeit seiner Vorfahren erinnert, welche Schutz und Zuflucht suchten. Für ihn ist Tel Aviv eine Stadt, die Fortschritt und Modernität in die Region bringt.

Kampf um Identität

Azem erzählt durch Alaa und Ariel, wie selbst die engste Freundschaft durch diese tiefen Risse der Vergangenheit bestimmt wird. Denn auch ihre Beziehung ist nicht frei von den Machtverhältnissen, die mit diesen gegensätzlichen Narrativen einhergehen. Alaas Gefühl des Verlusts palästinensischer Identität in der Gegenwart ist für ihn Ausdruck einer historischen Kontinuität, die bereits mit den Verlusten seiner Großmutter während der Nakba begann. „Meine Geschichten bestehen aus Bruchstücken deiner Geschichten. Aus solchen, die du erzählst und aus anderen, die du nicht erzählst“ schreibt Alaa an sie in eindrücklich bildlicher Weise.

Die dominierenden Narrative widersprechen seinen Geschichten und seiner erlebten Realität, die dabei von Teilen der israelischen Gesellschaft ungehört bleibt: „Was, wenn wir ihnen direkt in die Ohren schreien? Würden sie uns hören? Wenn wir sie an den Ohren packen und so laut schreien, wie wir nur können, würden sie uns hören?“ Ariel jedoch verspürt ein großes Bedürfnis Alaas Verschwinden auf den Grund zu gehen und ihn besser zu verstehen. Er beginnt sich in dessen Wohnung einzurichten und liest seine Gedanken in seinem Tagebuch. Trotzdem bleibt für Ariel das Ungerechtigkeitsempfinden aus Alaas Perspektive nicht gänzlich greifbar. 

Mosaike einer zerrissenen Gesellschaft

Azem schafft es, das Persönliche mit dem Politischen zu verbinden und einzelne Momentaufnahmen des gesellschaftlichen Lebens in Israel und Palästina in ein großes zusammenhängendes Bild zu verwandeln. Die Leser:innen schauen von oben auf das dystopisch wirkende Szenario des plötzlichen Verschwindens der palästinensischen Bevölkerung, wobei sie um Alaas und Ariels Perspektiven herum in vielfältige Lebensrealitäten in Tel Aviv zum Zeitpunkt des Geschehens eintauchen: Eine Sexarbeiterin wartet vergeblich auf ihren Zuhälter. Eine Patientin auf ihren Arzt. Während sich ein Arzt, der gefolterte palästinensische Gefangene verarztet, genervt zum wiederholten Mal auf den Weg zum Hochsicherheitsgefängnis macht, verschwindet der Häftling spurlos aus seiner Zelle. Der 80-jährige Dajan wird geplagt von Schuldgefühlen aufgrund seiner Mitschuld an einem Verbrechen als Mitglied einer Militäreinheit während der Staatsgründung Israels und seinem jahrelangen Schweigen.

Der Roman erzählt all diese Dinge aus den verschiedensten, intimen Perspektiven und kreiert dabei ein Gesellschaftsbild, dass nicht in ein vereinfachendes schwarz/weiß-Schema passt. Damit lässt er einen nuancierten, vielschichtigen Blick auf den sogenannten Nahost-Konflikt zu, und vergisst zugleich nicht die Grausamkeiten, die den Alltag vieler Menschen dort begleiten.

So unterschiedlich diese Einblicke auch zu sein scheinen, sie werden alle von jenen Kräften durchzogen, auf die der Roman aufmerksam machen will: Von Machthierarchien, die sich im Schweigen manifestieren. Von der Unsichtbarkeit des Leids der Anderen und vom Verschwinden. Persönliches und Politisches, intime Gedanken und öffentliche Diskurse verschmelzen zu einem Spiegelbild der Gesellschaft in Tel Aviv: Eine Gesellschaft, die zwar untereinander räumlich nichts trennt, die aber in ihrer Wahrnehmung der erlebten Gegenwart weit entfernt voneinander ist. 

Magisch-fiktive Erzählung prallt auf realistische Diskurse

Die fiktiven Geschehnisse konstruieren dabei ein Abbild der kursierenden Narrative und Diskurse der politischen Realität in Israel: Der Ministerpräsident „Titi“ hält im Roman eine Rede in der Knesset über die Bedrohung der einzigen Demokratie im Nahen Osten durch die Araber:innen. Siedler:innen stürmen nach dem Verschwinden der palästinensischen Bevölkerung deren Häuser. Politische Persönlichkeiten der extremen Rechten erkennen in dem Verschwinden eine göttliche Offenbarung, die den Anspruch auf alle besetzen Gebieten untermauert. Der Roman erzählt auch über die Angst, die sich breit macht und über die Menschen, die ihre Freunde vermissen, die selbstverständlicher Bestandteil ihres Alltags waren. Der Großteil der Bevölkerung jedoch, so wird es in Azems Roman immer wieder deutlich, steht dem Verschwinden gleichgültig gegenüber.

Diese Gleichgültigkeit offenbart den in der Realität bereits gesellschaftlich normalisierten Zustand der Besatzung als kontinuierlicher Prozess des Verschwindens. Dieses Verschwinden ist ein stiller Prozess. Er beginnt in der kollektiven Wahrnehmung, in der Verdrängung von Erinnerungen und Lebensrealitäten, und umfasst das tatsächliche Verschwinden von Menschenleben und Umgebungen. Das „magische“ Ereignis in Azems Roman, das plötzliche Verschwinden, entlarvt dabei die eigentliche Absurdität: Die alltägliche Realität in Israel, wo die Bevölkerung zwar auf engstem Raum zusammenlebt, aber unfähig ist, den Schmerz der Anderen, ihre Erinnerung und erlebte Realität, wahrzunehmen.

Der palästinensischen Autorin und Journalistin Ibtisam Azem, die selbst in Israel geboren wurde, ist mit ihrem zweiten Roman eine faszinierende Geschichte gelungen, welche die subjektive Wahrnehmung des Konfliktes in einen politischen und historischen Kontext der Machtverhältnisse setzt. Während polarisierende Debatten und abstrakte Analysen im Zentrum der gegenwärtigen Aufmerksamkeit stehen, rücken Romane wie dieser das zwischenmenschliche Zusammenleben in den Fokus. Sie bieten Momente des Innehaltens und des Perspektivwechsels, welche unverzichtbar sind. Was äußere Zuschreibung und Aberkennung von Leid im Inneren der Menschen anrichtet, wird uns dabei in aller Deutlichkeit vor Augen geführt.

Ibtisam Azem: Das Buch vom Verschwinden, Lenos, Basel 2023, 271 Seiten, ca. 18 Euro.

 

 

 

Nora Krause hat Recht und Politik in Frankfurt (Oder) mit einem internationalen Schwerpunkt studiert. Sie interessiert sich für WANA vor allem aus einer völkerrechtlichen und dekolonialen Perspektive. Bei dis:orient ist sie seit Juni 2023 aktiv.
Redigiert von Iman Fritsch, Rebecca Spittel