14.03.2019
Kann der Islam Demokratie? – Oder: Können wir Islam? Beobachtungen aus dem Schloss Bellevue

Eine Diskussionsveranstaltung des Bundespräsidenten im Februar zur „Zukunft der Demokratie“ zeigt trotz guten Willens die Schwächen und Fallstricke der gesellschaftlichen und politischen Debatten um „den Islam“ auf. Von Nushin Atmaca

Ende Februar fand auf Einladung des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier die sechste Veranstaltung in der Reihe „Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie“ statt, die sich der Diskussion aktueller Herausforderungen der Demokratie widmet. Zum Thema „Alles Glaubenssache?“ saßen gemeinsam mit dem Bundespräsidenten auf dem Podium: Evelyn Finger, Journalistin und Leiterin des Ressorts „Glauben und Zweifeln“ der ZEIT, Hans Joas, Ernst-Troeltsch-Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und Professor of Sociology and Social Thought an der University of Chicago, sowie Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie Münster und Professor für Islamische Religionspädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Nach dem Eingangsstatement des Bundespräsidenten, in dem er – wie der medialen Berichterstattung des folgenden Tages zu entnehmen war – auch sein Glückwunschtelegramm an Iran anlässlich des dortigen Nationalfeiertags begründete, entspann sich ein interessantes und lebhaftes Gespräch, das sich im weiteren Verlauf auf die „Islamfrage“ verengte. Dieser Fokus offenbarte eindrücklich die Schwächen und Fallstricke der Diskussion, wie sie auch in und vor der breiteren Öffentlichkeit geführt wird.

Das minderte den Wert dieser Veranstaltung nicht, im Gegenteil: Die Diskussion aktueller Fragen vor einer interessierten, teils informierten und oft einflussreichen (da es sich bei den meisten um Menschen in Machtpositionen handelte) Zuhörerschaft ist wichtig, um Veränderungen anzustoßen und neue Ideen zu verbreiten. Dennoch hätte es ihr gut getan, neue Sichtweisen zuzulassen und das eigene Sprechen zu reflektieren.

Essentialisierungen lassen sich nicht allein dadurch vermeiden, dass man sie vermeiden möchte

So mahnte Steinmeier in seiner Rede, Essentialisierungen zu vermeiden: Es gebe nicht nur den einen Islam, sondern vielfältige Ausrichtungen und Strömungen. So weit, so gut. Dennoch stellte der Bundespräsident im Gespräch mehrmals die Frage nach der Demokratiekompatibilität und der Modernisierungsfähigkeit des Islams und führte damit seinen Aufruf, nicht in essentialisierende Denkmuster zu verfallen, ad absurdum. Denn von was, wenn nicht von einem unveränderbaren Kern der Religion, geht die Frage nach der Fähigkeit des Islams zu etwas und seiner Kompatibilität mit etwas denn aus? Genau das ist essentialistisch.

Differenzierter wäre es daher, nach denjenigen theologischen und praktischen Anstrengungen muslimischer Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen in Deutschland zu fragen, in denen die Normen ihrer Religion ins Hier und Jetzt übersetzt werden. Und, ganz wichtig, einen Schritt zurück zu gehen und sich zu fragen, wieso die Prämisse eigentlich zu sein scheint, dass der Islam Schwierigkeiten mit der Moderne und der Demokratie habe.

„Schauen Sie sich doch mal die islamischen Länder an!“ – diese Entgegnung hämmert förmlich in meinem Kopf. Ja, schauen Sie sich die Länder der islamisch geprägten Welt doch einmal an!, möchte ich zurückrufen: Indonesien, Indien, Libanon, Nigeria, Türkei – Demokratien, mit vielen Schwächen und schwelenden Konflikten, aber mit demokratischen Verfassungen. Die Staaten der arabischen Halbinsel, die in die technologische, wissenschaftliche und künstlerische Moderne streben und Personen und Techniken, die ihnen dabei helfen, weltweit „einkaufen“.

Natürlich sind diese Kategorien holzschnittartig und die Aufzählung hat Schwächen; was ich damit sagen möchte: Die politischen Systeme und gesellschaftlichen Modelle in den Staaten der islamisch geprägten Welt sind vielfältig. Die islamischen Lehren, auch die traditionellen, sehen keine bestimmte Staatsform vor und auch kein Gesellschaftsmodell. Sie sind flexibel.

Auch die Frage „Welcher Islam gehört zu Deutschland?“ grenzt aus

Sprechen wir also tatsächlich über muslimische Themen, wie Evelyn Finger einen Teil der Schwerpunkte ihres Ressorts nannte, oder ist die wichtigere Frage nicht vielmehr die, wie diese Gesellschaft weiter zusammenwachsen und die Anerkennung der Werte, die sie als unverhandelbar definiert, im alltäglichen Leben sichern kann? Sprechen wir über religiöse Dogmen oder über soziale Probleme und marginalisierte Gruppen, die nicht sichtbar sind, nicht gehört werden (bzw. die das Gefühl haben, nicht sichtbar zu sein und nicht gehört zu werden – man denke an gut situierte AfD-Wähler*innen und ihre Abstiegsängste), die Möglichkeiten des Engagements nicht wahrnehmen (können) und sich schlicht nicht anerkannt fühlen? Geht es um eine fremde Religion oder nicht vielmehr um die Fremden, deren Kinder uns immer noch fremd sind? Denen die Politik und die Gesellschaft dieses Landes seit über fünfzig Jahren kein attraktives Angebot machen, damit sie sich heimisch, „deutsch und xxx“ fühlen, sondern die immer nur Defizite bemängeln und Loyalitätsbekenntnisse fordern, um Letztere dann als unglaubwürdig und unzureichend zurückzuweisen.

Diese Haltung spiegelt sich in der Frage nach dem richtigen Islam wider: Die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehöre, sei obsolet, so Steinmeier in seiner Rede. Es stelle sich vielmehr die Frage, welcher Islam zu Deutschland gehöre. Ich verstehe diese Frage nicht. Wird man den Islam, der nicht hierhergehört, dann ausweisen? Und wer wird dann wirklich ausgewiesen?

Ahmet Şahin, Deutscher mit schwarzen Haaren und braunen Augen, 45 Jahre alt, Mechatroniker, Familienvater, der keinen guten Umgang mit der Homosexualität seines Neffen findet und seiner Tochter droht, den Kontakt abzubrechen, sollte sie sich wirklich entschließen, ihren indischstämmigen christlichen Freund zu heiraten, weil er beides nicht mit seiner Religion, dem Islam, vereinbaren kann?

Weisen wir dann auch Achim Schulz aus, Deutscher mit dunkelblonden Haaren und graugrünen Augen, 45 Jahre alt, Mechatroniker, Familienvater, der keinen guten Umgang mit der Homosexualität seines Neffen findet und seiner Tochter droht, den Kontakt abzubrechen, sollte sie sich wirklich entschließen, ihren indischstämmigen muslimischen Freund zu heiraten, weil er beides nicht mit seiner Religion, dem Christentum, vereinbaren kann? Das wäre doch absurd.

Seid offen für andere Meinungen und neue Sichtweisen!

Bitte hört also endlich auf, alles unter dem Label „Islam“ zu verorten! Kinderehen und die Missachtung von Frauenrechten – zwei Aspekte, die in der Debatte dem Islam zugeschrieben wurden – lassen sich selten monokausal begründen, sondern ebenso durch eine soziokulturelle Prägung innerhalb patriarchaler Strukturen und andere Lebensumstände. Ladet nicht nur (vermeintliche) Islam-, Islamismus- und Terrorismusexpert*innen ein.

Unterhaltet Euch ausführlich mit Migrationsforscher*innen, mit Vertreter*innen von Migrant*innenselbstorganisationen und anderen Aktivist*innen, um zu verstehen, dass Migration und die Verlustängste um die eigene Identität, um das Selbst, nicht mit der Reise von einem Ort an den anderen beendet ist, sondern dass diese Reisen Familiennarrative prägen und über Generationen hinweg wirkmächtig bleiben.

Überlegt, wie Gruppen, die sich am Rande der Gesellschaft sehen und/oder dort verortet werden, in unsere Mitte geholt werden können. Und stellt Euch ernsthaft die Frage: Wir halten doch die Achims aus, oder? Warum können wir dann nicht auch die Ahmets aushalten?

Apropos Fragen stellen: Moderiert vom Bundespräsidenten wurde das Podium auch für Publikumsbeiträge geöffnet. Unterhalten haben sich dann vor allem weiße[1] Männer über vierzig, die sich fast alle beim Namen kannten. Das war sehr ernüchternd, denn irgendwann stellte ich mir die Frage, warum alle anderen diesem Gespräch unter Freunden, die ihre Meinungen schon kannten, eigentlich lauschen sollten. Es hätte der Veranstaltung gut getan, vielfältiger einzuladen und mehr Wortbeiträge unbekannter Gesichter, die sich durchaus gemeldet haben, zuzulassen. Denn alt, weiß, männlich, um die eigenen, vertrauten Diskurse kreisend und verständnislos gegenüber neuen Ansätzen und Denkweisen– so möchte ich mir die Zukunft unserer Demokratie nun wirklich nicht vorstellen!

 

Nushin Atmaca ist Islamwissenschaftlerin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Museum für Islamische Kunst. Zu der Veranstaltung „Alles Glaubenssache?“ war sie als ehemalige Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes und Mitbegründerin seiner Berliner Gemeinde eingeladen.

 

[1]weiß ist klein und kursiv geschrieben, denn es handelt sich nicht um eine ermächtigende Selbstbezeichnung und nicht um eine bloße Farbbezeichnung, sondern um eine privilegierte Position innerhalb eines rassistischen Systems. Mehr dazu hier.

Nushin Atmaca ist Islamwissenschaftlerin, lebt mit ihrer Familie in Berlin und arbeitet am Museum für Islamische Kunst im Bereich Diversitätsentwicklung. Berufsbegleitend studiert sie "Kulturen des Kuratorischen" an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Mit Fragen zu Repräsentation, Sichtbarkeit und gesellschaftlichen...
Redigiert von Diana Beck, Julia Nowecki