11.11.2022
Keine Kuschelkonferenz
Der Klimagipfel in Ägypten wird vom Regime genutzt, um von Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land abzulenken - der politische Druck von außen wächst aber nur langsam. Illustration: Zaide Kutay
Der Klimagipfel in Ägypten wird vom Regime genutzt, um von Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land abzulenken - der politische Druck von außen wächst aber nur langsam. Illustration: Zaide Kutay

Im November findet der Klimagipfel in Ägypten und die Männer-Fußball-WM in Katar statt. Die internationale Gemeinschaft müsste solche Events viel mehr nutzen, um die Missstände in den Ländern zu kritisieren, erwartet Hannah El-Hitami.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Eine Fußball-WM in einem Land, das moderne Sklav:innen Stadien bauen lässt. Ein Klimagipfel, gesponsert von Coca-Cola, in einem Folterstaat mit Zehntausenden politischen Gefangenen. Eine Winterolympiade mitten in der Wüste, veranstaltet von einer Regierung, die einen kritischen Journalisten zerstückeln ließ. Die internationalen Großveranstaltungen, die diesen November in Katar oder Ägypten stattfinden oder die gerade an Saudi-Arabien vergeben wurden, klingen nicht nach etwas, das ich gerne besuchen oder in irgendeiner Weise mitverfolgen möchte. Hier ist die Welt zu Gast bei Regimen, die ihre eigenen Bevölkerungen massiv unterdrücken, und die nun von der internationalen Gemeinschaft das Signal zu bekommen scheinen: Ihr seid trotzdem ernstzunehmende Partner:innen, politisch und kulturell.

Immer wenn Staaten mit problematischer Menschenrechts-Bilanz den Zuschlag für internationale Sportevents oder politische Gipfeltreffen erhalten, werden die gleichen Fragen diskutiert: Hilft die Gastgeberrolle den repressiven Regimen, sich in einem guten Licht darzustellen? Führen die Vorbereitungen auf diese Veranstaltungen sogar zu einer Ausweitung der Überwachung, Ausbeutung und Unterdrückung der Bevölkerung? Oder steckt in diesen prestigereichen Events nicht auch eine Chance, Druck auf Staaten auszuüben, die Wert auf ein gutes Image legen? Kann die internationale Aufmerksamkeit bei dieser Gelegenheit gezielt auf die Kämpfe von Aktivist:innen im Land gelenkt werden? Eine einfache oder eindeutige Antwort auf dieses Dilemma gibt es, glaube ich, nicht.

Zwei Bilder eines Landes

Mein Flug mit Egyptair nach Kairo letzte Woche begann mit einem Werbevideo für den Klimagipfel. Darin wird der Veranstaltungsort Sharm el-Sheikh als „Stadt des Friedens und der Nachhaltigkeit“ bezeichnet. Man sieht Menschen Müll trennen und recyceln oder mit solarbetriebenen Elektro-Autos die Rotmeerküste erkunden. Das Wort „sustainable“ („nachhaltig“) taucht an jeder möglichen Stelle auf. Dies ist das Bild, das der ägyptische Staat nach außen vermitteln möchte.

Gleichzeitig verzichtet Alaa Abdel Fattah, einer der bekanntesten politischen Gefangenen, nach mehr als 200 Tagen Hungerstreik nun auch auf Wasser. Er sitzt seit 2019 in einem Gefängnis in Kairo, 500 Kilometer von Sharm el-Sheikh entfernt, weil er die Regierung kritisiert und an Protesten teilgenommen hat. Die vom 6. bis 18. November stattfindende UN-Klimakonferenz COP27 ist für ihn und seine Familie eine Chance, die internationale Aufmerksamkeit zu generieren, die sein Leben retten könnte. Wie ihm geht es 60.000 anderen politischen Gefangenen im Land. Eine Koalition ägyptischer und internationaler Organisationen forderte in einer Petition, dass kein Klimagipfel ohne die Teilnahme zivilgesellschaftlicher Akteur:innen, ohne freien Zugang zu Informationen und ohne eine grundlegende Verbesserung der Lage politischer Gefangener im Land stattfinden dürfe. Das ist das Bild, das ägyptische Aktivist:innen nach außen vermitteln möchten.

Die Frage ist nun, welches der beiden Bilder eine größere Wirkmacht hat und auf wen. Greta Thunberg hat ihre Teilnahme am Klimagipfel jedenfalls abgesagt, unter anderem wegen der extrem eingeschränkten Freiräume für die Zivilgesellschaft in Ägypten. Denn anders als bei bisherigen Klimagipfeln, deren Sinn Aktivist:innen wie Thunberg ohnehin in Frage stellen, ist bei der COP in Ägypten nicht einmal Platz für Proteste, kritische Berichterstattung oder irgendeine Form von Zweifel an dem grünen, nachhaltigen Picture Perfect, das der ägyptische Staat vermitteln will.

Zweischneidige Events

Doch das Gipfeltreffen findet natürlich auch ohne Thunberg statt. Trotz der ein oder anderen mahnenden Worte finden sich Politiker:innen und Klimaaktivist:innen aus aller Welt dort zusammen. Genauso wird zwei Tage nach Ende der COP27 die Männer-Fußball-WM in Katar beginnen – trotz all der kritischen Berichte und Boykottaufrufe der letzten Jahre. Andererseits wäre die miserable Situation der Arbeitsmigrant:innen in dem Golfstaat – die es ja auch außerhalb des Stadionbaus gab - wohl nie derart recherchiert und weltweit diskutiert worden, wenn die WM keinen Anlass dazu gegeben hätte.

Amnesty Internationals Experte zu Ägypten beschreibt in einem Interview, dass internationale Events wie die COP27 tatsächlich zweischneidig sind. Der Staat wolle sich in einem guten Licht darstellen, sagt er mit Bezug auf Ägypten. Das bedeute einerseits, dass öffentliche Räume noch mehr überwacht werden, dass mehr Checkpoints eingerichtet werden, um Menschen auf der Straße willkürlich zu durchsuchen. Und: „Deswegen findet der Klimagipfel auch in einem Ressort mitten in der Wüste statt, wo die meisten Ägypter:innen nicht hinkommen.“ Andererseits könne sich das Sisi-Regime keine großen Skandale leisten, solange die Welt zuschaue. So würden zum Beispiel keine prominenten Aktivist:innen festgenommen, einige politische Gefangene seien sogar freigelassen worden. Dennoch „werden die Repressionen gegen die große Masse der Ägypter:innen schlimmer.“

Was aber wäre die Alternative?

Ob Ägypten, Katar oder Saudi-Arabien, für mich stellt sich bei all diesen unterschiedlichen Veranstaltungen eine gemeinsame Frage: dürfen nur die „guten“ Staaten internationale Veranstaltungen ausrichten? Muss man sie andernfalls boykottieren? Aber wer sind denn eigentlich „die Guten“? Die EU-Staaten, die faschistische Regierungen wählen, an ihren Grenzen Menschen sterben lassen und entgegen aller Behauptungen Waffen an Kriegsländer liefern? Oder die USA, deren Polizei regelmäßig schwarze Menschen tötet und die seit Jahrzehnten ein Foltergefängnis betreiben, in dem Gefangene ohne rechtliche Grundlage festgehalten werden können? Im Übrigen kam es auch in Deutschland bei einem vergleichbaren Großevent, dem G20-Gipfel 2017 in Hamburg, zu massiver Polizeigewalt.

Sollen solche Veranstaltungen also lieber gar nicht mehr stattfinden? Das scheint auch keine langfristige Lösung, denn irgendwie muss die internationale Gemeinschaft ja zusammenkommen, ob zu überlebenswichtigen Debatten über den Klimawandel oder zu potenziell verbindenden kulturellen Ereignissen. Was aber tun, wenn Regierungen diese Treffen missbrauchen, um den eigenen Nationalstaat in einem besonders guten Licht dastehen zu lassen, wenn sie alle Probleme und die davon Betroffenen möglichst stillhalten, während sie prunkvolle Bauten und realitätsferne Promo-Filmchen in den Vordergrund stellen? Was tun, solange die Vergabe solcher Gastgeberrollen nicht an verbindliche Bedingungen geknüpft wird? Besonders viel Hoffnung auf Druck von Seiten der teilnehmenden Staaten habe ich ehrlich gesagt nicht: wenn wirtschaftliche oder diplomatische Interessen im Spiel sind, vergessen Regierungen oft genug ihre angebliche Verpflichtung gegenüber den Menschenrechten – oder handeln erst, wenn das Thema eine große Öffentlichkeit erreicht hat.

Protest-WMs und Aktivismusgipfel

Es scheint also an der Zivilgesellschaft hängen zu bleiben: an internationalen und nationalen Organisationen, politischen Aktivist:innen, an den Sportler:innen oder Expert:innen, die an Events teilnehmen, an den Fans und Besucher:innen. Sie müssen alles, was geht, aus diesen Veranstaltungen rausholen. Sie dürfen die Missstände im Gastgeberland nicht ignorieren, um ungestört am Event teilnehmen zu können. Leider passiert das zu häufig. Auch im Kontext der COP waren ägyptische Aktivist:innen enttäuscht über die mangelnde Solidarität der internationalen Klima-Szene. Auf meiner Twitter-Timeline habe ich in den letzten Wochen viele Posts von Aktivist:innen gesehen, die betonten, wie wichtig dieser Gipfel sei, um endlich verbindliche Schritte gegen den Klimawandel zu beschließen, wie resolut sie sich dafür einsetzten wollen. Die politischen Gefangenen Ägyptens erwähnten sie mit keinem Wort.

Im Laufe der ersten COP-Woche änderte sich das allmählich: immer mehr Menschen forderten öffentlich die Freilassung von Alaa Abdel Fattah, insbesondere nach einer Pressekonferenz mit seiner Schwester in Sharm el-Sheikh. Der politische Druck auf die ägyptische Regierung wuchs. Der Einsatz von Alaa Abdel Fattahs Familie könnte ein Vorbild dafür sein, wie solche Veranstaltungen für politische Forderungen genutzt werden könnten – auch wenn Alaa nach wie vor inhaftiert und in Lebensgefahr ist – und wie ausländische Gäste vor Ort ein Zeichen setzen, den Fokus der Veranstaltung verschieben können.

Sie können viel unbequemere Fragen stellen als die lokale Bevölkerung, die damit ein großes Risiko eingeht. Sie können mit Protestaktionen zuhause oder vor Ort ein Zeichen setzen, den Regimen klarmachen, dass sie ihr Narrativ durschauen. Sie müssen ihre eigenen Regierungen unter Druck setzen, endlich politische Forderungen an Länder wie Ägypten zu stellen, anstatt sie weiterhin mit Rüstung zu versorgen. Auch könnte so eine Veranstaltung die Gelegenheit sein, an zivilgesellschaftliche Organisationen im Land zu spenden – wie ein CO2-Ausgleich beim Fliegen. Vor allem dürfen die Menschen, die durch eine WM oder COP auf ein Problem aufmerksam werden, dieses danach nicht einfach wieder vergessen.

Damit die Teilnahme an internationalen kulturellen, politischen oder sportlichen Events einigermaßen vertretbar wird, nützt es nichts, sie nur in bestimmten, vermeintlich unproblematischen Ländern abzuhalten. Stattdessen müssten die Veranstaltungen selbst umgedeutet werden: zu Protest-WMs und Aktivismusgipfeln, bei denen die Missstände des jeweiligen Gastgeberlandes im Fokus stehen.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

Hannah El-Hitami, Jahrgang 1991, ist freie Journalistin in Berlin und schreibt vor allem über arabische Länder, Migration und koloniales Unrecht. Sie studierte Arabische Literatur und Kultur in Marburg und war Volontärin des Amnesty Journals. www.hannahelhitami.com/  
Redigiert von Johanna Luther, Sophie Romy