Kaveh Akbars Debütroman "Märtyrer!" ist eine Reise durch Trauer, Glauben und Sehnsucht – eine Hymne für die Lebenden und jene, die noch lernen, durch das Leben zu navigieren.
Cyrus geht auf die dreißig zu, ist trockener Alkoholiker, trägt stets fleckige T-Shirts und hat immer einen leicht besorgten Gesichtsausdruck. Obwohl er über Popkultur und iPhones schreiben könnte, verfasst er Gedichte über Granatäpfel – wie es sich für einen queeren iranischen Mann in den USA gehört. Dorthin wanderte sein Vater mit ihm aus, als er noch ein Baby war. Heute sehnt er sich nach einem Entkommen aus der endlosen Spirale seiner Traurigkeit, weiß aber von Anfang an, dass er zum Scheitern verurteilt ist.
Besessen vom Tod und dem Bedürfnis, seinem eigenen Tod einen Sinn zu geben, vertieft sich Cyrus in die Welt des Märtyrer:innentums. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet er als Simulationspatient im örtlichen Universitätskrankenhaus, wo er für Medizinstudent:innen den leidenden Patienten spielt.
Das Thema Tod ist in Cyrus' Leben allgegenwärtig. Sein Interesse gilt dabei nicht nur denjenigen, die bereits gestorben sind, wie seine Mutter Roya, die zu den Opfern des von der US-Marine abgeschossenen Iran-Air-Fluges 655 gehörte, sondern auch den Lebenden, die dem Tod fast begegneten. Sein kriegsversehrter Onkel Arash verbrachte den Iran-Irak Krieg gezwungenermaßen im schwarzen Umhang auf einem schwarzen Pferd, um sterbenden Soldaten in ihren letzten Momenten tröstende Lügen zuzuflüstern. Als Cyrus von Orkideh, einer sterbenden iranischen Künstlerin, liest, die ihre letzten Tage in einem Museum verbrachte und ihr Sterbebett in eine Performance verwandelte, beschließt er, nach New York zu reisen, um sie für sein Buch zu interviewen.
Märtyrer:innentum und iranische Literatur
Der Stellenwert des Märtyrer:innentums in Cyrus Familiengeschichte spiegelt dessen Bedeutung im postrevolutionären Iran wider. Nach der Islamischen Revolution von 1979 und dem Ausbruch des Iran-Irak-Krieges von 1980 bis 1988 glorifizierte das Khomeini-Regime es, um junge Soldaten zu motivieren und Kriegshandlungen zu legitimieren. Die Literatur wurde zu einem entscheidenden Instrument für die Verbreitung dieser Ideologie.
Hierzu zählten primär pro-revolutionäre Erzählungen und Kriegslyrik, die die Opfer der jungen Kämpfer beschönigten und mystifizierten. Schriftsteller:innen, die sich diesen ideologischen Zwängen widersetzten, sei es, indem sie sich mit Themen wie Liebe und Erotik auseinandersetzten,und nicht von den regimenahen Symboliken Gebrauch machten, wurden ins Exil verbannt oder zum Schweigen gebracht. So auch im Fall von Said Sultanpour.
Die Historikerin Shaherzad Ahmadi hebt hervor, dass die Rekrutierung von Minderjährigen nicht nur durch religiöse Rhetorik, wie etwa Vergleiche mit dem Märtyrertod von Imam Hussein, sondern auch durch Klassendynamiken und konservative Männlichkeitsideale geprägt war. Bis ins Jahr 1984 erhielten Rekrutierungsoffiziere Prämien für die Anwerbung von Soldaten jeden Alters und die Familien gefallener Kämpfer wurden mit Renten und staatlichen Leistungen entschädigt. In Zeitungsartikeln wurde das Schlachtfeld mit einem „überirdischen Klassenzimmer" für Jungen gleichgesetzt, wodurch das Narrativ des Krieges als spirituelle und maskuline Pflicht verstärkt wurde. Das Regime veröffentlichte zudem selbst Literatur, darunter Berichte von trauernden Müttern. In diesen Veröffentlichungen schienen sie sich zu Beginn noch gegen die Einberufung ihrer Söhne zu wehren, wandelten dann aber ihren Blick auf den Krieg und stärkten einen positiven Blick auf das Narrativ des Märtyrer:innentums. Darüber hinaus zielte auch die Änderung von Straßennamen zur Ehrung junger Soldaten darauf ab das Märtyrer:innentum in der iranischen Kultur- und Stadtlandschaft zu verankern.
Die fragmentierte Struktur des Romans „Märtyrer!“ spiegelt den generationsübergreifenden Kreislauf des Märtyrer:innentums wider und bietet Einblicke in das Leben der Toten und der Lebenden, die von diesen Erzählungen geprägt sind – als Trauernde, als Überlebende, und auch als widerwillige Erben der Bürde des Märtyrer:innentums.
Das Märtyrer:innentum neu interpretieren
Was „Märtyrer!“ über die Handlung hinaus so fesselnd macht, ist die vielschichtige, sich ständig wandelnde Interpretation des Märtyrer:innentums. Cyrus stellt die Verherrlichung von Märtyrer:innen-Erzählungen fortlaufend in Frage und weist darauf hin, wie religiöse, politische oder persönliche Machtinstanzen individuelle Biografien formen. Sein Vater sagte ihm einmal als Kind, dass er entweder zu Gott oder zu seiner toten Mutter beten solle, wenn er traurig sei – schließlich gebe es da keinen Unterschied.
Cyrus lehnt die romantische Vorstellung vom Märtyrer:innentum ab und konzentriert sich stattdessen auf das verborgene, häufig übersehene Leid und die Bitterkeit derjenigen, die in die Rolle des Märtyrers oder der Märtyrerin gezwungen werden. Als Leser:innen lernen wir Cyrus als einen chaotischen und naiven Protagonisten kennen, der ständig an sich zweifelt. Im Verlauf der Handlung beginnen wir immer mehr mit ihm zu sympathisieren. „Märtyrer!“ ist erfrischend ehrlich und durchzogen von Humor auf Kosten des Protagonisten. Sein gutherziger bester Freund und Mitbewohner Zee nennt ihn wiederholt einen Narzissten – eine scherzhafte Beschreibung, die jedoch auch schmerzlich zutreffend ist.
„Märtyrer!“ – das Ausrufezeichen als Mittel der Ironie oder Unterstreichung
Das Ausrufezeichen in „Märtyrer!“ wirft Fragen auf. Ist es ein Mittel der Ironie, um Kritik an dem Phänomen des Märtyrer:innentums zu üben? Oder soll es die Dringlichkeit des Begriffs unterstreichen?
Im Kern hinterfragt „Märtyrer!“ die politischen Mechanismen, die hinter dem Konzept des Märtyrer:innentums stehen. Der Roman folgt der imperialen Gewalt der USA und anderen Staaten, die sich durch Cyrus' Leben zieht - angefangen bei seiner Mutter, der vielleicht ersten Märtyrerin in seinem Leben. Aber vor allem ist Cyrus von lebenden Märtyrer:innen besessen: Von seinem vom Krieg gezeichneten Onkel und der Künstlerin, die ihren Tod kreativ inszeniert - und von unserer eigenen Kompliz:innenschaft als Zeug:innen imperialer Gewalt.
Die Ehrlichkeit des Protagonisten in „Märtyrer!“ konfrontiert uns mit unserer eigenen pathetischen Suche nach einem tieferen Sinn. Akbar schreckt in seinem Debütroman jedoch nicht davor zurück, pathetisch zu wirken, sondern taucht in einen Ozean der Ironie, des Narzissmus und des Mitgefühls ein. Viele Kapitel beginnen mit Zeilen aus Cyrus' Dokument „BOOKOFMARTYRS.docx“, einer scheinbar endlosen Sammlung von Notizen zu verschiedensten Themen, inspiriert von Autor:innen aus aller Welt. Diese scheinbar zufälligen Notizen bilden den Rahmen der Erzählung, welche letztlich jedoch mehr Fragen aufwirft als Antworten zu geben.
Kaveh Akbar: Märtyrer!, Rowohlt Verlag, Hamburg 2025.