01.02.2019
Mythos „islamisches Mittelalter“
Ein Bild des Miniaturmalers Yaha al-Wasiti aus dem 13. Jahrhundert zeigt eine Bibliothek mit Studenten und ihrem Lehrer. Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Maqamat_hariri.jpg
Ein Bild des Miniaturmalers Yaha al-Wasiti aus dem 13. Jahrhundert zeigt eine Bibliothek mit Studenten und ihrem Lehrer. Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Maqamat_hariri.jpg

Auch mit seinem neuen Buch rüttelt der Islamwissenschafts-Professor Thomas Bauer an herkömmlichen Annahmen zur islamisch geprägten Welt. Anschaulich, nachvollziehbar und stringent legt Bauer dar, warum es kein islamisches Mittelalter gab. Ein Buch für fachlich Interessierte, Historiker’innen und Islamwissenschaftler*innen, rezensiert von Andreas Vogl

Dies ist ein Beitrag unserer Alsharq-Reihe Re:zension. Seit Mai 2018 stellen wir regelmäßig ein neu erschienenes Buch vor, das wir für besprechenswert halten. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

Professor Thomas Bauers neues Buch Warum es kein islamisches Mittelalter gab steht in der Tradition seines mehrfach ausgezeichneten Vorläufers Die Kultur der Ambiguität. Beide Werke stellen gekonnt weit verbreitete, falsche Grundannahmen über die islamisch geprägte Welt in Frage und richten sich aufgrund ihres leichten Schreibstils an ein breites Publikum. Aufgrund der Wichtigkeit seiner Forschungsergebnisse ist Bauer zu danken, dass er sich auch an Menschen außerhalb der Wissenschaft wendet.

Der problematische Begriff Mittelalter

Warum es kein islamisches Mittelalter gab ist ein gut strukturiertes Buch, welches auf gerade einmal 158 Seiten zuerst darlegt, warum es Unsinn ist, den Begriff Islamisches Mittelalter zu verwenden: er sei unpräzise, lasse Fehlschlüsse und Herabsetzung zu, exotisiere. Zudem habe er einen imperialen Beigeschmack und entbehre schlicht jeglicher sachlichen Grundlage. Seine Argumente untermalt Bauer hier mit Beispielen aus Medien und Wissenschaft. Als Beispiele nennt Bauer ein Cover des SPIEGELS von 1979 oder die Berichterstattung über IS.

Anschließend nimmt er seine Leser*innen an die Hand und führt sie durch ein ABC aus der „Sozial-, Alltags-, Wirtschafts-, Mentalitäts- und Sozialgeschichte“, um zu zeigen, dass es „im Mittleren Osten (Ägypten, Palästina, Syrien, Mesopotamien, Iran)“ keinen Transformationsprozess zwischen Antike und Mittelalter wie in Europa gab. Dazu ordnet er jedem Buchstaben Phänomen zu – „Von «Analphabetismus» bis «Ziffern»“.

Dabei plädiert Bauer dafür, sich auf eben solche kulturellen und sozialen Phänomene zu fokussieren, anstatt Epochen an Dynastiewechseln fest zu machen. Diese selektive und eher willkürliche Auswahl begründet Bauer damit, dass eine tiefgründige Untersuchung hier nicht durchgeführt werden kann. Nichtsdestotrotz wäre es wünschenswert, wenn Bauer oder ein*e Forscher*in einem solchen Unterfangen in Zukunft nachgeht.

Im dritten Kapitel greift Bauer auf wissenschaftliche Forschung zurück, die die Verwendung des Begriffs Mittelalter gänzlich in Frage stellt. Ein alternativer Begriff, so Bauer, müsse wertungsfrei sein, großräumig (im geografischen wie im kulturellen Sinne) gelten sowie zeigen, dass eine Epoche umfassend lebensprägend und ihre Veränderung endgültig und dauerhaft ist.

Eine neue Epochenzählung

Die Suche nach einem alternativen Begriff zum Mittelalter führt Bauer dann in die Sprachwissenschaft. Dort gibt es den Begriff der Isoglossen. Eine Isoglosse ist eine Linie, die beispielsweise zwischen Orten gezogen wird. Im einen Ort sagen die Leute beispielsweise „Bub“, im anderen „Bou“.

Analog dazu führt Bauer den Begriff Isoschem ein, welches die Grenze zwischen verschiedenen gesellschaftlichen, ideengeschichtlichen, kulturellen oder politischen Ausprägungen markiert. Ein Isoschem kann „die Einführung des Papiers als Schreibmaterial [...] oder das Ende der Vorstellung, dass die Obrigkeit von Gott eingesetzt ist“ sein. Um einen Dialekt von einem anderen abzugrenzen, verwenden Sprachwissenschaftler*innen ein Isoglossenbündel. Genauso plädiert Bauer dafür, ein Isoschemenbündel zu verwenden, wenn man von einem Epochenwechsel spricht.

Auf der Grundlage dieser Isoschemenbündel, seiner Analyse zum Zustand der islamisch geprägten Welt und inspiriert durch den Religionsprofessor Garth Fowden führt Bauer anschließend neue Epochengrenzen ein: „Die romano-graeco-iranische Antike geht um 250 n. Chr. in eine Spätantike über, die um 1050 großräumig in eine neue Epoche eintritt, welche wiederum bis etwa 1750 andauert, wobei diese Grenzen natürlich mit einem Spielraum von mindestens fünfzig Jahren zu verstehen sind.“

Die mittlere Epoche unterteilt Bauer noch in zwei Unterepochen, die um 1500 in einander übergehen. Sie nennt er erste/frühe und zweite/späte Neuzeit. Im 18. Jahrhundert beginnt dementsprechend schließlich die Moderne. All diese Epochen sollen für die Regionen zwischen Atlantik und Hindukusch gelten, da sich dieser Weltteil stets in etwa derselben Epoche befunden habe.

Buch hinterfragt bisheriges Geschichtsbild

Bauer gelingt es ein solch weites Thema anschaulich für ein breites Publikum darzulegen. Seine Argumentation ist schlüssig und leicht nachvollziehbar. Durch die Kürze kann das Buch nur an der Oberfläche des Themas kratzen, was durchaus als Schwäche interpretiert werden kann. Einer solchen Auffassung sei jedoch entgegengehalten, dass Bauer auf weiterführende Literatur verweist. Darunter finden sich Forschungsergebnisse aus der Geschichte, welche die Epochengrenze des Mittelalters bereits hinterfragt hat, sowie islamwissenschaftliche Literatur.

Durch sein kompaktes Buch macht Bauer ein wichtiges Thema zudem allen Interessierten zugänglich. Es ist unerlässlich, dem Narrativ des islamischen Mittelalters, welches in Analysen und Diskussionen inflationär verwendet wird, wissenschaftlich entgegenzutreten. Das Buch zeigt auf, warum es unsinnig ist, moderne Phänomene wie den Salafismus als eine Ideologie zu beschreiben, die zurück ins Mittelalter möchte. Zudem rüttelt es am Weltbild, welches Europa von Westasien und Nordafrika trennt und Europa als alleinigen Erben der Antike darstellt.

An dieser Stelle sei nur angemerkt, dass Leser*innen, die der wissenschaftlichen Umschrift des Arabischen nicht mächtig sind, beim Lesen des Buches an manchen Stellen Schwierigkeiten mit der Aussprache eines Wortes haben können. Für diesen Fall stellt Bauer allerdings eine Tabelle am Ende des Buches bereit. Für solche, die der Umschrift mächtig sind, ist es jedoch ein Genuss, sie in einem populärwissenschaftlichen Werk zu lesen. Es wäre wünschenswert, wenn sich noch mehr Wissenschaftler*innen der Herausforderung stellen würden, ihre Arbeit einem breiten Publikum zugänglich zu machen.

Andi hat im Bachelor Islamischer Orient und im Master Islamwissenschaft in Bamberg studiert. Auslandsaufenthalte im Jemen, in Iran, Ägypten und Tadschikistan. Seit Oktober 2018 promoviert er an  der BGSMCS in Berlin zur Nacktheit im Islam. Bei dis:orient ist er seit 2017 aktiv. Interessensschwerpunkte sind Korankommentare, der Körper im...
Redigiert von Brandie Podlech, Julia Nowecki