18.03.2022
Neue Chance für das Asylrecht
Die Grenzen der Europäischen Union scheinen in Folge des Ukrainekriegs plötzlich wieder offen zu stehen, aber für wen? Illustration: Zaide Kutay
Die Grenzen der Europäischen Union scheinen in Folge des Ukrainekriegs plötzlich wieder offen zu stehen, aber für wen? Illustration: Zaide Kutay

Die Solidarität mit ukrainischen Geflüchteten ist wichtig, offenbart aber rassistische Denkmuster im Umgang mit Geflüchteten aus anderen Ländern. Dennoch könnte der Ukrainekrieg EU-Migrationsdebatten positiv verändern, hofft Hannah El-Hitami.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Eigentlich sollte es genauso laufen: Menschen, die vor einem Krieg fliehen, dürfen am helllichten Tag auf sicheren Wegen Grenzen in sichere Staaten überqueren. Sie werden nicht von Grenzpolizist:innen angegriffen, werden nicht ihrer Habseligkeiten und Kleidung beraubt. Ihre Kinder erfrieren nicht in dunklen, kalten Wäldern, ertrinken nicht im Meer. Wer den Flüchtenden helfen möchte, kann mit seinem Auto zur Grenze fahren und sie abholen, ohne danach als Schlepper:in vor Gericht gestellt zu werden. Dort, wo die Geflüchteten ankommen, dürfen sie ohne bürokratische Hürden bleiben, können erst einmal durchatmen und überlegen, wie es weitergehen soll. Dass in ihrer Heimat Krieg herrscht, ist schlimm genug, doch jetzt sind sie erstmal in Sicherheit.

Eine Welle von Solidarität und Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtenden aus der Ukraine hat in den letzten Wochen Deutschland, die EU und viele andere Teile der Welt erfasst. Eigentlich schön, in dieser von Xenophobie und Anti-Flüchtlings-Narrativen geprägten politischen Ära zu sehen, wie Menschen einander in Krisensituationen helfen können.

Doch für viele schwang bei aller Solidarität ein ungutes Gefühl mit: dass die EU Schutzsuchenden aus einem europäischen Nachbarland alle Türen öffnet, während sie seit Jahren eine militärische und bürokratische Mauer um ihre Außengrenzen zieht, die es Geflüchteten aus  Ländern des globalen Südens nahezu unmöglich macht, Asyl in Europa zu beantragen. Dieses Vorgehen war von Anfang an rassistisch motiviert, und das hat der Kontrast zur aktuellen Lage umso deutlicher gemacht. Es ist wichtig, diese rassistischen Denkmuster und politischen Strategien zu benennen.

Aber können wir bestenfalls auch etwas Positives aus dem aktuellen Willkommenheißen ziehen? Seit den Jugoslawienkriegen war Westeuropa nicht mehr so unmittelbar und in einem solchen Ausmaß von Krieg und Flucht betroffen wie jetzt. Vielleicht kann die EU durch den Krieg in der Ukraine ihre Empathie für flüchtende Menschen neu entdecken, nach einem von Begriffen wie „Obergrenze“ und „Asyltourismus“ durchwachsenen Jahrzehnt. Vielleicht ist die Krise vor der eigenen Tür die letzte Rettung für ein Asylrecht, an das in den letzten Jahren kaum noch jemand zu glauben scheint.

Empathie nur für Netflix-Nutzer:innen?

Es bringt nichts, Leid gegeneinander aufzuwiegen, und es gibt kaum Schlimmeres als Opfergruppen gegeneinander auszuspielen. Wenn Menschen geholfen wird, ist das erst einmal gut und soll so weitergehen. Trotzdem ist es ehrlich gesagt ganz schön problematisch, dass viele Menschen so viel mehr Bereitschaft empfinden, Menschen zu helfen, die ihnen vermeintlich ähnlichsehen oder ähnlich leben wie sie. Es gab genügend Reporter:innen, die unreflektiert genug waren, öffentlich zu sagen, dass die Ukraine doch ein „zivilisiertes“ Land sei, dass die Menschen dort aussehen wie wir, der Mittelschicht angehören, Netflix und Instagram nutzen.

Vermutlich sind diese Aussagen nur die Spitze eines Eisbergs von Menschen im globalen Norden, die – wenn auch unterbewusst – glauben, dass für Menschen in Afghanistan oder Irak Krieg und Gewalt, Verlust und Angst weniger schlimm, weil sowieso normal, wären. Zu glauben, dass Syrer:innen, Iraker:innen oder Afghan:innen kein Instagram nutzen, nicht mit Autos rumfahren und keinen spießigen Mittelschichts-Lifestyle kennen, ist ignorant. Aber selbst wenn es so wäre: zu glauben, dass es weniger schlimm ist, wenn Menschen getötet oder vertrieben werden, die tatsächlich ganz anders leben als wir, ist realitätsfern, unmenschlich und rassistisch. Es ist schmerzhaft zu sehen, dass diese Denkweisen sich auch in reale Politik übersetzen.

Die EU schottet sich seit Jahren immer mehr ab. Dafür nimmt sie hin, dass Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze erfrieren oder im Mittelmeer ertrinken, arbeitet mit Staaten wie Libyen oder der Türkei zusammen, um zu verhindern, dass Flüchtende es jemals an ihre Grenzen schaffen. In den letzten Jahren hatte ich zunehmend den Eindruck, dass das Asylrecht, eigentlich ein Menschenrecht, kurz vor seiner Abschaffung steht. Wenn nicht per Gesetz, dann de facto, indem das Stellen eines Asylantrages auf EU-Boden physisch unmöglich gemacht wird. Und indem die Bewilligung eines dieser kaum erreichbaren Anträge noch dazu immer weniger Chancen auf Erfolg hat.

Hoffentlich vergessen wir das nicht

So bewundernswert die Empathie und Solidarität gegenüber Ukrainer:innen sind, so ist der offensichtliche Unwille, diese auf alle Menschen zu übertragen, zum Verzweifeln. Aber ganz pragmatisch gesehen könnte die Ukraine-Krise zu einem Umdenken führen. Vielleicht erinnert sie einige bisher angenehm abgeschottete Teile der Weltbevölkerung daran, wie wichtig es ist, dass Menschen Zuflucht finden. Vielleicht fühlen sie es, anstatt es nur theoretisch zu verstehen. Jedes positive Erlebnis, jede Erinnerung an solidarische Momente, verändert Menschen. Einen Krieg aus nächster Nähe zu beobachten, Kontakt zu den Geflüchteten zu haben, ihre Geschichten zu hören, ihre Aufnahme in der Gesellschaft zu erleben – das könnte dem Asylrecht wieder die gesellschaftliche Mehrheit geben, die es braucht, um zu überleben.

Auch politisch scheint plötzlich möglich zu sein, was all die letzten Jahre undenkbar schien. Hunderttausende sind innerhalb von wenigen Wochen ohne jegliche Einschränkungen in die EU eingereist. Sogar Polen, einer der Anti-Flüchtlings-Vorreiter der letzten Jahre, hat fast zwei Millionen Menschen aufgenommen. Ukrainer:innen, die jetzt in die EU einreisen, müssen nicht einmal Asyl beantragen, sondern dürfen durch die sogenannte „Massenzustromsrichtlinie“ unbürokratisch bis zu drei Jahre bleiben und eine Arbeit aufnehmen. Die Richtlinie entstand im Zuge der Jugoslawien-Kriege, wurde aber noch nie angewendet. Es wäre naiv zu glauben, dass sie bald für Geflüchtete aus aller Welt gelten könnte. Aber wir wissen jetzt zumindest, dass es sie gibt. Wir haben gesehen, dass es auch in kürzester Zeit politische Möglichkeiten und Lösungen gibt, wenn einWille da ist. Wir werden feststellen, davon bin ich überzeugt, dass nichts Schlimmes passiert, wenn viele Menschen kommen. Hoffentlich werden wir uns das merken, damit diese Angstmache als politisches Argument für die Zukunft schonmal entkräftet ist.

Zugegeben, es braucht eine Menge Optimismus, um der aktuellen Situation überhaupt etwas Positives abzugewinnen. Genauso gut könnte es sein, dass wir gerade die letzten Reste des Asylrechts, die politisch konformen, domestizierten Formen davon erleben, und in Zukunft dann gar nicht mehr; oder dass wir die Solidarität mit der Ukraine in ein paar Jahren auf dem Friedhof der Willkommenskulturen finden, wo auch das „Wir schaffen das“ von 2015 begraben ist. Eines aber steht fest: So wie der „große Fluchtsommer“ vor sieben Jahren einen Wendepunkt in der Migrationsdebatte Europas bedeutet hat, so wird auch die ukrainische Fluchtbewegung ein Wendepunkt sein. Bleibt abzuwarten, ob es dieses Mal eine Wende zugunsten des Asylrechts ist. Die nahezu einstimmige Hilfsbereitschaft, mit der sowohl Menschen als auch Regierungen gerade agieren, lässt zumindest leise darauf hoffen.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

Hannah El-Hitami, Jahrgang 1991, ist freie Journalistin in Berlin und schreibt vor allem über arabische Länder, Migration und koloniales Unrecht. Sie studierte Arabische Literatur und Kultur in Marburg und war Volontärin des Amnesty Journals. www.hannahelhitami.com/  
Redigiert von Johanna Luther, Sophie Romy