17.12.2020
Neue Verfassung für Syrien: Utopie, Dystopie oder pragmatische Lösung?
Das Büro der Vereinten Nationen in Genf. Foto: Pixabay
Das Büro der Vereinten Nationen in Genf. Foto: Pixabay

Vor zwei Wochen trat in Genf das Syrische Verfassungskomitee zum vierten Mal zusammen. Aber können die Verhandlungen zu einem friedlichen Syrien beitragen? Unter Umständen, die Frage ist nur, zu welchem Preis. Ein Kommentar von Vanessa Barisch.

Das Verfassungskomitee konstituierte sich 2019 unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen im Rahmen des Syrian Peace Process, der 2012 aufgenommen wurde. Neben dem Assad-Regime sind Vertreter*innen der politischen Opposition und der Zivilgesellschaft vertreten. Wie so oft bei Vermittlungsversuchen auf der Ebene der Weltgemeinschaft überschatten auch im Falle Syriens die Interessen anderer Staaten den Verhandlungsprozess. Besonders stark involviert ist Russland, welches durch den Erhalt des Assad-Regimes seinen Einfluss in der Region sichern will. Ebenso die Türkei, die neben ihrer Betroffenheit als Nachbarstaat, vor allem an der Eindämmung der kurdischen Autonomiebewegung interessiert ist. Beide waren zentrale Akteure bei der Konstituierung des Verfassungskomitees. Zusammen mit dem Iran bilden sie die im Syrian Peace Process einflussreiche Astana-Gruppe. Die USA spielen seit ihrem militärischen Rückzug eine geringere Rolle, ebenso wie die EU.

Rechtliche Grundlagen

Rechtliche Basis des Komitees ist die Resolution 2254 von 2015 des UN-Sicherheitsrates, die eine „Syrian-led and Syrian-owned political transition“ fordert. Diese politische Transformation sollte durch das Aushandeln einer landesweiten Waffenruhe, die Einrichtung einer Übergangsregierung aus Opposition und Regimevertreter*innen, der Ausarbeitung einer neuen Verfassung und letztendlich der Durchführung von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen realisiert werden. Bisher ist allerdings das Verfassungskomitee der einzige Schritt, der in diese Richtung wirklich unternommen wurde.

Im Herbst 2019 traf das Syrische Verfassungskomitee erstmals aufeinander. Das Komitee versammelte sich zum Auftakt in seiner großen Konstellation (large body) von 150 Mitgliedern. Im Folgenden trat jeweils nur der small body zusammen, insgesamt drei Mal, einschließlich des letzten Termins vom 30. November bis 4. Dezember diesen Jahres. Diese kleinere Konstellation, welche lediglich aus 45 Mitgliedern besteht, nimmt eine weitaus zentralere Rolle ein, denn dort soll sich auf die Inhalte der Verfassung geeinigt werden, während der large body nur für die Abstimmung der einzelnen Artikel wie die Verfassung als Ganzes zusammentritt.[1]

Intransparenz bei Zusammensetzung des Verfassungskomitees

Das Verfassungskomitee besteht aus drei Blöcken, die das Regime, die politische Opposition und die Zivilgesellschaft repräsentieren. Die Mitglieder wurden nicht wie etwa im tunesischen Verfassungsgebungsprozess von den Bürger*innen gewählt, sondern wurde von der syrischen politischen Elite und Staaten mit Interessen in Syrien bestimmt. Das Regime hatte komplett freie Hand bei der Auswahl seiner Abgeordneten.

Das Auswahlverfahren für die politische Opposition und die Zivilgesellschaft war hingegen komplexer:  Im Jahr 2015 auf der Syrien-Konferenz in Riad bildete sich das Syrische Verhandlungskomitee, das vor der UN als Vertreterin der syrischen politischen Opposition anerkannt ist. Allerdings ist das Verhandlungskomitee in sich sehr heterogen, sodass die Einigung auf gemeinsame Mitglieder für das Verfassungskomitee schwer war. Die Moskauer Plattform ist Russland-nah und eher kommunistisch ausgerichtet, die Kairoer Plattform vertritt konservative politische Werte und das ebenfalls kommunistisch geprägte Nationale Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel ist insofern bemerkenswert, als dass es im Gegensatz zu anderen Oppositionskräften teilweise in Syrien lebende Mitglieder hat und deswegen häufig als dem Regime verbunden betrachtet wird.

Die größte Gruppe des Oppositionsblocks stellt die Türkei-nahe Nationale Koalition der Syrischen Revolution und der Oppositionskräfte dar, die sich aus zahlreichen Parteien und Parteizusammenschlüssen zusammensetzt, unter anderem dem Parteienverband Kurdischer Nationalrat. Die weitaus größere und einflussreichere kurdische Partei, die Partei der Demokratischen Union, die als Autonome Selbstverwaltung den Nordwesten Syriens und somit fast ein Drittel des Landes kontrolliert, ist im Verfassungskomitee nicht vertreten. Abgesehen von den oppositionsinternen Konflikten um die Besetzung des Verfassungskomitees, schritten auch Russland und die Türkei in den Auswahlprozess ein und verhinderten zum Beispiel, dass  der syrisch-kurdische Politiker Hawas Sadoon den Kurdischen Nationalrat im Verfassungskomitee vertrat.

Der Auswahlprozess des Zivilgesellschaftsblock

Für den Zivilgesellschaftsblock war eine Einigung auf die Mitglieder des Komitees ebenfalls schwierig. Offiziell wurde diese Gruppe, die aus unabhängigen Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen besteht, direkt von den Vereinten Nationen ausgewählt. Tatsächlich erstellte die UN nur eine Vorschlagsliste und letztendlich einigten sich die Türkei, Russland und der Iran in der Astana Konferenz 2018 auf die Zusammensetzung des Zivilgesellschaftsblock, der in einen regime- und einen oppositionsnahen Teil unterteilt ist. Immerhin konnte durch die Bemühungen der UN im Zivilgesellschaftsblock die angestrebte Frauenquote von 30 Prozent mit 40 Prozent weiblichen Abgeordneten klar einhalten werden. Im Regime- und Oppositionsblock ist das nicht der Fall, sodass der Anteil von Frauen im Komitee insgesamt bei 26 Prozent liegt.[2] Innerhalb dieses Blocks gibt es einige nennenswerte Bemühungen, den bisher eher intransparenten Verfassungsprozess für die syrische Öffentlichkeit zugänglich zu machen, beispielsweise in Form von Webinaren. Außerdem halten viele Mitglieder des Zivilgesellschaftsblocks engen Kontakt mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und versuchen auch deren Interessen zu vertreten.

Einseite Themensetzung

Gegenstand der Verhandlungen war bisher vor allem die Definition einer syrischen Identität. Das Assad-Regime strebt an, das vorgeblich arabisch-muslimische Image der in Wirklichkeit religiös und ethnisch sehr diversen syrischen Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Dies betrifft einerseits den Landesnamen „Arabische Republik Syrien“ und spiegelt sich andererseits auch in Erwägungen über Minderheitenrechte oder der Auslegung des Staatsbürgerschafts-Begriffs wider. Ein anderes Thema, das die Mitglieder des Komitees bei der Zusammenkunft diesen Dezember diskutieren, ist die Frage, wie eine mögliche Rückkehr der Geflüchteten aussehen kann und welche Rahmenbedingungen hier geschaffen werden müssen.

Der Vorstoß zum Gegenstand der einzelnen Verhandlungsrunden kam bisher stets aus Regimekreisen und wurde zwischen dem Präsidenten des Regimeblocks, Ahmad Al-Kuzbari, und dem Präsidenten des Oppositionsblocks, Hedi Al-Bahra, unter dem Beisein des UN-Sondergesandten für Syrien, Geir Pedersen, vereinbart. Bei der Agendasetzung kam der Zivilgesellschaft bisher keine entscheidende Rolle zu, da sie über keine*n Präsident*in ihres Blockes verfügt.

Gerade die letzte Verhandlungsrunde war durch die Coronapandemie stark beeinträchtigt, da die Kontaktbeschränkungen die üblichen Meetings über die offiziellen Verhandlungen hinaus, wie abendliche Geschäftsessen, verhinderten, was Kommunikation zwischen den einzelnen Mitgliedern erschwerte. Das bedeutete einerseits weniger fachlichen Support, aber auch ein geringeres Maß an externer Einflussnahme.

Beschwerliche Fortschritte

Zwar bemühte sich die UN um eine Frauenquote, die allerdings im Regime- und im Oppositionsblock ignoriert wurde. Zudem sind alle leitenden Positionen, die beiden Co-Chairs und der Sondergesandte, Männer. Außerdem machen die Verhandlungen nur sehr schleppend Fortschritte. Nach vier Treffen ist das Komitee nicht über die Frage der syrischen Identität hinausgekommen. Das mag einerseits daran liegen, dass das syrische Regime selbst, das von vornherein schon schwierig an den Verhandlungstisch zu bekommen war, kein Interesse daran hat, sich auf tatsächliche Inhalte zu einigen. Moralisch gesehen ist die Teilnahme des Assad-Regimes, das unter Verdacht steht, Chemiewaffenangriffe gegen seine eigene Bevölkerung eingesetzt zu haben, untragbar.

Und die Syrer*innen selbst?

Diese Verfehlungen spiegeln sich auch in der Meinung der Syrer*innen selbst über den Verfassungsprozess wider: In einer Umfrage des oppositionsnahen Thinktanks The Day After geben 38 Prozent der Befragten an, den Grundgedanken des Verfassungskomitees und einer neuen Verfassung zu unterstützen, lehnen aber die Art und Weise wie es zustande kam ab. Nur 15 Prozent sehen darin eine nachhaltige Lösung für die syrische Problemlage. Des Weiteren haben 70 Prozent wenig bis keine Hoffnung, dass der Verfassungsprozess Erfolg haben wird. Der Hauptgrund dafür ist, dass weder das Regime, die Opposition noch die internationale Gemeinschaft die Verhandlungen ernst nehmen.  

Eine Chance

Dennoch ist das Syrische Verfassungskomitee eine Chance. Keine perfekte Chance, wie es die lange Liste an Verfehlungen zeigt, aber momentan die einzige Chance, dass verschiedene Stimmen die politische Zukunft des Landes mitbestimmen können. Auch wenn die Mitglieder nicht gewählt sind, bemühen sich im Zivilgesellschaftsblock viele Abgeordnete, die Transparenz des Prozesses zu erhöhen und zivilgesellschaftlichen Organisationen einzubinden, welche schlussendlich die Interessen der Syrer*innen in den Verfassungsprozess tragen könnten. Durch die Frauenquote ist zu hoffen, dass zumindest im Zivilgesellschaftsblock eine beachtliche Vertretung weiblicher Perspektiven und Interessen gewährleistet werden kann.

Zudem ist es im Rahmen der Verfassungskomitees erstmals gelungen, die Opposition und das Regime an einen Verhandlungstisch zu holen. Auch wenn moralisch gesehen Verhandlungen mit dem Regime schwer vertretbar sind, kann ohne das Regime allerdings nicht an einer Konfliktlösung gearbeitet werden, da es bei den Vereinten Nationen die offizielle Vertretung Syriens ist und unter dem Schutz Russlands steht. Deshalb stellen ernsthafte Verhandlungen zwischen der Opposition und dem syrischen Regime die Grundvoraussetzung für die Bearbeitung des Syrienkonfliktes dar. Das Verfassugskomitee bietet hier auch eine Plattform, um die Prinzipien für eine solche Konfliktlösung festzulegen. 

Letzten Endes ist das Verfassungskomitee nur ein Baustein für den Syrischen Friedensprozess, wie es auch die Resolution 2254 besagt. Als dieser bedeutet die Akzeptanz des Syrischen Verfassungskomitees viele Abstriche bezüglich demokratischer Ideale, da die Mitglieder nicht von den syrischen Bürger*innen in einem demokratischen Wahlprozess bestimmt wurden. Dennoch ist der Prozess eine Gelegenheit, auf längere Frist mehr Gewaltenteilung und Mitbestimmung für politische Entscheidungsprozesse in Syrien zu erreichen, denn bisher trifft das Assad-Regime alle politischen Entscheidungen im Alleingang. Beim Ausarbeiten dieser Verfassung haben nun aber auch andere politische Stimmen und zivilgesellschaftliche Vertreter*innen die Gelegenheit sich einzubringen und sich für demokratische Prinzipien in der Verfassung stark zu machen. Sollte sich das Verfassungskomitee hinsichtlich seiner Transparenz verbessern, könnte auch der Rückhalt in der Bevölkerung steigen.

Anstatt den Verfassungsprozess von vornherein als unzureichend zu verurteilen, ist es wichtig, sich vorher die Frage nach Alternativen zu stellen. Dennoch ist durch die erhebliche Einflussnahme internationaler Akteure, wie Russlands auf die Regime Seite und der Türkei in den Reihen der politischen Opposition, klar, dass das ursprüngliche Ziel der Resolution 2254,  ein „Syrian-owned and Syrian-led“ Verfassungsprozess, in weiter Ferne liegt.

 

[1] Assemburg, Muriel et al. (2018): Mission Impossible? The UN Mediation in Libya, Syria and Yemen

[2] Assemburg, Muriel et al. (2018): Mission Impossible? The UN Mediation in Libya, Syria and Yemen

 

 

Vanessa Barisch ist Koordinatorin des Liaison Offices der Philipps-Universität Marburg in Tunesien. Sie studierte Europastudien und Internationale Migration in Passau, Rom, Lissabon und Osnabrück. Ihre wissenschaftlichen und politischen Schwerpunkthemen sind vor allem Dekolonialisierung, Migration, Feminismus und Demokratie.
Redigiert von Ansar Jasmin, Henriette Raddatz, Eva Garcke