24.05.2023
„Niemand wird sich für uns einsetzen“ – Syrer:innen zur Türkeiwahl
Wahlkampf 2023: Im Vordergrund tanzen Menschen vor dem Stand der Yeşil Sol Partei. Im Hintergrund ist Kemal Kılıçdaroğlu auf einer Hauswand zu sehen. Foto: Kinan Alzouabi
Wahlkampf 2023: Im Vordergrund tanzen Menschen vor dem Stand der Yeşil Sol Partei. Im Hintergrund ist Kemal Kılıçdaroğlu auf einer Hauswand zu sehen. Foto: Kinan Alzouabi

Die türkische Bevölkerung wählt am 28. Mai einen neuen Präsidenten. Der erste Wahlgang zwischen Recep Tayyip Erdoğan (AKP) und Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) fiel knapp aus. Wie blicken Syrer:innen innen- und außenpolitisch auf diese Kandidaten?

Zu den Wahlen in der Türkei organisierte Adopt a Revolution zusammen mit Dis:orient am Freitag vor dem ersten Wahlgang am 14. Mai 2023 eine Paneldiskussion. Dr. Hilal Alkan, Forscherin am Zentrum Moderner Orient, Bassam Al-Ahmad von Syrians for Truth and Justice und ein Aktivist aus Nordsyrien, der anonym bleiben möchte, beleuchteten die beiden noch zu Wahl stehenden Kandidaten: Recep Tayyip Erdoğan der AKP und Kemal Kılıçdaroğlu, Chef der CHP und Kandidat der größten Oppositionsallianz. Die Panelist:innen diskutieren die Wahl unter dem Aspekt der Menschenrechte: Welcher Kandidat wäre die bessere Wahl für Syrer:innen innerhalb der Türkei und diejenigen in Nordsyrien?

Heute, zwischen den beiden Wahlgängen der Präsidentschaftswahl 2023 ist die Situation die folgende: Nachdem die Wahlen von Delegationen des OSZE, des Europarats und zusätzlich von internationalen unabhängigen Delegationen beobachtet worden sind, wurde das Wahlergebnis – und damit die Notwendigkeit einer zweiten Wahlrunde am 28. Mai – verkündet. Keiner der Kandidaten gewann im ersten Wahlgang über 50 Prozent der Stimmen, was für eine Direktwahl notwendig gewesen wäre. Entgegen den Vorwahlumfragen, die eine knappe Mehrheit beim Oppositionsbündnis sahen, lag Erdoğan fast fünf Prozent vor Kemal Kılıçdaroğlu. Sinan Ogan von der ultranationalistischen Ata-Allianz stand als dritter Kandidat zur Wahl und erhielt lediglich knapp über fünf Prozent der Stimmen. In der zweiten Runde, der Stichwahl, geht es jetzt darum, für wen die Ogan-Anhänger:innen sich im zweiten Wahlgang entscheiden – dabei ist wichtig, wem Ogan seine Stimme gibt. Die Oppositionsparteien CHP und die prokurdische HDP haben Unregelmäßigkeiten im Wahlvorgang beklagt. Doch was bedeutet das Wahlergebnis für Syrer:innen? 

Beliebtheit steigern durch Hetze gegen Syrer:innen

Dr. Hilal Alkan beschreibt die Wahlen als Dilemma für Syrer:innen. Der Gewinn des Oppositionsbündnisses unter Kılıçdaroğlu lässt nur deswegen Hoffnung durchschimmern, weil er eine Veränderung bedeuten würde. Diese Veränderung könnte besser sein als die bisherige Alleinherrschaft Erdoğans. Zumindest verspricht Kılıçdaroğlu die Abschaffung des Präsidialsystems und eine Rückkehr zum parlamentarischen System und der Entscheidung des europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Gefangenen Selahattin Demirtaş und Osman Kavala und andere Oppositionelle freizulassen, zu folgen. Damit möchte er der EU und den USA wieder näher kommen, ohne jedoch die bisherige Beziehung zur russischen Regierung zu ändern. Auch möchte er mit dem syrischen Präsidenten Assad ins Gespräch kommen um eine Rückführung der Syrer:innen nach Syrien zu verhandeln. 

Das breite Koalitionsbündnis Kılıçdaroğlus gibt also Anlass zur Hoffnung auf Wandel, spricht aber auch von einer Rückführung von Syrer:innen aus der Türkei. Kılıçdaroğlu strebt eine freiwillige Rückkehr innerhalb von zwei Jahren an. Damit gibt er ihnen weniger Zeit als Erdoğan. In der Türkei herrscht aufgrund der prekären wirtschaftlichen Lage und hoher Arbeitslosigkeit, zusätzlich zu einer rassistischen Überzeugung in Teilen der Bevölkerung, eine ablehnende Stimmung gegenüber geflüchteten Menschen. Alle drei Kandidaten, sowie rechtspopulistische Parteien, tragen den Wahlkampf auf dem Rücken der Syrer:innen aus. 

Bassam Al-Ahmad, Mitbegründer und Direktor der Organisation Syrians for Truth and Justice und Sprecher des Violations Documentation Center in Syria, bestätigt das Dilemma. Syrer:innen in Syrien sind gespaltener Meinung, wer nun die bessere Wahl sei. Bei der letzten Wahl 2018 galt Erdoğan als die bessere Option. Das hat sich geändert, denn Ende 2022 nahm Erdoğan zum ersten Mal seit über zehn Jahren wieder Gespräche mit Assad auf. Gegenstand der Verhandlungen ist die Rückführung von Syrer:innen nach Syrien, im Gegenzug erkennt Erdoğan Assad als Herrscher über Syrien an. Weiter geht es um territoriale Einigungen – auf Erdoğans Wunschliste steht die Eindämmung der kurdischen Selbstverwaltung, Assad ist daran interessiert, die nordwestliche Provinz Idlib zurückzuerlangen. Aus diesen Gründen ist die Entscheidung, welcher Kandidat das geringere Übel darstellt, nicht eindeutig:

 „Die Menschen im Nordosten Syriens haben große Angst vor einem Wahlsieg der AKP […], denn sie hat mehrere militärische Operationen in Syrien durchgeführt […]. Gleichermaßen haben die syrischen Geflüchteten Angst vor einem Wahlsieg der Opposition […], weil sie öffentlich angekündigt hat die Beziehungen mit Assad-Regime wieder aufzunehmen“, sagt Bassam Al-Ahmad in einem Videostatement.

Präsidentenwechsel: Hoffnung auf ein Ende der Aggressionen in Nordost-Syrien?

Der dritte Panelist, ein Aktivist aus der Region um Aleppo, bestätigt den Unterschied zu den letzten Wahlen, bei denen ein größeres Gefühl der Sicherheit der AKP gegenüber herrschte. Seitdem erweiterte Erdoğan seinen Machtbereich in der Türkei, mit dem Abbau der parlamentarischen Demokratie hin zum Präsidialsystem, und in Syrien, mit Verhandlungen aber auch Agressionen. Seit der Militäroperation „Schutzschild Euphrat“ von August 2016 bis März 2017 liegt die Region westlich des Flusses Euphrats unter türkischer Kontrolle. Dies hat Einfluss auf Gesundheitswesen, Bildung und Wirtschaft, ist aber im direkten Alltag mittlerweile weniger durch Checkpoints und Soldaten fühlbar.  Diese haben sich seit Anfang der Corona-Pandemie langsam zurückgezogen. 

Die Menschen in Nordost-Syrien sehen in dem möglichen Präsidentenwechsel eine Hoffnung auf das Ende der Aggressionen. Unter der fünf Jahre andauernden türkischen Besetzung entstand eine lange Liste von systematischen Aggressionen gegen die Zivilbevölkerung des Afrin-Distrikts. Zuletzt schossen militärische Gruppen – darunter die von der Türkei unterstützte Syrische Nationale Armee (SNA) – im März 2023 in der Stadt Dschindires im Afrin-Distrikt auf eine kurdische Familie, die das Newroz-Fest feierte. 

Ein einschneidendes Ereignis für Syrer:innen auf beiden Seiten der Grenze war das Erdbeben am 6. Februar 2023. Viele Syrer:innen kehren seit dem Erdbeben und aufgrund seiner Folgen zurück in die Region um Aleppo, obwohl es hier nicht einmal genug gibt, um minimale Lebensstandards zu ermöglichen. Um fünf Zelte aufzutreiben, brauche man beispielsweise einen ganzen Tag, sagt der Aktivist auf der Veranstaltung. Aleppo und die umliegende Region waren stark vom Erdbeben betroffen. Die bereits durch den Bürger:innenkrieg seit 2011 prekäre Lebenssituation hat sich für die Menschen durch das Erdbeben weiter verschlimmert.

Blick in die Zukunft

Wenn wir also aus Sicht der Syrer:innen auf diese Wahl schauen, dann ist keine klar bessere Option erkennbar. Keine der politischen Parteien sieht den Schutz dieser Menschen vor. 

Geflüchtete Syrer:innen innerhalb der Türkei sollen abgeschoben werden, nach Syrien, das zum Großteil unter der Kontrolle des gewalttätigen Assad-Regimes und ansonsten unter türkischer und russischer Kontrolle steht. Die kurdische Selbstverwaltungszone im Norden und Nordosten des Landes erlebt regelmäßige Angriffe auf ihr Gebiet, zum Beispiel in den Städten Kobanê, Dirbesiye, Zirgan und in der Region Dêrik

Angesichts der Ausweitung der Beziehung der Türkei zum Assad-Regime betont Bassam Al-Ahmad zum Schluss, es sei wichtig, dass Deutschland und die EU nicht bei der Normalisierung mitziehen. Er fordert: keine Deals mit Assad abschließen und weiterhin Druck auf jene Regierungen ausüben, die wieder politische oder wirtschaftliche Beziehungen mit Assad eingehen. Das sei das Mindeste. Außerdem müssten die Sanktionen gegen Syrien gezielter die Verantwortlichen des Regimes treffen, um effektiv zu sein, und nicht die Zivilbevölkerung, wie es bisher der Fall ist. „Wir brauchen Schutz und dürfen nicht unserem Schicksal überlassen werden”, appelliert er. Das heißt auch, dass Rechte von Asylsuchenden in Deutschland nicht beschnitten, sondern gefördert werden müssen.

Syrer:innen in der Türkei und in Syrien bleibt also nur eine Abwägung des geringeren Übels. Sie blicken mit Angst auf den Ausgang der Wahlen, denn ein Schreckensszenario droht Realität zu werden: dass Ankara wieder Beziehungen zum Assad-Regime aufnimmt mit der Absicht geflüchtete Syrer:innen massenhaft nach Syrien abzuschieben.

Eine von Adopt A Revolution zitierte Stimme aus Afrin fasst die Situation zusammen: „Leider ist unser Schicksal unweigerlich mit den Wahlen in der Türkei verbunden. Und uns allen ist auch klar: Niemand wird sich für uns einsetzen, alle Parteien verfolgen nur ihre eigenen machtpolitischen Interessen.”

 

 

Regina hat Kulturwissenschaften in Frankfurt Oder studiert, mit den Schwerpunkten Linguistik und Sozialwissenschaften. 2023 fängt sie ihren Master in European Studies an. Im Magazin von Dis:orient ist sie seit Dezember 2022 aktiv und  übernimmt 2023 die Zweitkoordination der Kolumne.
Redigiert von Clara Taxis, Claire DT