28.07.2023
„Die Siedler:innen und wir sind vor dem Gesetz nicht gleichgestellt”
Die Handlungs- und Bewegungsfreiheit der Palästinenser:innen sind in Hebron sehr stark eingeschränkt. Grafik: Claire DT/KI
Die Handlungs- und Bewegungsfreiheit der Palästinenser:innen sind in Hebron sehr stark eingeschränkt. Grafik: Claire DT/KI

Geschichte und Geografie spielen eine große Rolle in der Stadt Hebron, die auch als israelisch-palästinensischer Brennpunkt bekannt ist. Folge Izzat Karaki, einem palästinensischen Aktivisten von Youth Against Settlements (YAS) durch die Innenstadt.

Hebron ist eine der ältesten bewohnten Städte der Welt. Sie ist die zweitgrößte Stadt im Westjordanland und sein wirtschaftliches Zentrum mit vielen Werkstätten. Hier gibt es viele Märkte, drei Universitäten und eine Hochschule. Die Einzigartigkeit von Hebron beruht jedoch auf etwas anderem: Hebron ist die einzige Stadt im Westjordanland, in deren Mitte sich jüdische Siedlungen und Siedler:innen befinden.

Hebron geteilt. Karte: B'tselem

Amnesty International und andere NGOs ordnen Israels Besatzungs- und Kolonisierungsregime im Westjordanland als Apartheid ein. Im diesem Text kommen Begriffe wie Apartheid, Kolonialismus und Kolonisierung vor. Dazu haben wir hier genau solche Begriffe nochmal deutlicher erklärt.

„1997 wurde meine Stadt durch ein Abkommen zwischen der PLO und der israelischen Regierung in zwei Teile geteilt: H1 und H2. H1 macht 80 Prozent der Stadt aus und steht unter palästinensischer Verwaltung, H2 macht 20 Prozent aus und steht unter israelischer Militärkontrolle”, sagt Izzat. Er erklärt, dass das H1-Gebiet vollständig palästinensisch ist, während im H2-Gebiet Palästinenser:innen und Siedler:innen leben. „Jedoch sind die Siedler:innen und wir vor dem Gesetz nicht gleichgestellt”, macht Izzat deutlich. „Ich als Palästinenser stehe unter israelischem Militärrecht und die israelischen Siedler:innen unter israelischem Zivilrecht. Das bedeutet, dass ich als Palästinenser immer schuldig bin, bis meine Unschuld bewiesen ist, aber die Siedler:innen sind unschuldig, bis ihre Schuld bewiesen ist”. Letzteres kommt nie vor.

Der Stadtrundgang geht durch die alte Innenstadt, die sich im H2-Gebiet befindet. Wir müssen mehrere Checkpoints durchqueren: die IDF fragt nach meinem Reisepass und Izzats grünem Personalausweis. Wir begegnen auf unserem Weg bewaffneten IDF-Soldat:innen, jüdischen Siedler:innen, Tourist:innen und palästinensischen Kindern und Geschäftsleuten.

Erster Teil: Die Siedlungen

In Hebron gibt es vier ältere Siedlungen: Kiryat Arba wurde nach dem Krieg von 1967 gegründet. Am Rande der Stadt gelegen, ist sie mit rund 8.500 Siedler:innen eine der größten Siedlungen Hebrons. Die anderen drei befinden sich im Zentrum. Zu ihnen gehört die 1979 gegründete Siedlung Beit Hadassah.

Die beiden anderen wurden Anfang der 1980er-Jahre gegründet. „Beit Romano war früher eine Schule namens Osama Ben Munqez, mein Vater ging dort hin, als er jünger war”, erinnert sich Izzat. „Nach der israelischen Besetzung 1981, wurde das Gebäude in eine Jeschiwa-Schule umgewandelt.” Die Siedlung Avraham Avinu befindet sich mitten in der Altstadt. Seit über 40 Jahren besetzen und bewohnen Siedler:innen die palästinensischen Häuser oberhalb des Marktplatzes. Es ist ein enges Zusammenleben: Zwei Scharfschützen sind rund um die Uhr auf den benachbarten palästinensischen Dächern postiert - angeblich zum allgemeinen Schutz. Für den Müll, die Säure und den Urin, mit der Siedler:innen die Marktstraße verschmutzen, auf der Palästinenser:innen einkaufen, spazieren gehen, verkaufen und Zeit verbringen, wird hingegen niemand zur Rechenschaft gezogen. „Diese Scharfschützen sind nur dazu da, die Siedler:innen vor Palästinenser:innen zu schützen, aber wenn wir angegriffen werden, passiert nie etwas. Niemand schützt uns Palästinenser:innen vor der Gewalt der Siedler:innen”, erklärt Izzat. Ihm zufolge liegt das daran, dass „Siedler:innen und Soldat:innen, die ins Westjordanland kommen dieselbe Ideologie verbindet.” Viele Soldat:innen werden selbst zu Siedler:innen und würden sich niemals gegeneinander stellen.

Eine israelische Siedlung direkt über einer Marktstraße in der Altstadt von Hebron. Palästinenser:innen mussten Gitter aufstellen, um sich vor dem Müll zu schützen, den die Siedler:innen auf sie werfen. Foto: Izzat Karaki

Die letzte Siedlung ist diejenige hinter dem YAS-Haus in Tel Rumeidah. „Zuerst wurde es zu einem israelischen Militärstützpunkt, dann kamen die Siedler:innen dazu”, sagt der YAS-Aktivist. „Das ist eine ihrer Techniken: Sie besetzen das Land, angeblich aus Sicherheitsgründen, militarisieren es und bringen dann Zivilist:innen hinein, die zu Siedler:innen werden. Jetzt haben wir hinter unserem Haus eine große Siedlung, sie nennen sie Ramat Yeshai.” 

Alle Gebäude, die von Siedler:innen genutzt und bewohnt werden, waren früher palästinensische Orte des öffentlichen Lebens - Schulen, Krankenhäuser, Hotels.

Die Siedlungen, die sich auf palästinensischem Boden immer weiter ausdehnen, sind nach internationalem Recht illegal. Letztlich verfolgen die Siedler:innen das übergeordnete Ziel, alle Palästinenser:innen von ihrem Land und aus ihrer Stadt zu vertreiben, um die Siedlungen miteinander verbinden und so eine israelische Siedler:innenstadt mitten in Palästina schaffen zu können. Neben der Militarisierung der Gebiete und Einschleusung von Siedler:innen, finden auch Hausbesetzungen statt (Zionist:innen übernachten in Hotels und weigern sich diese wieder zu verlassen), wobei sie von israelischen Soldaten unterstützt werden sowie durch strategische Straßensperrungen. Dies macht das Leben der Palästinenser:innen zunehmend unerträglich: Siedler:innengewalt, IDF-Gewalt, Wasser- und Stromknappheit, Massenüberwachung, keine Bewegungsfreiheit, keine Krankenhäuser, keine Durchfahrt für Krankenwagen, nicht genügend Schulen und Kindergärten.

Die Israelis planen den Bau von immer mehr Siedlungen in der Altstadt von Hebron. Die Shuhada-Straße ist ihr neuestes Projekt und die fünfte Siedlung in Hebron (auf der Karte oben türkis eingekreist). „Sie haben dort eine neue Siedlung auf dem Gebiet der Stadt Hebron gebaut, ohne zu fragen, ohne zu bezahlen, ohne auch nur irgendetwas zu beachten. Sie werden immer mehr wollen und deshalb mehr besetzen, mehr Raum von den Palästinenser:innen abschneiden, um immer mehr Siedler:innen anzusiedeln.”

Zweiter Teil: Die Shuhada-Straße

„Früher war sie eine der wichtigsten Straßen in Hebron, sie war das Herz der Stadt. Heute ist sie komplett geschlossen, völlig leer”, erklärt Izzat. Sie ist ein weiteres Beispiel für die Segregation in Hebron: Palästinenser:innen haben keinen Zugang mehr zu dieser Straße, alle anderen hingegen schon, seien es Israelis, Siedler:innen, Tourist:innen oder Soldat:innen. Izzat erinnert sich: „Früher hingen palästinensische Flaggen auf der Straße und flatterten im Wind, aber inzwischen sind nur noch israelische Flaggen zu sehen.” Palästinensische Flaggen sind in Hebron per israelischem Gesetz verboten und das Hissen einer solchen ist strafbar. „Wenn man die Stadt betritt, merkt man nicht, dass es Palästina ist, man merkt nicht, dass hier Palästinenser:innen leben.”

Die Shuhada-Straße, das Herz der Stadt, verband früher den Norden und den Süden von Hebron, ist aber seit ihrer Schließung im Jahr 1994 zu einer Geisterstraße geworden. Den Einheimischen ist es untersagt, die Straße zu benutzen, sogar, um zu ihren Geschäften oder Wohnungen zu gelangen. Mehr als 1.800 Geschäfte und über 1.000 palästinensische Wohnungen stehen leer. Izzat erinnert sich: „Unser ganzes Leben spielte sich hier ab, und jetzt dürfen wir nicht einmal mehr die Straße betreten. Früher gab es hier Läden für Gold, Joghurt, Obst und Gemüse, einen Kamel- und einen Hühnermarkt und so vieles mehr. Ich erinnere mich gut an meine Kindheit: Nach der Schule und dem Mittagessen ging ich stets auf den Hühnermarkt. Ich liebte Tiere!” 

„Der Goldmarkt war früher der schönste von allen. Jetzt ist er die private Mülldeponie der Siedler:innen. Sie werfen ihren ganzen Müll dorthin und niemand hält sie davon ab. Früher gab es dort 50 Stände und Geschäfte, aber sie wurden auf Befehl des Militärs geschlossen. Zugang haben wir dazu keinen mehr.” Palästinenser:innen riskieren es, verhaftet oder sogar erschossen zu werden, wenn sie versuchen, das Gebiet zu betreten, um die Straßen zu reinigen.

Izzat steht vor dem jetzt geschlossenen Goldmarkt, wo die Siedler:innen ihren Müll abladen. Foto: Izzat Karaki

„Diese paar hundert Siedler:innen haben mehr Rechte als wir und bekommen alles was sie brauchen. Eine Organisation namens Hebron Fund mit Sitz in Brooklyn, New York übernimmt alle Kosten für Wasser und Strom, Wohneinheiten, Gesundheitsfürsorge, Bildung und Transport. Im Laufe der Zeit haben sie Millionen und Abermillionen speziell für die jüdischen Siedler:innen in Hebron gesammelt”, sagt Izzat. 

Foto links: Checkpoint, durch den die Palästinenser:innen der H2-Zone täglich gehen müssen. Foto rechts: eine der vielen israelischen Überwachungskameras an Gebäuden in der H2-Zone. Fotos: Izzat KarakiDie Shuhada-Straße liegt in der H2-Zone der Stadt, wo einige hundert Siedler:innen zwischen 35 000 Palästinenser:innen leben. Sie macht nur einen Quadratkilometer aus, aber es gibt fast zwei Dutzend Kontrollpunkte, mehr als 100 Bewegungsbarrieren und Wachtürme mit Kameras. „Für uns ist es hier nicht sicher, aber wir haben eine Mission: in Hebron zu bleiben, um dieses Land, diese Häuser, diese Geschäfte vor den Israelis und den Siedler:innen zu schützen. Unsere einzige Möglichkeit des Widerstands ist es zu bleiben.”

Dritter Teil: Ibrahimi-Moschee

Die Moschee gilt im Judentum und im Islam als heilige Stätte. Sie wird auch als Grab der Patriarchen bezeichnet und soll der Ort sein, an dem Abraham, Isaak, Jakob und ihre Frauen Sarah, Rebekka und Lea begraben sind. In herodianischer Zeit wurde über der Höhle, in der sich die Gräber befinden sollen, eine rechteckige Umfassungsmauer errichtet. Darüber wurde eine byzantinische Basilika erbaut; nach der muslimischen Eroberung blieb sie jahrhundertelang eine Moschee; mit einer kurzen Unterbrechung durch die Kreuzzüge. Seit 1994 umgibt sie ein Hauch von israelischem Kolonialismus.

Die Ibrahimi-Moschee. Foto: Claire DTAm 25. Februar 1994, während des Ramadan, betrat der israelisch-amerikanische Staatsbürger Baruch Goldstein während der Gebetszeit die Ibrahimi-Moschee und eröffnete ein Feuer auf die dort anwesenden Muslime. Dabei ermordete er 29 Palästinenser und verletzte über 150 weitere. Auf das Massaker folgten Zusammenstöße in ganz Palästina, die drei Tage andauerten und weitere sechs Menschen kamen in Hebron ums Leben. Goldstein wurde von Überlebenden getötet und konnte nicht bestraft werden. Die an den Zusammenstößen beteiligten Soldat:innen der israelischen Verteidigungskräfte (IDF; in Palästina gemeinhin als israelische Besatzungstruppen bezeichnet, IOF) wurden nicht zur Verantwortung gezogen. Stattdessen wurde die Moschee von den IDF geschlossen und in zwei Teile geteilt: einen als Synagoge für die Siedler:innen, die 60 Prozent des Gebäudes ausmacht, und einen als Moschee für die Palästinenser:innen. Izzat fügt hinzu, dass infolge des Massakers an der Ibrahimi-Moschee im Jahr 1994 nicht nur die Moschee, sondern auch die Shuhada-Straße, die Geschäfte und ganze palästinensische Stadtteile für Palästinenser:innen geschlossen wurden. „Sie haben uns, die Opfer, bestraft.”

„Als Palästinenser habe ich keinen Zugang zum Teil der Moschee, der in eine Synagoge umgewandelt wurde", erklärt Izzat. Im Rahmen eines Abkommens aus dem Jahr 1996 ist das gesamte Gebäude für Palästinenser:innen an zehn Tagen im Jahr wegen jüdischer Feiertage geschlossen; an anderen zehn Tagen im Jahr können Palästinenser:innen das gesamte Gebäude betreten. „Aber leider respektieren die Israelis und Siedler:innen unsere Moschee nicht, sie feiern, tanzen, spielen laute Musik und trinken Alkohol im Inneren der Moschee. Es ist ihnen egal, dass das Gebäude ein heiliger Ort für Muslime ist.”

 

 

Claire hat einen Bachelor in Geschichte, Politik und Soziologie und einen Master in Internationalen Studien. Ihre akademischen Schwerpunkte sind Grundrechte in Demokratien und der israelisch-palästinensische Konflikt. 
Redigiert von Hanna Fecht, Hannah Jagemast
Übersetzt von Claire DT