13.04.2015
Palästina kommt ins Rollen: Junge Skater schaffen neue soziale Räume
Sajeh Abu-Ulbeh, Gründer des Skate-Team X-Games, im Skatepark in Qalqiliya. Photo: Jan Hennies
Sajeh Abu-Ulbeh, Gründer des Skate-Team X-Games, im Skatepark in Qalqiliya. Photo: Jan Hennies

Gewalt ist allgegenwärtig, Orte für Spiel und Freizeit sind rar: Im abgeriegelten Westjordanland wachsen Jugendliche unter schwierigen Bedingungen auf. Junge Skater beginnen, rollend zu rebellieren. Und nutzen ungeahnte Freiräume, berichtet Jan Hennies.

„Mein Ziel? Wenn irgendwo in Palästina Skateboarden erwähnt wird, sollen die Leute es mit meinem Namen verbinden!“, erklärt Adham Tamimi lächelnd. Der 18-jährige Palästinenser sitzt in einem Café in Ramallah vor seinem fast leeren Bier und sinniert: „Ramallah hat eine Menge guter Skate-Spots. Und wir sind wahrscheinlich eines der wenigen Länder, die noch keine Gesetze gegen Skateboarder haben.“

Der Nachteil: Meistens skatet Adham alleine, denn eine ausgeprägte Szene gibt es in der Stadt noch nicht. Und sein bester Skate-Kumpel ist derzeit verhindert: Aram Sabbah, 17 Jahre alt, kommt auf Krücken zum Interview gehumpelt. Skate-Verletzung? „Letzte Woche wurde mir auf einer Demo ins Bein geschossen“, berichtet er nüchtern. Die Kugel blieb im Oberschenkel stecken, die nächsten Monate wird sein Skateboard zu Hause bleiben. Zum zweiten Mal. Erst im Juli 2014 hatte die Kugel eines M-16-Gewehrs während eines Protestes gegen die israelische Gaza-Offensive beim Qalandiya-Checkpoint nahe Ramallah sein Knie durchschlagen.

Eine Geschichte über das Leben von jungen Palästinensern im Westjordanland und die Anfänge einer lokalen Skate-Szene ist zwangsläufig auch eine Geschichte über das Aufwachsen unter militärischer Besatzung.

Fast 40 Prozent der Bevölkerung im von Israel abgesperrten Westjordanland ist jünger als 15 Jahre alt. Laut einem Bericht des UN-Kinderhilfswerks UNICEF von 2011 über die psychosoziale Entwicklung von Kindern in den besetzten palästinensischen Gebieten, sind diese insbesondere „dem Eindringen von Militär, politischer Gewalt, Hauszerstörungen, Vertreibung und Hausdurchsuchungen ausgesetzt“.

Kinder und Jugendliche gehen mit diesem Druck unterschiedlich um. Doch für Ali Nobani, Psychologe und Leiter der Organisation Human Supporters, die in der Stadt Nablus mit traumatisierten Kindern arbeitet, ist klar: „Ein Teil des Kindseins ist es, zu spielen und glücklich zu sein. Wir brauchen mehr Orte, an denen Kinder das können.“

Ein großer Verfechter des Spielens ist auch Sajeh Abu-Ulbeh, der in der kleinen Stadt Qalqiliya das Skate-Team X-Games gegründet hat. 1995 hatte sein Vater ihm Inlineskates mitgebracht. Bald schon träumte der heute über 30-Jährige von einer Minirampe. Doch fast alle, die anfangs seine Begeisterung teilten, hörten schnell auf, um sich „ihrer Zukunft“ zu widmen. „Auch ich denke an meine Zukunft, aber das hier ist mein Sport“, erzählt Sajeh.

Mit seinen langen schwarzen Dreadlocks fällt der gelernte Friseur in der heute von der israelischen Sperranlage fast komplett umringten Stadt sofort auf. Irgendwann hatte er eine leerstehende Halle angemietet und in ihr einen notdürftigen Skatepark gegründet. „Als ich die Halle eröffnet hatte, kamen sie alle: junge Leute, die Parcours machen, Graffiti sprühen, beatboxen und rappen“, erinnert er sich. Das X-Games-Team war gegründet und Sajeh hatte durch seine Liebe zum Skaten einen neuen sozialen Raum für Jugendliche geschaffen.

 Jan Hennies Sajeh Abu-Ulbeh auf „seiner“ Rampe in Qalqiliya. Foto: Jan Hennies

 

Per Crowdfunding zum Skatepark

Adham Tamimi begann das Boarden, als er auf dem Weg zu einer Dabke-Stunde, dem traditionellen regionalen Tanz, einen US-Amerikaner durch die Straßen Ramallahs skaten sah. „Ich habe ihn gefragt, ob ich auch mal darf, und bin direkt gestürzt. Am nächsten Tag habe ich mir mein eigenes Skateboard gekauft“, erinnert er sich. „Dann fing auch mein Kumpel Aram an und nach einer Weile hörten wir von Charlie. Das war 2012.“

Der Schotte Charlie Davis hatte nach seinem Arabischstudium und weil er unter palästinensischen Kindern mit seinem Skateboard so viel Begeisterung hervorrief, die Organisation SkatePal gegründet, während er in Jenin Englisch unterrichtete. Zusammen mit anderen Freiwilligen begann er, in Ramallah Skatekurse zu geben und stieß auf große Nachfrage bei den Kindern. Per Crowdfunding sammelte er daraufhin 15 000 Pfund (rund 20 500 Euro), um professionelle Skateparks im Westjordanland zu bauen.

Adham und Aram waren von Anfang an begeistert: „Charlie wollte uns dabeihaben, weil wir von hier sind und uns auskennen“, erzählt Adham. Auch sie fingen an, Skatekurse zu geben – seit vergangenem Sommer dank SkatePal auf der neuen Minirampe im Hof des Islamischen Zentrums Ramallah. „Manchmal haben wir bis zu 60 Kinder in unseren Klassen“, berichten sie, „und auf zehn Jungen kommen immerhin zwei Mädchen.“ Aram fügt hinzu: „Anfangs hielt man uns wegen des Skatens für komisch. Inzwischen haben wir mehr Aufmerksamkeit und alle Kinder wollen ein Board wegen Adham und Aram!“

 Jan Hennies Ein Ort für alle, die Parcours machen, Graffiti sprühen, beatboxen und rappen. Photo: Jan Hennies

 

Doch nicht überall sind die Ausgangsbedingungen gut. Die kreative Gruppe rund um Sajeh in Qalqiliya hatte es anfangs schwerer. In der konservativen kleinen Gemeinde Qalqiliyas gab es kaum Unterstützung für ihr Projekt. „Nach drei Monaten musste ich die Skatehalle wegen der hohen Miete wieder zumachen“, berichtet Sajeh, während er auf seinem Smartphone Videos von Übungen und Tricks zeigt. Junge Menschen wirbeln auf Inlinern, Boards oder rennend durch die Luft. Doch von dem Rückschlag hat sich niemand entmutigen lassen. „Wir sind jetzt das X-Games-Team,“ sagt Sajeh, „dann gehen wir eben auf die Straße!“ Skaten, Hip-Hop, Beatbox – „die Leuten hielten uns für verrückt und sogar die Polizei kam,“ erinnert er sich lächelnd.

Doch das Team hielt Stand und erlangte langsam aber stetig die Toleranz ihres Umfelds. Aber erst als Sajeh durch Zufall an den Filmemacher Adam Abel aus New York geriet, wurde sein Jugendtraum von einer Rampe in Qalqiliya wahr. Denn Adam war von den X-Games sofort begeistert und drehte mit seinem Kollegen Mohamed Othman einen Trailer für eine spätere Dokumentation des Projekts. „Der Trailer wurde sofort berühmt“, erzählt Sajeh weiter. „Und plötzlich wollte uns die Organisation Tashkeel aus Dubai helfen.“ Die Kunst- und Kulturorganisation stellte Mittel zur Verfügung und in einer internationalen Zusammenarbeit von professionellen Skatern, Adam und Mohamed sowie den Mitgliedern der X-Games entstand eine Rampe aus den besten Materialien.

Die Einweihung übernahm der Bürgermeister Qalqiliyas persönlich, bald soll der Film „Qalqiliya“ von Adam und Mohamed erscheinen. Die X-Games haben einen neuen Treffpunkt. Direkt neben dem örtlichen Zoo lernen die jungen Skater und Parcours-Akrobaten das Fliegen. Graffiti zieren die Wände.

 Jan Hennies Eihab Taha beim Parcour. Foto: Jan Hennies

 

Skaten statt Steine werfen?

Aram und Adham kennen das X-Games-Team. „Wir sind Freunde“, erzählen sie und planen ihre Zukunft. Adham wird demnächst ein Studium in Washington D.C. beginnen. Aram denkt darüber nach, in Ramallah einen Skateshop zu eröffnen, um die Szene weiter voranzutreiben. Mit SkatePal wollen sie im Sommer 2015 einen weiteren Skatepark in Nablus aufbauen, danach soll sich der Sport selbst erhalten.

SkatePals Ziel ist es, in vier bis fünf Jahren überflüssig zu sein“, erklärt Adham das Konzept. „Wir, die lokalen Skater, müssen die Szene dann weiterführen.“ Er sieht den Sport als vielversprechende Beschäftigung für die Jugendlichen Palästinas: „Du kannst kreativ sein, tun was du willst. Und den Stress unserer Situation loswerden. Ich würde das Skaten inzwischen jeder politischen Demo vorziehen. Und gerade Kinder sollten das auch. Geht skaten, habt Spaß, lasst euch nicht von dem politischen Konflikt vereinnahmen!“

 Jan Hennies „Geht skaten, lasst euch nicht vom Konflikt vereinnahmen.“ Foto: Jan Hennies

 

Angesichts der Umstände, unter denen Kinder in der militärischen Besatzung aufwachsen, ist Adhams Idee ein Mammutprojekt. Wie eine ständige Diskriminierung durch die Besatzungstruppen mit Hilfe des Sports abfedern? So ist Aram trotz oder gerade wegen seiner Schussverletzungen deutlich anderer Meinung: „Eine Gemeinschaft und Freiräume schaffen ist gut. Aber das kann nicht alles sein. Natürlich bringt es gegen die Soldaten nichts, Steine zu werfen. Aber der Akt an sich ist ein Zeichen, dass wir noch hier sind. Jeden Tag.“ Adham entgegnet: „Wenn die meinen Kickflip sehen, wissen sie auch dass ich hier bin!“ Die früh politisierten Jugendlichen führen diese Debatte nicht zum ersten mal.

Sport gibt jungen Palästinensern neue Möglichkeiten zur Entfaltung, ermöglicht es ihnen, sich neue Perspektiven aufzubauen. Das ist bitter nötig: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei fast 40 Prozent. Und gerade für die Kinder in den zahlreichen Flüchtlingslagern seien soziale Räume besonders wichtig, betont der Psychologe Ali Nobani. Da die Camps in ihrer Fläche nicht ausgedehnt werden dürfen, wird jede Freifläche hier inzwischen für die wachsenden Bewohnerzahlen verwendet. Denn inzwischen leben die Refugees von 1948 und 1967 in mehreren Generationen in den Camps. Zum Spielen bleiben oft nur noch enge Gassen.

Auch deshalb kämpft Sajeh Abu-Ulbeh weiter für die Anerkennung seines Hobbys. Denn vollends angekommen sind die X-Games trotz des internationalen Erfolges nach wie vor nicht. „Der Zoo-Betreiber weigert sich, die großen Tore zu unserer Rampe aufzumachen, sodass dessen Besucher auch uns sehen könnten“, erklärt er genervt. Manchmal, berichtet Sajeh, stelle sich Resignation ein: „Ich meine, warum mache ich das eigentlich? Es gibt keinen Respekt für uns!“ Doch Sajehs Hoffnung überwiegt: „Vielleicht verändern sich die Menschen hier auch.“

Das Engagement für den eigenen Sport bringt Adham, Aram, Sajeh und ihre Freunde dazu, kleine Veränderungen in ihrer Gesellschaft anzustreben, gesellschaftliche Konventionen herauszufordern und Selbstbewusstsein unter früh belasteten Kindern zu schaffen. Gleichzeitig öffnen die Skateparks neue soziale Räume in den durch den fortschreitenden illegalen israelischen Siedlungsbau immer weiter eingeengten und zerteilten Palästinensergebieten.

Ob sich das Skaten in der Breite etabliert? Mit Unterstützung des deutschen Vereins skate-aid wurde in Bethlehem vor kurzem ein weiterer Skatepark fertiggestellt. Eine Lösung für die Besatzung und den politischen Konflikt ist das nicht. Doch Ali Nobani betont: „Kinder sollen entscheiden, sich selbst auszudrücken und ihr Leben zu genießen.“ Gemeinsam mit vielen anderen Kultur- und Freizeitprojekten lässt das Skaten Jugendliche so ihre problematische Umwelt aktiv gestalten.

 

Dieser Artikel erschien in leicht gekürzter Fassung im Nord-Süd-Magazin von INKOTA.

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