28.02.2018
Palästinenser in Chile: Auch in der Ferne bleibt die Identität
Estadio Municipal de La Cisterna, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Palestino_-_Iquique,_26-02-2016_-_Estadio_Municipal_de_La_Cisterna_13.JPG
Estadio Municipal de La Cisterna, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Palestino_-_Iquique,_26-02-2016_-_Estadio_Municipal_de_La_Cisterna_13.JPG

In Chile lebt die größte palästinensische Gemeinschaft außerhalb des Nahen Ostens. Repräsentiert von einer gebildeten, wohlhabenden Elite, die in Politik, Wirtschaft und Sport des Landes viel Einfluss hat, sind ihre Aufgaben zuletzt gewachsen – in Chile und in Palästina.

„In jeder Stadt findet man einen Polizisten, einen Priester und einen Palästinenser“ – chilenisches Sprichwort

Chile ist die Heimat einer der größten und ältesten palästinensischen Einwanderungsgemeinschaften. Insgesamt leben in Lateinamerika rund 700.000 PalästinenserInnen, unter anderem in Peru, El Salvador, Brasilien und Bolivien. Davon beträgt die Anzahl der EinwanderInnen und ihrer Nachkommen in Chile alleine heute ungefähr 400.000. Und in letzter Zeit ist die Verbindung zu Palästina eher größer als kleiner geworden.

Tausende PalästinenserInnen haben im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ihre Heimat auf der Suche nach einer besseren Zukunft verlassen. Eines der wichtigsten Motive auszuwandern war ihre Verfolgung durch das Osmanische Reich, die junge christliche Männer in ihren Reihen rekrutierte, um an der Front zu kämpfen.[1] Rund 95 Prozent der EinwanderInnen aus dem Nahen Osten nach Chile waren PalästinenserInnen.

Mehr als drei Viertel von ihnen kamen zwischen 1900 und 1930 in Chile an. Die meisten stammten aus vier kleinen Städten: Bethlehem, Beit Jala, Beit Sahour und Beit Safafa.[2] Während ihrer Reise passierten die AuswandererInnen Beirut, Marseille, Panama, Sao Paulo und Buenos Aires, um danach die Anden auf Eseln zu überqueren und chilenischen Boden zu erreichen.

In den 1930er Jahren sank die Zahl der EinwanderInnen aufgrund der verbesserten Lebensbedingungen in Palästina, insbesondere nach dem Fall des Osmanischen Reichs und der Errichtung des britischen Mandats. Die Staatsgründung Israels 1948 und der Krieg von 1967 verursachten dann erneut weitere – wenn auch kleinere –  Einwanderungswellen. Die jüngste Einwanderungsbewegung liegt fast zehn Jahre zurück, als 117 palästinensische Flüchtlinge im Jahr 2008 aus dem Lager al-Tanf an der Grenze zwischen dem Irak und Syrien nach Chile kamen.[3]

Palästinensische Institutionen und Spuren in Chile

Durch ihren Willen, sich in der neuen Gesellschaft eine Lebensgrundlage zu erwirtschaften, bauten die PalästinenserInnen schnell Beziehungen zu den ChilenInnen auf, lernten die Sprache, haben sich mit der chilenischen Kultur vertraut gemacht und bedeutende Beiträge zur chilenischen Wirtschaft geleistet. Die Textilindustrie wurde zum wichtigsten Wirtschaftszweig.

Ihr Anfang war allerdings nicht leicht in Chile. Denn viele hatten nach der langen Reise kein Geld mehr und konnten kaum mit den EinwohnerInnen des Landes kommunizieren. So berichtet beispielsweise der 24-Jährige Tarek, dass sein Urgroßvater Anfang des 20. Jahrhunderts aus Abfällen Metall gesammelt und weiterverkauft hat, um sich und seiner Familie ernähren zu können. Obwohl der Neustart für die PalästinenserInnen in Chile schwierig war, sind sie heutzutage jedoch unter anderem als erfolgreiche Geschäftsleute, Abgeordneten, MinisterInnen, BotschafterInnen und Priester in der Mitte der chilenischen Gesellschaft angekommen.[4]

Palästinensische Nachnamen stehen sogar für die wohlhabendsten Familien im Lande. So werden Said und Yarur mit dem Bankensektor verbunden, Sahie heißt der Inhaber einer der größten Zeitungen und Finanzdienstleistungsunternehmen des Landes.[5]

Die PalästinenserInnen brachten jedoch nicht nur Unternehmergeist mit, sondern auch eine Leidenschaft für Fußball. Eine der wichtigsten palästinensischen Institutionen ist der Fußballverein Deportivo Palestino, gegründet 1920, und immerhin zwei Mal chilenischer Meister.

Obwohl 13.000 Kilometer von Palästina entfernt, flattert im Stadion Estadio Municipal de la Cisterna die palästinensische Flagge. Bis zu 12.000 Zuschauer kommen zu den Heimspielen des Vereins, der in der Primera Division de Chile spielt, der ersten chilenischen Liga.

Während es selbst in Palästina nicht überall selbstverständlich ist, die palästinensische Flagge in der Öffentlichkeit zu zeigen, werden sie in Chile vor den Fußballspielen auf den Straßen verkauft und im Stadion geschwenkt. Die Sehnsucht nach Palästina wird insbesondere bewusst, wenn der Moderator beim Einlauf der Mannschaft Namen palästinensischer Städte ausruft.

Aber auch jenseits des Fußballs gibt es Vereine, die sich um ein Zuhause in der Ferne und um die Beziehungen der palästinensischen Gemeinschaft in Chile untereinander sowie ihre Verbindung zu Palästina bemühen – etwa den Club Palestino in der Hauptstadt Santiago, ein Ort der Begegnung.

Heute verfügt die Einrichtung unter anderem über 16 Tennisplätze, drei Schwimmbäder, zehn Fußballplätze, sieben Hektar Garten und mehrere Seminarräume.

Ein kleines Palästina befindet sich auch in der Nachbarschaft Patronato, im sogenannten Bezirk Recoleta in Santiago. Die ImmigrantInnen in Santiago haben sich in Patronato zuerst niedergelassen. Dieser Stadtteil gilt als zentrales Geschäftsviertel der mittleren Einkommensklasse, in dem sich viele palästinensische Kaufleute ansiedelten. Die palästinensische Flagge ist dort an fast jeder Ecke zu finden. Der derzeitige Bürgermeister, Daniel Jadue, ist Palästinenser aus Beit Jala.

Ein Gespräch auf dem Weg nach Patronato, um zu Mittag etwas Arabisches zu essen, über die Bedeutung dieses Stadtteiles. Cristobal, dessen Familie vor drei Generation nach Chile kam, lacht und erzählt, dass wenn die PalästinenserInnen nach Patronato fahren wollen, sie sagen, dass sie „’Al Barrio“ gehen wollen. (‘Al auf Arabisch bedeutet nach), was ein gewisses Zugehörigkeitsgefühlt und Einzigartigkeit des Bezirks ausdrückt. In den Restaurants werden Falafel, Shawarma und weitere arabische Gerichte serviert. Doch Cristobal meint, dass das beliebte Gericht – gefüllte Weinblätter – typischerweise bei La „Sitti“ (Sitti: Großmutter auf Arabisch) am Sonntag gegessen wird.

Viele klagen über die Luftverschmutzung in Santiago. Für Valentina ist es aber wichtig, dort zu bleiben, damit ihre Kinder später richtige „Paisanos“ (Paisanos: Landsleute auf Spanisch) werden, erzählt sie. Mit diesem Wort bezeichnen die PalästinenserInnen einander. Und wiederum bedeutete für Valentina sowie für viele andere, ein Paisano zu sein, in die arabische Schule zu gehen, eine Mitgliedschaft im Club Palestino zu haben, um dort die Freizeit in einer familiären Atmosphäre verbringen zu können. Viele Ehepaare schicken ihre Kindern auch zu dem monatlichen Treffen „yo soy Palestino“  (Ich bin ein Palästinenser), um arabische Lieder und die Zubereitung von palästinensischen Süßigkeiten zu lernen und somit eine gewisse Verbindung zu dem Land bei den neuen Generationen aufrechtzuerhalten.

Die palästinensische Gemeinschaft Chiles wird durch die sogenannte Federacion Palestina de Chile vertreten. Dieser Bund umfasst soziale, politische, kulturelle und religiöse Organisationen. Seine Mitglieder werden von der Gemeinschaft alle zwei Jahre gewählt.

Daneben haben Studierende die sogenannte „Allgemeine Union der Palästinensischen Studierenden“ gegründet. Obwohl palästinensisch-chilenische PolitikerInnen heute im gesamten politischen Spektrum zu finden sind, von der Rechten bis zur Kommunistischen Partei, kooperieren sie, wenn es um Palästina geht. Darüber hinaus wurde eine palästinensisch-chilenische interparlamentarische Gruppe gegründet, mit 48 von insgesamt 120 Abgeordneten die größte unter den binationalen Gruppen im chilenischen Kongress.

Die palästinensische Stiftung Bethlehem 2000, eine Wohltätigkeitsorganisation für Kinder, wurde im Jahr 2001 von wohlhabenden palästinensischen Geschäftsleuten aus Chile ins Leben gerufen. Die Stiftung veröffentlicht die monatliche Zeitschrift Al Damir (das Gewissen), die darauf abzielt, über die Aktivitäten der Gemeinschaft und die humanitäre Situation in Palästina zu informieren.

Die Rolle der palästinensisch-lateinamerikanischen Diaspora in der palästinensischen Frage

Historisch gesehen hat Chile stets das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes sowie das Recht auf Gründung eines unabhängigen Staates unterstützt. Die offiziellen bilateralen Beziehungen zwischen Chile und Palästina sind sehr eng. Das äußert sich auch darin, dass Chile die erste lateinamerikanische Nation war, die 1998 in Ramallah eine Repräsentanz eröffnete. Im Januar 2011 hat Chile Palästina als Staat anerkannt und war Befürworter und Unterstützer der UN-Resolution 67/19, die Palästina einen Beobachterstatus in der UN-Vollversammlung gewährte. Außerdem war Chile eines der Länder, die in der UN-Vollversammlung dafür stimmten, dass die US-Regierung die Anerkennung Jerusalems als israelische Hauptstadt zurücknehmen soll.

Wie nah Palästina manchmal an Chile sein kann, zeigt auch ein Beispiel aus dem Jahr 2016. Damals klagten Anwälte der palästinensischen Föderation in Chile gegen israelische Richter. Konkret ging es dabei um den Bau der Mauer im sogenannten Cremisan-Tal auf palästinensischem Privatland, was durch drei israelische Richter legalisiert wurde. In dem Tal liegt auch die Stadt Beit Jala, woher die Mehrzahl der palästinensischen EinwanderInnen in Chile ursprünglich stammt. Dies ist die letzte Grünfläche in der Region Bethlehem, die acht Prozent der gesamten palästinensischen landwirtschaftlichen Produktion ausmacht.

Die Klage wurde später jedoch von chilenischen Richtern im Berufungsverfahren abgelehnt. Sie argumentierten, dass der Vorgang keine Straftat an sich darstelle. Das Rechtsteam der Föderation gibt jedoch nicht auf und möchte gegen die gleichen Richter eine erneute Klage am Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichen.

Chile hat 2009 das Römische Statut ratifiziert, das es dem Land ermöglicht, sich auf die universelle Gerichtsbarkeit zu berufen, um Individuen wegen Straftaten – insbesondere schwere Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts, die in den Vertrag aufgenommen wurden und auf dem Territorium eines Vertragsstaates oder durch einen Staatsangehörigen eines Vertragsstaates begangen wurden – anzuklagen.

Der Geschäftsführer der palästinensischen Föderation ist davon überzeugt, dass der Gerichtsweg eine Möglichkeit sei, um Israel unter Druck zu setzen, die Rechte der Palästinenser zu achten.[6]

Das Jahr 2017 hatte weltweit eine große Bedeutung für die PalästinenserInnen: 100 Jahre sind vergangen seit der Erklärung von Balfour, 70 Jahre seit dem UN-Teilungsplan, 50 Jahre seit der israelischen Besatzung und zehn Jahre seit der Blockade des Gazastreifens.

Aus der Sicht des Palestino-Clubpräsidenten soll die einheitliche Diaspora aus Intellektuellen, WissenschaftlerInnen, Fachleuten, KünstlerInnen und EntscheidungsträgerInnen aufgebaut sein, die sicherstellen, dass die Avantgarde der Gemeinschaften weltweit den Weg für einen Staat Palästina ebnet.[7]

Viele träumen immer noch von der Rückkehr nach Palästina. Nach dem Oslo-Abkommen 1993 dachten einige, dass es nun endlich eine Lösung für den Konflikt geben werde, und waren entschlossen, nach Palästina zurückzugehen. 25 Jahre später lachen sie mit weinenden Augen über diesen Gedanken. Die PalästinenserInnen in Chile und ihre Nachkommen – obwohl die meisten von ihnen vor der Entstehung des Staats Israel ausgewandert sind – haben kein Recht auf Rückkehr in ihr Heimatland und dürfen nur mit einem Touristen-Visum nach Israel einreisen.

Daher werden nun eben Netzwerke ausgebaut und die Beziehungen zu den Menschen in Palästina gepflegt. Beispielsweise wird jährlich eine Reise organisiert, damit die Möglichkeit besteht, das Land und die heutige Realität vor Ort kennenzulernen. Start-ups wie „Invest Palestine“, die von Mitgliedern der Gemeinschaft gegründet worden sind, rufen in Palästina Investitionsprojekte hervor, indem sie zwischen Investoren aus Lateinamerika und Unternehmern in Palästina Brücken schlagen.

Im Oktober 2017 fand eine große Versammlung der lateinamerikanischen Diaspora mit dem Namen Taqalid (Taqalid: Traditionen auf Arabisch) für insgesamt 15 Delegationen statt, wo vor allem BürgermeisterInnen der palästinensischen Städte Beit Jala, Bethlehem und Beit Sahour anwesend waren. Einen Monat später hat die „Bank of Palestine“ ein Repräsentanzbüro in Chile eröffnet. Diese Initiativen und viele andere beweisen, dass trotz der geografischen Entfernung viele PalästinenserInnen in Chile heutzutage ihrem Heimatland näher sind als lange zuvor. Von wegen „aus den Augen, aus dem Sinn“.

 

Anmerkungen:

[1] Vgl. Saffie, N.; Agar, L. (2012). A Century of Palestinian Immigration to Chile: A Successful Integration. In: Raheb, V. (Hg.) Latin Americans with Palestinian Roots. Bethlehem: Latin Patriarchate.

[2] Vgl. Moore, Aron; Mathewson, Kent (2012): Latin America’s Los Turcos: Geographic Aspects of Levantine and Maghreb Diasporas. Noesis. Revista de Ciencias Sociales y Humanidades, 22(43), S.290-308.

[3] Vgl. Saffie, N. y Agar, L. (2012). A Century of Palestinian Immigration to Chile: A Successful Integration. In: Raheb, V. (Ed.) Latin Americans with Palestinian Roots. Bethlehem: Latin Patriarchate.

[4] Vgl. Bernales, Fransisco J. (2014): Chile and Palestine: A Long-Lasting Friendship. This Week in Palestine. Online hier abrufbar. [Letzter Zugriff: 10.11.2017]

[5] Vgl. Saffie, N. y Agar, L. (2012). A Century of Palestinian Immigration to Chile: A Successful Integration. In: Raheb, V. (Ed.) Latin Americans with Palestinian Roots. Bethlehem: Latin Patriarchate.

[6] Vgl. Rodenas, Angeles (2017): So far, yet so near: Palestinians in Chile defend their homeland. Middle East Eye. Online hier abrufbar. [Letzter Zugriff: 10.01.2018]

[7] Vgl. Luna, Patricia (2017): Chile: Palestinians gather to forge unified diaspora. Aljazeera. Online hier abrufbar. [Letzter Zugriff: 10.01.2018]

Artikel von Mariana Ghawaly