14.09.2020
Queere Menschen im Libanon: „Wir fühlen uns gefangen“
Das Café Madame Om nach der Explosion vom 4. August. Foto: Madame Om
Das Café Madame Om nach der Explosion vom 4. August. Foto: Madame Om

Die aktuelle Krise in Beirut wirkt sich besonders auf queere Menschen aus. Viele haben ihre Arbeit und ihr Zuhause, sowie die letzten Sicherheitsnetze verloren. Queere Orte wie Madame Om sind jetzt auf Unterstützung angewiesen.

„In dem Moment der Explosion war ich mit meinen Drag-Schwestern gerade in einem Café in Gemmayze. Wir hörten die Explosion und ich dachte, dass wir getroffen wurden. Dann bei der zweiten Explosion erinnere ich mich nur daran, wie ich versuchte, mein Gesicht und das meiner jüngeren Drag-Schwestern zu schützen“, sagt Miss Robyn Hoes[1]. Die libanesische Drag Queen erlebte die Explosion in der libanesischen Hauptstadt Anfang August aus unmittelbarer Nähe. Von den psychischen Folgen hat sie sich bis heute nicht erholt. „Die libanesische Drag-Szene ist eine Underground-Szene. Das liegt an den Gesetzen und daran, dass wir nicht in der Lage dazu sind, unsere Rechte als Homosexuelle und Drag Queens wahrzunehmen“, sagt die 23-Jährige. „Drag zu machen bringt uns jeden Tag in Gefahr.“ 

Seit mehr als drei Jahren performt Robyn Hoes mittlerweile als Drag Queen auf der Bühne. Für sie und andere Performer*innen stellt Drag die einzige Möglichkeit dar, aus traditionellen binären Geschlechterrollen auszubrechen und Themen anzusprechen, die in der Gesellschaft sonst größtenteils tabuisiert werden, wie zum Beispiel Sexualität und Gender. Außerdem nutzen einige Drag Queens die Bühne nach ihren Auftritten, um beispielsweise auf Depressionen und Suizidprävention aufmerksam zu machen. Dadurch, dass es einem Outing gleichkäme, mit ihren Familien darüber zu sprechen oder sich professionelle Hilfe zu suchen, stellen Abende wie diese für viele Menschen die einzige Möglichkeit dar, solche Themen anzusprechen.

Robyn Hoes performt seit über drei Jahren, Quelle privat

Viele haben ihr „zweites Zuhause“ verloren

Bereits vor der Krise gab es in der libanesischen Hauptstadt nur wenige Orte, die ihre Räumlichkeiten für Drag Shows und queere Veranstaltungen zur Verfügung stellten. Im März erließ die Regierung außerdem Einschränkungen, um die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus möglichst rasch einzudämmen. Das hatte zur Folge, dass queere Bars und Cafés geschlossen wurden und nicht mehr als Treffpunkt für die queere Community zur Verfügung standen. Durch die Explosion wurden die meisten queeren Cafés und Bars beschädigt und zum Teil gänzlich zerstört, darunter Madame Om. Das Café im Stadtteil Gemmayze stellte vor der Katastrophe für viele queere Menschen die einzige Möglichkeit dar, andere Menschen aus der Community zu treffen. Deshalb bitten die Inhaber*innen in einem Instagram-Post um Spenden, damit sie den nötigen Wiederaufbau finanzieren können. Einige Menschen hätten durch die Explosion ihr „zweites Zuhause“ verloren, heißt es in dem Aufruf: „Madame Om war und wird immer ein Ort sein, an dem jede Person ihren Bedürfnissen Ausdruck verleihen kann durch Poesie, Tanz oder einen Mix.“

Doch der Wiederaufbau queerer Orte wird nicht nur durch die Folgen der Explosion erschwert. Darüber hinaus befindet sich der Libanon in der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise seiner Geschichte. Mit einer Staatsverschuldung von mehr als 170 Prozent des Bruttoinlandproduktes zählt der Libanon zu den meist verschuldeten Ländern der Welt. Für den drohenden Wirtschaftskollaps ist vor allem die politische Elite verantwortlich, welche seit Jahrzehnten sämtliche Reformversuche verhindert und stattdessen in die eigenen Taschen wirtschaftet. Bereits im vergangenen Jahr ging rund ein Viertel der Libanes*innen im ganzen Land auf die Straßen und forderte den Rücktritt der politischen Entscheidungsträger*innen. Durch die Coronakrise spitzte sich die Situation vieler Libanes*innen weiter zu, sodass auch die landesweiten Proteste trotz Sicherheitsmaßnahmen wieder aufflammten.

„Ich selbst wurde von Zuhause rausgeschmissen“

Vor allem marginalisierte Menschen wie Geflüchtete, Frauen und queere Personen sind von der aktuellen Krise betroffen. Infolge der Wirtschaftskrise und der Pandemie haben viele queere Menschen kaum oder zum Teil gar kein Einkommen. Da ein Großteil der queeren Community außerdem in Clubs bzw. Bars in Gegenden wie Gemmayze oder Mar Mikhael arbeitete und diese durch die Explosion zerstört wurden, haben viele seit Anfang August keine Arbeit mehr. Dadurch haben besonders queere Menschen häufig keinen Zugang zu Essen, Wasser oder Medikamenten.

„Man muss sich immer wieder klar machen, dass homosexuelle Menschen nichts haben, auf das sie zurückgreifen können, außer ihren Freund*innen, die oft wie eine Familie für sie sind“, betont Robyn Hoes: „Als homosexuelle Menschen im Libanon erhalten wir von unseren Eltern häufig keinerlei Akzeptanz oder Unterstützung. Ich selbst wurde vor zwei Jahren von Zuhause rausgeschmissen.“ Nach der Explosion am 4. August entschied sich die Drag Queen dennoch dazu, ihre Familie zu besuchen: „In den ersten Tagen nach der Explosion war Beirut toxisch für mich. Zu sehen, wie die ganze Schönheit meiner Lieblingsstadt zu Boden ging, war sehr anstrengend sowohl psychisch als auch körperlich. Als ich jedoch Zuhause ankam, sagten mir meine Eltern, dass ich nicht bei ihnen bleiben könne. Weil ich schwul bin und weil ihre Religion es nicht zulasse, dass sie eine queere Person in ihrem Haus wohnen ließen.“

Mehr als der Verlust von Häusern

Genau wie Robyn Hoes ergeht es zahlreichen queeren Menschen im Libanon. „Der Großteil queerer Orte lag nahe der Explosion, deshalb wurden viele zerstört und sind jetzt auf Spenden angewiesen, um die nötigen Renovierungen überhaupt finanzieren zu können“, sagt Venus Bleeds, Musiker*in und Künstler*in. „Das ist wirklich traurig, weil wir diese Orte durch unseren Schweiß und unsere Tränen aufgebaut haben. Zu sehen, wie sie jetzt durch das Regime fast vollständig zerstört wurden, ist enttäuschend.“ Viele hätten das Gefühl, nicht nur ihre Häuser, sondern auch ihr wahres Zuhause verloren zu haben: „Wir als queere Menschen fühlen uns meist nicht in den Häusern unserer Familien Zuhause, sondern in queeren Clubs und Bars.“

Besonders queere Künstler*innen seien von der Krise betroffen: „Ich selbst arbeite als Performer*in und Künstler*in. Durch die Covid- und die Wirtschaftskrise konnten viele Menschen nicht mehr für Shows oder Fotoshootings bezahlen“, sagt Venus, „aber dann kam auch noch die Explosion und es fühlte sich an, als sei ganz Beirut paralysiert.“ Venus selbst sei lange Zeit nicht in der Lage dazu gewesen, überhaupt an die Arbeit zu denken. „Bis ich irgendwann realisierte, dass ich keine Wahl habe, da ich Geld brauchte, um mich selbst versorgen zu können.“

Venus Bleeds ist selbst Performer*in und betont die prekäre Lage von Künstler*innen in der aktuellen Krise, Quelle privat

„Wir fühlen uns gefangen“

Für queere Menschen, die seit der Krise auf Unterstützung angewiesen sind, gibt es mittlerweile zahlreiche Spendensammlungen. Robyn Hoes‘ Freundeskreis rief eine Kampagne ins Leben, um queeren Menschen zu helfen: „Wir erhielten jede Menge Spenden, darunter Essen, Kleidung und warme Mahlzeiten, die wir mittlerweile täglich an Bedürftige verteilen“, sagt die Drag Queen. Auch Venus Bleeds findet, dass queere Menschen besonders auf Unterstützung angewiesen sind: „Die wirtschaftliche und politische Krise betrifft uns  besonders, denn unsere einzigen Ausdrucksmittel liegen in der Underground-Szene wie zum Beispiel der Drag-Szene oder der Gay-Club-Szene. Dass diese Orte nicht erreichbar sind, ist sehr schwierig. Wir fühlen uns gefangen.“

Viele queere Menschen kämen aus trans- oder homofeindlichen Familien und könnten es sich angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise nicht leisten, in eine eigene Wohnung zu ziehen. „Es ist ein Dominoeffekt, der uns dazu zwingt, mit unseren Familien, die uns verstießen, zusammenzuleben“, sagt Venus. Dennoch versuche die Community, Wege zu finden, gemeinsam Zeit zu verbringen und sich auszutauschen: „Manchmal gehen wir trotz des Risikos auch raus einfach um zu fühlen, dass wir immer noch queer sind und dass wir immer noch präsent sind. Denn unsere Präsenz liegt leider immer noch außerhalb des Hauses.“

[1] Aus Sicherheitsgründen möchte Robyn Hoes nur mit ihrem Drag-Namen genannt werden.

 

 

Inga Hofmann (23) studierte Politikwissenschaft an der Freien Universität in Berlin. Während ihres Studiums verbrachte sie mehrere Monate in Beirut, wo sie unter anderem am Filmfestival der Heinrich-Boell-Stiftung mitwirkte. Aktuell arbeitet sie als freie Journalistin in Berlin und beginnt im Herbst 2020 den Masterstudiengang „Gender,...
Redigiert von Henriette Raddatz, Eva Garcke