11.04.2021
Queere Revolution – von Marokko nach Berlin
Performance „War on Bodies“ von Mala Badi. Credit: Anna Wyszomierska
Performance „War on Bodies“ von Mala Badi. Credit: Anna Wyszomierska

Berlin gilt als „Stadt des Exils“, doch die maghrebinisch-queere Szene ist wenig präsent. Mit der Veranstaltungsreihe „Queer Revolution Maroc“ ändert sich das. Drei Kurator:innen und eine Gründerin des Veranstaltungsorts Oyoun erzählen.

Dieser Text ist Teil des Kooperations-Dossiers dis:tance - von Marokko, Deutschland und dem Dazwischen. Herausgegeben von En toutes lettres und dis:orient, finanziell unterstützt vom Institut für Auslandsbeziehungen (ifa).

Samstagabend, Berlin Neukölln im September 2020: Im Kulturzentrum Oyoun in der Wissmannstraße steht die Performance-Veranstaltung „Decolonizing Queer – A Moroccan Sex Worker’s Perspective“ auf dem Programm. Es ist der Abschluss der dreiteiligen Veranstaltungsreihe „Queer Revolution Maroc“ und Teil des Festivals „In the Queer and Now – Cartographies of Affect”.

Als Foyer dient das be’kech im Erdgeschoss des Oyouns. Der Name setzt sich aus Berlin und Marrakesch zusammen. Ursprünglich war es im Berliner Stadtteil Wedding zu finden, wo es 2017 als Workspace, aber auch als Treffpunkt für die marokkanische Community gegründet wurde. Im Oyoun ist das be’kech ein großer, heller Raum mit vielen kleinen Sitzecken und Arbeitsplätzen. Dazwischen wird Mode und Kunst von Künstler:innen aus der Community ausgestellt und am Tresen bietet das be’kech vegane Küche und Getränke.

Eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung kommen immer mehr Menschen ins Foyer. Trotz trotz coronabedingtem Abstand entsteht eine gemütliche Stimmung, die Leute sitzen einzeln an Tischen oder unterhalten sich in kleinen Gruppen. Eine der Gründer:innen, Louna Sbou, erinnert sich an die Anfänge des Cafés: „Das be'kech ist unsere Leidenschaft, wir haben sehr schöne Erinnerungen. Alhamdulillah. Uns war jedoch schnell klar, dass wir einen größeren Ort brauchten. Zum Yennayer 2019 – dem Neujahr der Imazighen – mussten wir 200 Leute wegschicken, weil wir einfach keinen Platz hatten.“

Der Umzug nach Neukölln Anfang 2020 brachte den Gründer:innen nicht nur bedeutend mehr Platz, sondern bot ihnen die Gelegenheit, im selben Haus ein zweites Unternehmen zu gründen: das Oyoun.

Louna erklärt den Unterschied zwischen den beiden Konzepten: „Bei der Arbeit im Oyoun ist meine Identität als afro-arabische Migrantin nur einer von vielen Aspekten. Es geht um einen intersektionalen und nicht um einen regional fokussierten Ansatz.“ Das Oyoun ist Ausstellungsraum und Veranstaltungsort für ein vielseitiges kulturelles Programm mit politischem Anspruch: „In Zeiten von zunehmendem Populismus und rechter Radikalisierung sind wir auch ein Ort der kritischen Reflektion, der empowernden Kreativität und der Solidarität. Unser Konzept macht die Vielfalt Berlins deutschland-, europaweit und international in seiner Komplexität sichtbar und zelebriert sie.“

Zum Abendprogramm lädt das Oyoun in den dritten Stock ein. Die Performances finden im großen Saal statt, in dem auch Konzerte und Filmabende veranstaltet werden. Neben der Bühne ist die Fotoausstellung von Oumaima Darmoumi zu sehen, einer der Kurator: innen der Veranstaltungsreihe. Thema der Ausstellung ist der Prozess des Heilens im Sinne einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper als queere PoC. Das Verständnis von Heilen ist für die Kurator:innen in traditionelle marokkanische Rituale eingebettet, mit denen auch die Ausstellung und die Veranstaltungsreihe im Oyoun eröffnet wurden. Die Künstler:in erklärt das Programm der Veranstaltungsreihe, die sie gemeinsam mit Sadiqa El Kahals und Mala Badi für das Oyoun kuratiert hat:

„Uns es geht uns darum, politische und koloniale Kontinuitäten aufzuzeigen“, sagt Oumaima: „Ein großes Missverständnis ist oft, dass queer etwas Westliches sei. Wir wollen durch unsere Kunst zeigen, dass Queer-Sein lange vor dem Kolonialismus bestand und erst durch ihn kriminalisiert wurde. Das Ziel ist, mit unserer eigenen Geschichte und unserem Erbe im Reinen zu sein. Wir kämpfen für eine lokal verwurzelte queere Kultur.“

Der Abend beginnt mit Sadiqa El Kahals Performance, die die Zuschauer:innen in die Lebensrealität eines:r Sexworker:in in Marrakesch einlädt. Abseits des bekannten Djemaa el Fna Platzes im Zentrum der Stadt führt Sadiqa im Zwiegespräch mit dem Publikum durch den Arbeitsalltag und performt am Ende allein das Treffen mit einem Freier.

Performance von Sadiqa El Kahal; Credit Anna Wyszomierska

Aus der gemeinsamen Geschichte lernen

„War on bodies“ von Mala Badi ist die zweite Performance des Abends und kommt ohne gesprochene Worte aus, dafür wird eine Leinwand im Hintergrund als Interaktionsraum und Projektionsfläche für politische Forderungen genutzt.

Im Zentrum von Malas Perfomance steht die Gewalterfahrung des Körpers durch den (französischen) Kolonialismus. Malas Körper kämpft mit einem Seil, während im Hintergrund Bilder von entwürdigender sexualisierter Gewalt ablaufen – dazu sind Schüsse zu hören und Geschrei. Die Kunst zu dekolonialisieren ist das große Ziel – das Publikum soll verstehen, dass das Koloniale und die Unterdrückung der Körper bis heute andauern.

Mala erklärt: „Die Performance ist Teil meines eigenen Heilens und der Dekolonialisierung meines eigenen Körpers. Die Arbeit an mir selbst ist aber nur eine Seite meiner Performance, auch alle Zuschauer:innen sollen davon lernen! Niemand spricht über die Geschichte der sexuellen Gewalt als Teil des Kolonialismus und wie sie uns bis heute prägt, weder in Europa noch in Marokko.“

Mala möchte Impulse geben und den Leuten die Augen für geschichtliche Zusammenhänge öffnen. Oumaima, die Fotokünstlerin, fügt hinzu: „Es ist schon auch unsere Absicht, Leute aufzuklären - und das betrifft nicht nur weiße Menschen, sondern auch PoCs aus anderen Kontexten, zum Beispiel nicht-queere Menschen.“

Die Performance ist für Mala deswegen auch ein Statement gegen die Perspektive der individuellen Betroffenheit: „Intersektionalität heißt: Meine Befreiung ist Befreiung für alle – mein Schmerz ist der Schmerz von allen. Auch Kolonialherren und -frauen waren von Kolonialismus traumatisiert, das heißt wir alle müssen das bearbeiten. Leute aus dem globalen Süden werden die Welt nicht alleine ändern, wir müssen gemeinsam aus der Geschichte lernen.“

Netzwerkarbeit und Kreativität

Die Veranstaltungsreihe Queer Revolution Maroc fand in Berlin statt, die Künstler*innen leben in den Niederlanden und Frankreich. Die Reihe ist nach einem transnationalen aktivistischen Netzwerk benannt, das Mala 2020 mitbegründete.

Das Bündnis entstand als Reaktion auf eine Diffamierungskampagne in den sozialen Medien: Eine marokkanische Influencerin hatte dazu aufgerufen, auf Grinder und anderen Dating Apps schwule Männer zu finden und sie in der Öffentlichkeit anzuprangern. Mala erklärt: „Unsere Gegenkampagne sollte etwas Hoffnung geben und die Community aus der Negativität und Niedergeschlagenheit befreien. Wir sind auch eine künstlerische Kampagne und laden die Mitglieder ein, ihre Kreativität mit einzubringen.“

Das Netzwerk bringt queere Gruppen in Marokko und viele Individuen aus der globalen Diaspora zusammen. Auch Louna vom Oyoun hatte Mala bei einem Treffen des Netzwerks in Amsterdam kennen gelernt und sie daraufhin nach Berlin eingeladen.

Eine der kreativen Stimmen von „Queer Revolution Morocco“ ist Sadiqa, die Dritte im Trio der Kurator:innen. Die Künstler:in tritt zum Abschluss des Abends in einem glitzernden Negligé noch einmal auf und performt den „ersten queeren Rap Song aus Marokko“: Sawet El Queer (dt. „Queere Stimmen“) „Wenn deine Männlichkeit angreifbar ist, hör‘ besser nicht hin… Ich bin Realität, keine Illusion… Du weißt nicht, was ich bin? Eine Frau oder ein Mann? Du willst wissen, was ich in der Hose habe? – Alles was du wissen musst: ICH BIN EIN MENSCH!“

Sadiqa performt "Sawet El Queer"; Credit Anna Wyszomierska

Erste und zweite Generation in Europa – Was trennt, was verbindet?

Die Kooperation zwischen Mala, Sadiqa, Oumaima und Louna ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich die marokkanisch-queere Community über mehrere Generationen verbindet. Während die Kurator:innen selbst als Erwachsene nach Europa kamen, ist Louna in Deutschland aufgewachsen. Aber die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Communities ist nicht immer leicht.

Oumaima fühlt sich der migrantisch-queeren Szene in Frankreich oft nicht zugehörig: „Der Unterschied ist, dass die Aktivist*innen oft in der zweiten oder dritten Generation in Europa leben. Es gibt zwar thematische Überschneidungen, zum Beispiel bei Migration und Rassismus. Aber der größte Unterschied ist der französische Pass. Und auch, dass ich die Umstände in Marokko besser kenne als die Leute, die in Frankreich aufgewachsen sind. Aber wir versuchen immer wieder, Brücken zu bauen.“

Mala sieht in dem Event in Berlin eine solche Brücke – die marokkanische Community kam zusammen, egal ob queer oder nicht, ob erste oder zweite Generation oder nur temporär in Europa. „Bei Queer Revolution Morocco sind viele aus der zweiten Generation. Sie sind echte Marokkaner:innen. Nur weil jemand in der Diaspora lebt ist er:sie nicht weniger marokkanisch, auch wenn sie nie in Marokko waren und kein Darija [marokkanischer Dialekt, Anm. d. Red.] sprechen“, sagt Mala: „Wir müssen aufhören, Menschen in Boxen zu packen. Deswegen ist Queer Revolution Marokko der Traum von Community – alle zusammen, ohne binäre Ausschlusslogik. Wir sind alle Opfer der Unterdrückung!“

Aktivismus zwischen Europa und Marokko

Die drei Kurator:innen der Veranstaltung, Oumaima, Mala und Sadiqa, engagieren sich durch ihre Kunst im europäischen Kontext und versuchen gleichzeitig, die Community in Marokko zu unterstützen.

Oumaima hat in Marokko eine eigene feministische Organisation gegründet, Nassawiyat. Sie erklärt: „Mein Fokus liegt auf der Arbeit in Marokko, normalerweise reise ich auch regelmäßig hin und her. Im Lockdown haben wir viel Awareness-Arbeit gemacht, haben Statements geschrieben und unsere Social-Media-Präsenz ausgebaut. Dadurch ist es fast egal, ob ich in Frankreich oder in Marokko bin. Praktische Hilfe wie Unterstützung bei der Miete ist im Lockdown schwieriger, aber es gibt vor Ort Netzwerke, mit denen wir zusammenarbeiten.“

Mala dagegen verortet sich auch stark im holländischen Kontext und engagiert sich dort in der queeren und antirassistischen Bewegung. Auch die Performance-Kunst sieht er als „art of the place“: „Der Kontext macht unsere Kunst zu dem, was sie ist – ich weiß nicht, wie meine Kunst wäre, hätte ich Marokko nicht verlassen. Andererseits sind viele Themen wie Rassismus und Slut-Shaming in Europa genauso präsent wie in Marokko. Der Vorteil am Leben in Holland: Ich kann die Stimme anderer Menschen sein, die sich nicht selbst hörbar machen können. Wir können sagen, was andere nicht sagen können. Das macht einen großen Unterschied.“

Marokko bleibt aber für alle drei der wichtigste Bezugspunkt. Oumaima betont: „Wir sind eine radikale Bewegung, die unser eigenes Erbe zurückerkämpfen möchte. Wir sind keine westliche Verschwörung, sondern wir kämpfen für unsere Heimat.“ Mala ergänzt: „Wir kämpfen auch für die Dekolonialisierung und für die Maghrebisierung der queeren Bewegung.“

Dazu gehört, verschiedene Aspekte der marokkanischen Identität(en) zu betonen, wie die Amazigh Bewegung, oder den muslimischen Glauben. Sowohl Mala als auch Sadiqa beschreiben, wie die Versöhnung der eigenen Identität mit ihrer Religion Teil des Heilungsprozesses ist. Sadiqa bringt das im besagten Rapsong „Sawet El Queer“ auf den Punkt: „Fuck off! Mein Glaube ist was Persönliches zwischen mir und meinem Schöpfer. Ich weiß, er liebt mich und das ist alles was zählt… Adam und Eva waren nicht seine einzige Schöpfung – er schuf auch diese queere Faszination.“

Stolz am Ende des Abends; Credit Anna Wyszomierska

Hoffnung für Marokko

Die Vision der Künstler:innen ist ein Marokko, in dem sie mit ihrer Identität und ihrer Kunst anerkannt werden. Das gemeinsame Nachdenken über den Weg dorthin ist wichtiger Bestandteil der Arbeit bei Queer Revolution Morocco.

Mala arbeitet gerade an einer neuen Performance: „Es geht um meinen Kampf gegen die Depression – als marokkanischer, muslimischer, non-binärer Mensch. Ich bin dabei von meinen Traumata zu heilen. In Marokko bräuchten wir einen kollektiven Prozess. Heilen vom Kolonialismus, aber auch von der gewaltvollen Realität. Alles Persönliche ist politisch und die Befreiung der queeren Community wird eine Befreiung für alle Marokkaner:innen sein.“

Neben Tabus und gesellschaftlichen Traumata gibt es jedoch auch praktische Probleme, die es anzugehen gilt. Oumaima betont, dass es ein allgemeines Problem beim Zugang zu Kunst gibt. Es gibt kaum Räume für alternative Künstler:innen und die bestehenden Räume für Kunst sind der breiten Öffentlichkeit nur schwer zugänglich.

Trotzdem ist Oumaima zuversichtlich: „Ich habe es tatsächlich noch nie probiert, vielleicht wäre es heute schon möglich, meine Fotos in Marokko auszustellen!“ Ihr Traum ist es, ein Programm wie in Berlin auch in Marokko auf die Beine zu stellen. Mala glaubt fest daran, dass irgendwann die Performances auch dort möglich sein werden: „Wenn ich mich sicher fühle gehe ich zurück. Ich habe keine Angst vor der Zukunft!“.

Bis dahin werden Mala, Sadiqa und Oumaima weiter auf europäischen Bühnen stehen. Ihre Performances in Berlin waren ein voller Erfolg, am Ende des Abends gab es begeisterten Applaus und das Team feierte gemeinsam mit den Besucher:innen den Ausklang des Festivals.

 

 

Clara arbeitet in der Wissenschaftskommunikation. Zu dis:orient kam sie 2018 und seit Februar 2022 übernimmt sie die Koordination unseres Magazins. Clara hat Internationale Migration & Interkulturelle Beziehungen in Osnabrück und Politikwissenschaft in Hamburg & Istanbul studiert. Ihre Themen sind Solidarität in der postmigrantischen...
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Maximilian Ellebrecht