18.12.2022
Rezensionen: Was macht der Fußball mit der Macht?
Auch jenseits der 1:0-Berichterstattung ist der Fußball ein spannendes Themenfeld.
Auch jenseits der 1:0-Berichterstattung ist der Fußball ein spannendes Themenfeld.

Die politische Dimension des Fußballs geriet bei der WM in Katar in den Fokus wie selten. Zum Abschluss des Turniers stellen wir zwei Bücher vor, die diesem Wechselspiel auf den Grund gehen: „Football in the Middle East“ und „Machtspieler“.

Dieser Artikel ist Teil unseres Dossiers zur Fußballweltmeisterschaft der Männer in Katar. Im Dossier blicken wir auf die politischen und gesellschaftlichen Berührungspunkte zwischen WANA und dem Ballsport. Alle Artikel des Dossiers sind hier zu lesen.

Die Rezension von „Machtspieler“ findet Ihr weiter unten.

Football in the Middle East – State, Society and the Beautiful Game von Abdullah al-Arian (Hrsg.): Eine WANA-Rundreise durch die Fußball-Linse

Fußball ist Macht – auf genau diese Verbindung konzentriert sich der Sammelband „Football in the Middle East“ von Abdullah al-Arian. In zwölf Kapiteln durchstreift der Band so unterschiedliche Debatten, Epochen und Länder. Eine Rezension von Eva Hochreuther.

Keine Fankultur, wenig Interesse am Sport:  So ähnlich berichten viele Sportjournalist:innen in Deutschland oft über den Stellenwert von Fußball in Westasien und Nordafrika (WANA). Dabei ist der Sport in vielen Ländern schon lange Teil des Alltags und des politischen Geschehens. Auch finanziell wird der Markt WANA für europäische Vereine immer lukrativer. Dass dieser Werteaustausch nicht eine Einbahnstraße ist, zeigen die Investitionen mancher Monarchen der arabischen Halbinsel in europäische Vereine. Denn auch sie ziehen daraus internationales Kapital fernab des Fußballstadions. Nach der Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi versuchte Saudi-Arabien beispielsweise sein Image aufzupolieren, indem es den englischen Fußballverein Newcastle United letztes Jahr kaufte.

Ein Füllhorn an Themen

Mit genau diesen Überschneidungen beschäftigt sich der im Sommer 2022 erschienene Sammelband „Football in the Middle East: State, Society and the Beautiful Game“ (Hurst Publishers) von Abdullah al-Arian, Professor für Geschichte an der Georgetown Universität in Katar. In zwölf Kapiteln beleuchten die Beiträge verschiedene Facetten des Sports und umspannen dabei mehrere Länder und Epochen: von den Anfängen des Sports in Ägypten im 19. Jahrhundert über den Beginn der algerischen Fangesänge in den 1950er Jahren, dem Einmarsch der US-Truppen in den Irak in den 2000er Jahren bis zur aktuellen Debatte um die FIFA-WM der Männer in Katar.

Durch diese Fülle an Themen erinnert das Buch an einen alten View-Master, wo jedes Kapitel ein weiteres Bild zur Region und zum Spektrum Fußball ergänzt. Anders als beim View-Master, wo ein Hebel ruckartig das Bild wechselt, gelingt es dem Herausgeber, die Übergänge im Buch geschmeidig zu gestalten. Aspekte, die in einer Studie fehlen oder nur gestreift werden, greifen die Autor:innen im nächsten Beitrag auf. So zum Beispiel zu Beginn des Buches. Ibrahim Elhoudaiby beschreibt, wie Fußball sich in Ägypten vom Freizeitvergnügen einiger weniger bis zur Etablierung der ägyptischen Liga 1948 entwickelte. Von Anfang an ist klar, hier geht es um Einfluss und Macht. Etwas schwammig wird der Begriff Soft Power eingeführt, also Machtgewinn mit diplomatischen, kulturellen und wertebasierten Mitteln. Das Schärfen übernimmt Abdullah al-Arian im nächsten Kapitel. Anhand von unter anderem George W. Bushs Wahlwerbung mit der irakischen Fußballnationalmannschaft der Männer legt er offen, wo Soft Power in Hard Power übergeht, also Machtgewinn, der letztlich auch zur – fortgesetzten– Macht über Waffengewalt führen kann. Al-Arian zeigt so, wie Macht durch Fußball entsteht, aber auch, wo dabei die Grenzen liegen.

Ähnlich verhält es sich bei den Themen Identität, Staatsbürgerschaft und Nationalismus. Daniel Reiche untersucht, wie libanesische Einwanderungs- und Einbürgerungsgesetzte palästinensische Fußballspieler benachteiligen und geht dabei besonders auf das Problem der Staatenlosigkeit ein. Er bettet seine Studie in einen konkreten Kontext ein und verknüpft so geschickt die Fäden Identität, Migration und Fußball. So entsteht ein dichtes und vielschichtiges Bild davon, wie engmaschig die drei Themen im politischen Geflecht des Libanons miteinander verwoben sind. Anders Thomas Ross Griffin; er verpasst es, seine Ergebnisse auf die Frage, wie Spieler der Fußballnationalmannschaft von Katar ihre nationale Identität ausleben, einzubetten in das Migrationsregime in Katar. So ist das Kapitel für ein solch politische Thema überraschend unpolitisch und bleibt auch einer der schwächeren Beiträge des Buches.

Frauenfußball, die FIFA-WM in Katar und Messlatten aus Europa und Nordamerika

Dass Frauen in WANA begeisterte Fußballspielerinnen und -kämpferinnen sind, zeigen die beiden Beiträge von Yağmur Nuhrat und Niki Akhvan. Zwar beschreibt Nuhrat ausführlich, wie Frauenfußball in der türkischen Gesellschaft kleingehalten wird, ihre Ergebnisse sind aber wenig überraschend. Spannend wird es bei Akhvan, wenn sie beschreibt, wie Frauen in Iran für ihr Recht auf Stadionbesuch kämpfen. Ihre Ergebnisse könnten auch im Hinblick der aktuellen Proteste in Iran relevant werden. Denn, so ihr Fazit: Vor allem durch den Kontext Fußball konnten weltweit unterschiedliche Akteure erreicht und mobilisiert werden. Genau das brachte bereits vor drei Jahren das iranische Regime enorm unter Druck und führte dazu, dass Frauen Stadien besuchen durften – wenn auch nur vorübergehend. 

Einzig Zahra Babar setzt sich mit der FIFA-WM in Katar auseinander. Sachlich und detailliert zeigt sie die Reformen auf, die Katar seit 2010 unternommen hat, um die Bedingungen von Arbeitsmigrant:innen zu verbessern. Kritik äußert sie – anders als viele internationale Medien – an Menschenrechtsorganisationen und Aktivist:innen. Denn auch in autoritär regierten Staaten hätten die Bürger:innen Handlungsspielräume und entschieden, wie sie Gesetze anwenden und umsetzen. Daher sollten Aktivist:innen demnach auch die lokale Bevölkerung in ihre Kampagnenarbeit miteinbeziehen, wenn sie langfristig Erfolg haben wollten. Zum Nachdenken über die europäische und nordamerikanische Perspektive regt auch Simon Chadwick an. Er kritisiert, dass viele Studien die Fanszene in den Golfstaaten mit westlichen Modellen beschreiben. Chadwick beobachtet, dass sich in den GCC (Gulf Cooperation Council) -Ländern Fan-Sein anders äußert als in Europa oder in den USA; nämlich nicht durch, zum Beispiel, Stadionbesuche. Vielmehr sitzen Fans gerne zuhause oder in Cafés zusammen und schauen sich dort Spiele an.

Alles in allem ist der Sammelband sehr zu empfehlen. Neben Länder- und Theoriekunde erfahren Leser:innen viel über die gesellschaftliche, politische und – leider etwas weniger – über die ökonomische Dimension von Fußball in WANA. Teil des Bandes sind dabei Aspekte, die selten in Verbindung mit Fußball stehen, wie zum Beispiel Entwicklungszusammenarbeit. Besonders gut gelingt es vielen Autor:innen aufzuzeigen, in welchen unterschiedlichen Einflusssphären der Ballsport sich bewegt und bewegt wird. Das erinnert oftmals an einen Luftballon, der erst dann fliegt, wenn man ihm Macht einhaucht. In anderen Kontexten ist es genau umgekehrt, ein Thema gewinnt erst dann an Fahrt, wenn es im Diskurs Fußball steht.

Abdullah al-Arian (Hrsg.): Football in the Middle East - State, Society and the Beautiful Game. Oxford University Press: 2022. 336 Seiten, 36,50 Euro.

„Machtspieler – Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution“ von Ronny Blaschke: Entscheidend ist neben dem Platz

In dem Buch „Machtspieler“ spürt der Sportjournalist Ronny Blaschke weltweit den Wechselwirkungen zwischen Fußball und politischen Dynamiken nach – auch in Westasien und Nordafrika. Eine Rezension von Bodo Weissenborn.

Der Mythos, Fußball und Politik seien zwei getrennte Sphären, ist nicht klein zu kriegen. Man kann schon fast die Uhr danach stellen: Egal, ob nun bei der Diskussion um die One-Love-Binde bei der Fußball-WM in Katar oder wenn ein Team vor dem Spiel als Zeichen gegen Rassismus niederkniet – irgendwer wird irgendwo erklären, Politik habe im Fußball nichts verloren. Aber gerade in Katar wird auch deutlich, dass ein Turnier wie eine Fußball-WM egal in welchem Land nicht in einem gesellschaftspolitischen Vakuum stattfindet.

In diesem Nicht-Vakuum jenseits der eins-zu-null-Berichterstattung bewegt sich seit Jahren der Journalist Ronny Blaschke. Seine Recherchen zu Homosexualität oder Rechtsextremismus im Fußball waren bereits lesenswert. Das Buch „Machtspieler – Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution“ geht aber einen Schritt weiter, sowohl geografisch als auch inhaltlich. Geografisch war Blaschke für das Buch auf vier Kontinenten unterwegs; inhaltlich reichen die Themen von der Rolle des Fußballs in der Vergangenheitsbewältigung über seine Instrumentalisierung in der Gegenwart bis hin zu seiner Funktion beim Aufbau von künftigen Gesellschaften.

Der rote Faden ist der Fußball

Entstanden ist keine Vergleichsstudie, und das Buch erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Von den Unsummen, die Chinas Kommunistische Partei in die Entwicklung seiner Nationalmannschaft stecken lässt, sind kaum Rückschlüsse auf den Kampf russischer LGBTIQ*-Aktivist:innen mit fußballerischen Mitteln möglich oder die Erinnerung an Proteste gegen die argentinische Militärdiktatur während der WM 1978 – oder doch? Blaschke widersteht der Versuchung, zwischen den 13 Kapiteln plus Einleitung Zusammenhänge zu konstruieren. Jedes steht für sich, der rote Faden ist der Fußball.

Besonders lebendig sind die Kapitel, in denen viele Fans, Betroffene und Aktivist:innen vor Ort zu Wort kommen, etwa zu Ägypten, zum West-Balkan oder zu Ruanda. Andere bleiben eher analysierend, dazu zählt auch das Kapitel zu Katar. Das ist auch sinnvoll, weil das Kapitel über die Fußball-WM hinaus darauf blickt, wie Katar versucht, mit Hilfe des Fußballs sein eigenes Gewicht in der Welt zu vergrößern.

Das Iran-Kapitel schlägt den Bogen von der Schah-Zeit über die Islamische Revolution bis heute – wobei „heute“ nicht die aktuellen revolutionären Proteste beinhalten kann, schließlich ist das Buch von 2020. Dadurch bleiben auch Ereignisse wie die Covid-Pandemie oder der Ukraine-Krieg außen vor, was aber nicht weiter stört. Wie bei den anderen Kapiteln gilt auch hier: Für Menschen, die sich schon lange intensiv mit dem Land beschäftigen, enthält das Kapitel wohl wenig Neues, ist aber durch das Brennglas Fußball trotzdem kurzweilig zu lesen.

Blaschkes Interesse für die Themen überträgt sich beim Lesen

Leider ist das Kapitel zu Israel und Palästina recht anekdotisch geraten. Blaschke bearbeitet eine Vielzahl an Themen: die internationale Diskriminierung israelischer Sportler:innen, die Instrumentalisierung des Fußballs für politische Ziele in Palästina, den Rassismus innerhalb Israelischer Fanszenen und sogar die deutsch-israelische Aussöhnung. Leider schafft er es so bei keinem der Aspekte wirklich in die Tiefe. Und bei Sätzen wie „Die Benachteiligung der palästinensischen Bevölkerung ist vielfach dokumentiert worden“, ist Blaschkes Vorsicht, beim Topfschlagen im Minenfeld Israel/Palästina daneben zu langen, geradezu greifbar. Dennoch merkt man auch diesem Kapitel Blaschkes Interesse für seine Themen an, was sich auch auf die Leser:innen überträgt.

So bleibt ein insgesamt absolut empfehlenswertes Buch, für Menschen, die eben nicht nur den Fußball lieben, sondern sich auch für das Drumherum und die jeweiligen Wechselwirkungen interessieren – vorausgesetzt man akzeptiert, dass Fußball nicht im luftleeren Raum stattfindet.

Ronny Blaschke: „Machtspieler – Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution“. Bundeszentrale für politische Bildung, 2020. 256 Seiten, 4,50 Euro.

 

 

 

Sein Journalistik-Studium führte Bodo vor einigen Jahren in den Libanon. Es folgten viele weitere Aufenthalte im Libanon und in anderen Ländern der Levante, auch als Reiseleiter für Alsharq REISE. Bodo hat einen Master in Politik und Wirtschaft des Nahen und Mittleren Ostens in Marburg und arbeitet heute als Journalist, meist für die Badischen...
Eva Hochreuther studierte Nah- und Mitteloststudien in Mabrug und Migrationswissenschaften in Schweden. Während ihrer Studienjahre verbrachte sie einge Zeit in Kairo, Amman und Beirut.
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Claire DT