06.08.2018
Samara möchte nach Deutschland: „Hier habe ich kein Leben mehr“
Alsharq-Serie: Tschüss, Ya Biladi - Hallo Gorba! Collage: Tobias Pietsch. Fotos: Kairo (mit freundlicher Genehmigung), Berlin - Sascha Kohlmann, "East Berlin" via Flickr (https://flic.kr/p/jCae3t), Lizenz: CC BY-SA 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/)
Alsharq-Serie: Tschüss, Ya Biladi - Hallo Gorba! Collage: Tobias Pietsch. Fotos: Kairo (mit freundlicher Genehmigung), Berlin - Sascha Kohlmann, "East Berlin" via Flickr (https://flic.kr/p/jCae3t), Lizenz: CC BY-SA 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/)

Als studierte Archäologin und Touristenführerin findet Samira Samouel in Kairo nur einen Job in einem deutschsprachigen Call-Center. Mit einem Umzug nach Deutschland soll alles besser werden: Job, Studium, das soziale Umfeld. Samira Samouel möchte bald aus Ägypten nach Deutschland ziehen.

Dieser Text ist Teil unserer Serie „Tschüss ya Biladi, Hallo Gorba!”, in der junge Menschen aus Ägypten erzählen, warum sie nach Deutschland auswandern wollen - oder wie es ihnen seit ihrer Ankunft in Deutschland ergangen ist. Alle Texte der Serie finden Sie hier.

Kairo. Morgens am Tahrir Platz treffe ich Samira Samouel, eine 35 Jahre alte mittelgroße Frau mit langen schwarzen Haaren, die verzweifelt nach dem berühmtesten Restaurant auf dem Platz sucht. Mit einem freundlichen Lächeln begrüßt sie mich, zusammen laufen wir zu einem alten Café.

Samira freue sich, dass sie an ihrem freien Tag jemanden treffe, sagt sie. Freunde habe sie in Kairo nicht. Ihr neunstündiger Schichtdienst sei sehr unterschiedlich verteilt: mal arbeite sie morgens, mal mittags und mal nachmittags. Zeit für Hobbies oder Freunde habe sie da nicht. Außerdem wohne sie in einer WG für Frauen, deren Hausverwaltung zu einer Kirchengemeinde gehört. Um neun Uhr schließen die Türen und man muss eine Erlaubnis beantragen, um woanders übernachten zu dürfen.

Während wir schwarzen Tee trinken und Falafel essen, stellt mir Samira viele Fragen über das Leben in Deutschland. Wie sind die Leute, wie sehen die Wohnungen aus, wie sind die Preise. Und: Bin ich dort glücklich? Von ihrem Leben frustriert habe sich Samira in den vergangenen Jahren immer wieder überlegt, nach Deutschland zu gehen. Doch die endgültige Entscheidung habe sie erst vor kurzem getroffen: „Hier habe ich kein Leben mehr”, stellt sie klar.

„Ich möchte wissen, wie sich Deutschland so erfolgreich wieder aufgebaut hat“

Samira, die einen Bachelor in Archäologie und ein Diplom als Touristenführerin abgeschlossen hat, möchte ihren langen Traum verwirklichen: einen Master in Archäologie absolvieren. „Ich möchte zu der Restaurierung historischer Denkmäler recherchieren und das mit Tourismus verknüpfen.”

Sie will arbeiten und gleichzeitig studieren. Nur eine Sache zu machen sei doch langweilig, meint sie. Samira, die fließend Deutsch spricht, möchte auch die deutsche Kultur kennenlernen: „Ich möchte wissen, wie die Deutschen ihr Land nach dem Krieg aufgebaut haben. Und wie erreicht Deutschland seinen Erfolg im Tourismusbereich, obwohl es weniger Attraktionen als hier gibt?

Manchmal scheint es Samira, als ob Ägypten gerade erst einen Krieg hinter sich habe. Dafür nennt sie mehrere Gründe: eine wirtschaftliche Krise, große Armut und ein nicht funktionierender Staat. Die Leute hätten keine Loyalität und keine Manieren: „Sie schmeißen Müll auf die Straßen und jeder Taxifahrer verlangt zu viel Geld. Staatliche Mitarbeiter muss man bestechen, damit sie irgendetwas erledigen.“ Im Übrigen sei die Korruption überall. Die Produkte seien gefälscht und die Verkäufer Betrüger. Es gebe keine Kontrolle und keine Rechte für die Bürger. „Wenn die Polizei ein geklautes Auto findet, klauen sie, was noch darin verblieben ist. Auch in der Kirche sind sie korrupt, sie verlangen immer mehr Geld und verbessern die Dienstleistung nicht”, sagt sie.

„Ich bin die erste in der Familie, die eine Universität besucht hat“

Samira ist in einem kleinen Dorf im Süden Ägyptens aufgewachsen. Ihr Vater, inzwischen Rentner, war Beamter und hatte einen Bauernhof. Ihre Mutter ist Hausfrau. In seiner Jugend hatte sich ihr Vater kein Studium an der Universität leisten können. Daher unterstützte er all seine Kinder dabei, eine gute Ausbildung zu absolvieren. Samira traf die Entscheidung, Abitur zu machen und ein Studium abzuschließen. Sie war die erste Person in der Familie, die eine Universität besuchte. Heute ist Samiras Bruder Ingenieur, ihre Schwester promoviert in Literatur. Doch viele Verwandten kritisierte ihren Vater damals stark, weil Samira ein Mädchen war. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, dann hätte Samira wie alle anderen Mädchen eine Realschule besuchen und direkt nach dem Schulabschluss heiraten sollen.

„Das ist nicht das Leben, für das ich meine Familie verlassen habe“

Mit ihrem Studium in Ägypten jedoch war Samira nicht zufrieden: „Die Ausbildung hier ist zum Geschäft geworden. Die Professoren verkaufen ihre Bücher in den Seminaren und wollen möglichst viel Geld verdienen.” Ein Student solle lernen, zu recherchieren, Diskussionen zu führen und wissenschaftliche Ausflüge machen, meint sie. „Als ich meine erste Recherche gemacht hatte, hat der Professor die ganze Zeit nur mit dem Kopf genickt. Ich war schockiert.“ Der einzig gute Professor habe im Ausland studiert, in Deutschland oder den USA. Samira ist sich nicht sicher.

Neben ihrem Diplom hat Samira Deutsch gelernt und als Touristenführerin auf Arabisch, Deutsch und Englisch in Luxur gearbeitet. Seit dem Beginn der Revolution von 2011 steckt der Tourismus in Ägypten jedoch in der Krise. Arbeitsplätze im Bereich der Archäologie gebe es eherselten und mit einem sehr niedrigen Gehalt, erklärt Samira. Sie arbeitete als Telefonistin in der deutschen Schule für 800 ägyptische Pfund (rund 40 Euro) im Monat. Da habe sie nur Arabisch gesprochen. Nach kurzer Zeit fing sie an, in einem deutschen Kindergarten für 1000 Pfund pro Monat zu arbeiten. Dafür musste sie am Morgen zweieinhalb Stunden fahren, nachmittags den gleichen Weg zurück.

In Kairo fand sie schließlich eine Stelle in einem deutschen Callcenter. Dort verdiene Samira mit 4200 Pfund sehr gut, glücklich sei sie aber nicht: „Es geht mir viel besser als den anderen, aber habe ich mich die letzten sieben, acht Jahre denn überhaupt weiterentwickelt? Das ist nicht das Leben, für das ich meine Familie verlassen habe.”

„Die Leute denken, ich sei eine Schlampe“

Dennoch: Ihr Vater sei Stolz auf Samira. Er sei stolz, dass seine Tochter in einer internationalen Firma auf einer fremden Sprache arbeite. Dass sie ihr eigenes Geld verdiene und dass sie in der Hauptstadt Erfolg habe. „Er unterstützt uns alle und findet es gut, dass ich in Deutschland studieren möchte”, sagt Samira mit einem Lächeln.

Samiras Mutter aber sei nicht Stolz. Samira ist noch immer Single – mit 35 Jahren ist das ungewöhnlich in Ägypten und wird kritisch gesehen. „Mama guckt mich so frustriert und traurig an. Ich tue ihr leid”, erzählt Samira während sie nervös blinzelt. Sie sei offen mit den Männern und trage gerne kurze Kleidung. Viele sehen das als unanständig: „Die Leute denken, ich sei eine Schlampe. Das stört mich sehr”, sagt sie.

Ständig würden die Leute Samira direkt nach intimen Angelegenheiten fragen. Vor allem danach, ob sie immer noch keinen Mann habe: „Jeder hier mischt sich ständig in mein Privatleben ein. Auch in der WG: Sie gucken, ob ich regelmäßig in der Kirche bete. Das ist doch keine Aufgabe.”

„Könnte es passieren, dass mich jemand schlägt?“

Über ihren nächsten Schritt ist Samira sich bewusst: „Ich weiß, dass das Leben in Deutschland nicht einfach ist.” Da werde sie von Null anfangen. Solange sie aber einen Willen und ein Ziel habe, werde alles gut. Bestimmt werde sie dort nicht so frustriert sein wie hier. Bestimmt werde sie Leute treffen, die sie unterstützen. In Deutschland werde man Samira respektieren und wenn sie etwas mit einem Mann unternehme, werde er nicht versuchen sie sexuell zu belästigen. Samira, die täglich mit deutschen Kunden telefoniert und mal mit einer deutschen Studentin gewohnt hat, bezeichnet die Deutschen als logisch und ernst. Sie würden nicht lügen und ihre Versprechen halten. „Oder?“, fragt sie weiter.

Denn trotzdem gibt es einige Bedenken. Es sei für Samira wichtig in einer Stadt zu leben, wo die Leute keine Ausländerfeinde seien. Sie macht sich Sorgen, dass jemand sie verletzen könnte. „Könnte es passieren, dass mich jemand schlägt?”, fragt sie mich. Außerdem hat sie Angst, dass ihre Handschrift kaum lesbar sei und erkundigt sich, ob das ein Problem in Deutschland werden könnte. Trotzdem ist sie sich ihrer Entscheidung sicher: „Ich werde keine Angst haben, auch wenn ich eventuell scheitere. Ich finde es wichtig, diese Erfahrung zu sammeln.” Es motiviere sie, dass viele andere Bekannte von ihr nach Deutschland ziehen und dort erfolgreich seien.

Deshalb spart Samira Geld für die Reise, bewirbt sich für einen Bundesfreiwilligendienst und informiert sich über ihre Möglichkeiten zur Ausbildung: „Ich möchte erst einmal die Gesellschaft kennenlernen und gucken, ob ich mich wohl fühle. Ich werde ihre Traditionen respektieren, möglichst viel über die Gesetze und Kultur lernen und mich anpassen. Aber sie sollen auch meine Traditionen akzeptieren.”

„Was tue ich denn für Ägypten?"

In Kairo jedenfalls sieht Samira keine Perspektive mehr für sich: „Ich habe schon Loyalität zu Ägypten. Und vorher dachte ich: ‚Wie kann man seine Heimat verlassen?’ Aber was genau tue denn ich für Ägypten?” Sie arbeite in einer ausländischen Firma, in einer fremden Sprache und ihr Gehalt werde von einem fremden Land bezahlt. „Mein Vater hat Geld bezahlt, damit ich meine Muttersprache lerne. Aber die hat jetzt leider keinen Wert“, erzählt sie. Und auch in ihr Dorf könne sie nicht zurück: „Bei uns ist die Frau, die als Single alt geworden ist, wie eine Schande, die besser erschossen wird.“

Der Pfarrer in der Kirche, in der sich Samiras WG befindet, sagte einmal zu ihr: „Du solltest in dein Dorf zurückgehen. Was hast du bis jetzt geschafft? Was machst du hier überhaupt?“ Immerhin mit seinen Fragen traf er ins Schwarze.

Artikel von Aisha Abdelrahman
Redigiert von Johannes Gunesch, Jan-Holger Hennies