29.04.2018
Syrien: diplomatischer Stillstand vor der drohenden Eskalation
Wie so oft in Syrien: Wenn die Panzer rollen, müssen die Menschen fliehen. Was hier auf dem Foto noch für Aleppo galt, könnte bald für mehrere Gebiete Syriens gelten. Foto: Dmitry Golovko/Mil.Ru (Syrien. Aleppo. Dezember 2016) [CC BY 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/)], via Wikimedia Commons
Wie so oft in Syrien: Wenn die Panzer rollen, müssen die Menschen fliehen. Was hier auf dem Foto noch für Aleppo galt, könnte bald für mehrere Gebiete Syriens gelten. Foto: Dmitry Golovko/Mil.Ru (Syrien. Aleppo. Dezember 2016) [CC BY 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/)], via Wikimedia Commons

Nach den jüngsten Raketenangriffen und militärischen Offensiven in Syrien hat sich im dortigen Bürgerkrieg eine kurze Phase der Neuordnung eingestellt. Was danach folgt, werden allerdings weitere, gefährliche Eskalationen sein. Europa steht dabei nur am Rand und wird, sollte man die Strategie nicht ändern, kaum eingreifen können.

Als die USA, Frankreich und Großbritannien Mitte April mehrere Raketen auf drei Einrichtungen der syrischen Regierung abfeuerten, die in Verbindung zu ihrem Chemiewaffenprogramm stehen, machten alle drei klar, dass sich daraus keine politische Strategie ableite. Die Angriffe waren als Vergeltung für eine Giftgasattacke auf den Damaszener Vorort Duma gedacht, hinter der die drei westlichen Staaten das syrische Militär vermuteten.

Dies werde allerdings keinen Einfluss auf die Situation im syrischen Bürgerkrieg haben, betonten Frankreich und Großbritannien im Nachhinein. Es sei keine Kriegserklärung gegen Syriens Machthaber Assad – die Maxime der Europäer, um den Konflikt zu lösen, so versicherte auch Deutschland, seien diplomatische Verhandlungen. Auch die Europäische Union stimmt dem zu. Die UN-geführten Friedensgespräche in Genf seien weiterhin der Fokuspunkt ihrer Syrienstrategie, die Militärschläge seien davon losgelöst.

Daraus leitet sich aber ein Problem ab: Die Genfer Gespräche sind tot, die UN beschränkt sich auf humanitäre Hilfe und wenn es ein Element gibt, das die Dynamiken des Bürgerkrieges bestimmt, dann sind es militärische Aktionen, keine Verhandlungen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, einer Schlüsselphase des syrischen Bürgerkrieges, so eine Position einzunehmen, ist gefährlich. Das Land steht kurz vor einer erheblichen militärischen Eskalation, die nur darauf wartet auszubrechen. Das birgt ein enormes Gefahrenpotential, das eingedämmt werden muss. Die europäischen Staaten haben sich jedoch bereits vom Konflikt abgekapselt und können dessen weitere Entwicklung kaum noch bestimmen. Zumindest nicht ohne einen Strategiewechsel.

Syriens verschachtelter Bürgerkrieg

Auf den ersten Blick könnte man der Argumentation folgen, dass nach den Siegen, die Syriens Regierung seit der Rückeroberung von Ost-Aleppo Ende 2016 nach und nach errungen hat, der Bürgerkrieg abflacht, da Assad Regierung nun die Kerngebiete kontrolliert und die Opposition zerschlagen ist. Letzteres stimmt, denn Syriens Rebellengruppen sind an ihrer Heterogenität zerbrochen und trotz beträchtlicher Hilfe aus dem Ausland internen Rivalitäten verfallen. Die jüngste Offensive um Ost-Ghuta, in deren Zuge die Giftgasangriffe stattfanden, verlief auch deswegen so erfolgreich, weil die syrische Regierung die konkurrierenden Widerstandsgruppen dort effektiv gegeneinander ausspielte. Doch die Zersplitterung der Rebellen und der Siegeszug von Assad bedeuten nicht, dass dadurch die Lage ruhiger geworden ist.

Das hat viel mit der von Damaskus angewendeten Strategie zu tun: Obwohl Kritiker der Armee vorwarfen, Vernichtungsfeldzüge gegen die Opposition durchzuführen, ist Syriens Regierung komplexer vorgegangen. Rücksichtlose und fatale Taktiken, wie monatelange Belagerungen von umkämpften Gebieten, dem massiven Einsatz von Luftschlägen und Elementen psychologischer Kriegsführung, wie dem Einsatz von Fassbomben, machten nur einen Teil ihres Vorgehens aus. Der zweite Aspekt war, wie man in nahezu allen Offensiven seit Aleppo 2016 sehen konnte, eine Kapitulation zu erzwingen und darauf aufbauend Evakuierungsabkommen.

Damaskus hat seine Gegner nicht annihiliert, sondern besiegt und zusammen mit ihren Familien in Bussen weggekarrt. 66.000 ist die Anzahl der Evakuierten, die die UN für Ost-Ghuta angibt, während Zwangsevakuierungen von Zivilisten, ohne militärische Notwendigkeit, Kriegsverbrechen darstellen. Die syrische Regierung stützte sich trotzdem systematisch darauf. Sowohl als taktisches Mittel, um der eigenen Armee verlustreiche Häuserkämpfe zu ersparen, als auch als Kalkül, um alle Rebellen im Nordosten des Landes, um die Provinzen Aleppo und vor allem Idlib, zu versammeln.

Dadurch hat Syriens Regierung die Formierung eines explosiven Flickenteppichs rivalisierender Rebellen mit befeuert. Tonangebend ist dort Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die als Vereinigung mehrerer Milizen Mitte 2017 entstand und von al-Qa’idas syrischem Ableger angeführt wird. Ihr bedeutendster Gegner ist Ahrar al-Sham, die einst als syrische Taliban beschrieben wurde. Jahrelang agierten beide Seiten zusammen, bis sie sich 2017 miteinander überwarfen und seitdem erbittert bekämpfen. Ideologisch sind sie auch wegen ihrer früheren Kooperation nah aneinander, die Konfliktpunkte sind eher politischer Natur, was ebenfalls für die restlichen Gruppen in Idlib gilt.

Das macht die Situation dort so komplex. Die Grenzen zwischen international legitimierten Oppositionskräften und geächteten Extremisten sind verschwommen. Anfang Februar 2018 hat die syrische Armee ihre letzte Offensive in der Region abgeschlossen und dabei Kämpfe zwischen HTS und Da’esh (sog. IS, Red.) ausgenutzt. Als sich danach abzeichnete, dass die Armee weiter in Idlib vorstoßen könnte, schlugen mehrere Stellen Alarm. Die humanitären Auswirkungen für die über drei Millionen Menschen dort, deren Großteil über Evakuierungsabkommen hingebracht wurde, wären katastrophal gewesen. Auch die französische Regierung gehörte zu denjenigen, die sich besorgt zeigte, aber sich dabei auf warnende Pressemitteilung beschränken musste. Am Ende war es eine Mischung aus türkischen Militärposten, die an den östlichen Provinzgrenzen von Idlib aufgestellt wurden und die gestartete Offensive um Ost-Ghuta, die das verhinderte.

Falls nun die syrische Regierung einen Sturm auf den Nordosten des Landes starten sollte, gäbe es wenig bis nichts, das die europäischen Staaten dagegen unternehmen könnten, entgegen aller geäußerten Warnungen und dem folgenden humanitären Desaster. Ein Angriff auf HTS in Idlib kann nur schwer verhindert werden, immerhin klassifiziert unter anderem die USA die Gruppe als Terrororganisation.

Der einzige Plan um eine Offensive von Damaskus abzuwenden besteht momentan darin, dass die Türkei durch ihre Militärposten Zeit gewinnen kann, bis HTS seine Kontrolle verliert. Sollte die EU diese Schlüsselfrage beeinflussen wollen, bleibt abgesehen von der Kooperation mit Ankara keine Alternative. Dabei sind die Gruppierungen, mit denen die Türkei zusammenarbeitet, für europäische Staaten kontrovers: Ahrar al-Sham, der Hauptverbündete Ankaras im Kampf gegen HTS, wurde von einem deutschen Gericht 2017 zu einer terroristischen Vereinigung erklärt und zwei ihrer Unterstützer zu Haftstrafen verurteilt.

Internationale Verflechtungen

Zudem galt die türkische Militärverlegung nicht nur der Situation in Idlib selbst, sondern vor allem der Unterstützung ihres Feldzuges gegen die Kurden-Miliz der YPG (Volksverteidigungseinheiten) in Afrin. Bereits im Oktober 2017 wurden hierfür erste Beobachterposten ausgehoben, die später im Februar ausgeweitet wurden, um zu verhindern, dass die YPG sich nach Süden oder Westen ausbreiten kann. Das verdeutlicht eindeutig die Prioritäten Ankaras, die dem Kampf gegen die YPG den Vorrang gibt und damit eine Kooperation mit der EU schwierig macht. Die Kurden zählen zu Europas Verbündeten im Kampf gegen Da’esh und britische und französische Spezialeinheiten führen diese Zusammenarbeit bis heute vor Ort fort.

Doch die Türkei hat bereits klar verlautbart, nach der Eroberung von Afrin und dem Ausbau ihrer Besatzungszone im Norden Syriens die restlichen Gebiete der Kurden an der Grenze einnehmen zu wollen. Bevor sich die türkische Führung der komplexen Situation in Idlib annimmt und al-Qa’ida dort zerschlägt, wird man eher am Ostufer des Euphrats ansetzen. Allerdings ist der enorme Strom an Flüchtenden an der türkischen Grenze im Falle einer syrischen Offensive in Idlib ein Faktor, der in dem Punkt Verhandlungen forciert.

Letztlich wird dadurch, wie bereits Mitte 2017, als die finalen Offensiven auf die verbleibenden Gebiete von Da’esh nach Vereinbarungen zwischen Russland, der Türkei und Iran losging, diese Dreier-Achse die kommenden Entwicklungen in Syrien dominieren. Den jüngsten Offensiven in Afrin und Ost-Ghuta ging wahrscheinlich bereits eine Vereinbarung zwischen ihnen voraus - ähnliches könnte sich nun wiederholen. Die UN oder Europa spielen in dieser Gleichung dabei nur eine Randrolle. Einzig die USA haben sich über ihre tiefgreifende Kooperation mit der YPG und ihre Militärpräsenz einigen Einfluss gesichert, der allerdings auch deutliche Grenzen hat.

US-Militärstellungen in den verbleibenden YPG-Gebieten sind momentan das größte Hindernis einer türkischen Offensive und Gegenstand von Spannungen zwischen Ankara und Washington – und Damaskus. Denn momentan sind die größten Erdöl- und Gasfelder, mehrere Wasserquellen und ein Großteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche Syriens unter de facto US-amerikanischer Kontrolle, was Assad und insbesondere seine Finanziers aus Iran und Russland nicht akzeptieren. Die reine Präsenz der USA im Land stärkt damit die Dreier-Achse, während Washington mit seiner Passivität während der Eroberung Afrins seinen Beziehungen zu den YPG massiv geschadet hat.

Dabei wären die Auswirkungen neuer Offensiven enorm: Die YPG ist seit mehreren Monaten damit beschäftigt, die verbleibenden Gebietsfetzen von Da’esh kleinzuhalten, die sich in Syriens Ostwüste halten. Wirklich besiegen konnte man die Extremisten nicht, ihre Schläfer-Zellen warten nur auf den geeigneten Moment, um zurückschlagen. Eine türkische Offensive auf die verbleibenden kurdischen Gebiete wäre so eine Möglichkeit dafür; oder der Abzug der rund 2000 US-amerikanischen Soldaten aus den Gebieten der YPG.

Donald Trump hat ihren Abzug jedoch bereits angekündigt und abgesehen von einer arabischen Ersatztruppe, die schnell vom Tisch gewischt wurde, keine Alternativen in Aussicht gestellt. Das Gleiche gilt für das Schicksal von Raqqa, der aus den Händen von Da’esh zurückeroberten Großstadt, deren Wiederaufbau schleppend verläuft. US-Hilfen beschränkten sich vermehrt auf den Einsatz von Kampfjets, weniger auf die Stabilisierung, und eine Kehrtwende in Washingtons Position ist nicht in Sicht. Sollte dabei die jetzige Administration in Raqqa scheitern, könnte das die Rückkehr von Da’esh beflügeln. Europa könnte hier ansetzen und die Rekonstruktionsmaßnahmen anführen, aber Vorstöße dazu blieben bis jetzt aus, auch aufgrund von Widerstand aus Ankara, wo man hinter den Verwaltern Raqqas nur die YPG sieht.

Diese Konstellation hält Da’esh am Leben. Die Organisation weiß, dass die Zeit für sie spielt, solange keine politische Lösung für ganz Syrien gefunden wird. Sie muss lediglich auf kommende Eskalationen warten. Nicht nur in Beug auf die YPG: Denn auch Iran hat klar gemacht, US-Truppen in Syrien nicht zu akzeptieren, während Washington iranischen Einfluss dort zurückdrängen möchte. Mit dem wahrscheinlichen Scheitern des iranischen Nuklearabkommens Mitte Mai deutet alles auf eine Verschärfung der Spannungen hin. Verstärkt durch die in Washington wieder aufgekommene Idee von Regime Change in Teheran, könnte das direkte Auswirkungen auf Syrien haben. Das Warten würde sich dann lohnen.

Iran hat dort genug Einfluss, um die weiteren Entwicklungen als Druckmittel gegen die USA zu verwenden, während Washington mit seiner unklaren Zielsetzung im Bürgerkrieg wiederum angreifbar ist. Kampf gegen Da’esh und al-Qa’ida, Destabilisierung von Assads Macht, Kontern Moskaus und Abwenden einer Eskalation zwischen Israel und seinen Nachbarn – Irans Führung weiß, dass vieles davon mit ihr zusammenhängt. In den Gebieten um die Stadt Dara'a, die bis jetzt als Art Pufferzone mit den von Israel besetzten Golanhöhen fungiert hat und teils von Rebellen gehalten wird, könnte sich das zeigen.

Eine Offensive der syrischen Regierung dort, unterstützt durch pro-iranische Milizen, könnte Ausdruck von Teherans Muskelspiel sein, wodurch sich allerdings die Armeen Israels und Irans gefährlich nahekommen würden. Bis jetzt gab es die stillschweigende Vereinbarung zwischen beiden Seiten, dass alles was in Syrien passiere, in Syrien bleibe, also es ohne generelle Auswirkungen bleibt, wenn etwa Israel Militärstellungen und Konvois von Teherans Verbündeten, der libanesischen Hisbollah, bombardiert. Das galt für die rund 100 israelischen Angriffe auf Ziele in Syrien seit 2013 - bis zum 10. Februar 2018, als es zur bis dato gefährlichsten Eskalation kam. Zunächst überquerte eine iranische Drohne die israelische Grenze und wurde abgeschossen. Daraufhin flog Israels Luftwaffe die schwersten Angriffe in Syrien seit 1982 und griff direkt Stellungen an, die nicht der Hisbollah gehörten, wobei wiederum ein israelischer Kampfjet abgeschossen wurde.

Die diskreten rules-of-engagement scheinen sich seit diesem Vorfall aufzulösen. Russland kritisierte zum ersten Mal offen kurz darauf den jüngsten israelischen Angriff auf Syrien im April und spielt damit, Damaskus das technisch fortgeschrittene S-300 Flugabwehrsystem zu überlassen. Israel zeigte hingegen direkter seinen Unmut mit der Lage im Nachbarland. Die Rhetorik wurde schärfer. Eine Militärpräsenz der syrischen Regierung, Irans oder der Hisbollah um Dara’a wäre der nächste Schritt hin zu einer Verschärfung der Lage und würde sogar die Weichen stellen für einen regionalen Krieg – außerhalb Syriens.

Die Rolle Europas

Auch in dem Fall lässt sich die Frage, was die europäischen Staaten dieser fatalen Entwicklung entgegenstellen können, kaum beantworten. Viele Optionen gibt es nicht – sollte Damaskus eine Offensive im Süden anstoßen, kann vermutlich nicht einmal Russland das verhindern. Anreize gibt es letztlich dafür genügend, weil der Grenzübergang zu Jordanien in der Nähe von Dara’a eine lukrative Einnahmequelle ist, die Syriens angeschlagene Finanzen definitiv brauchen.

Momentan konsolidiert die syrische Regierung noch ihre Kontrolle in verbleibenden Gebieten in und um Damaskus, mit denselben rücksichtslosen Methoden, die sie seit dem Beginn des Krieges anwendet. Aber jenseits von Kritik und Tadel demgegenüber müssen sich die europäischen Länder die Frage gefallen lassen, was ihre konkreten Handlungsmöglichkeiten in Syrien sind.

Denn die Zeichen stehen auf weitere Eskalation, weswegen die jetzige Phase mehr ein letztes Luftholen ist, bevor die jeweiligen Teilkonflikte ausbrechen. Will Europa die Lage mitbestimmen und potenzielle Krisen abwenden, sei es ein Wiedererstarken von Da’esh, ein humanitäres Desaster oder einen katastrophalen regionalen Krieg, gilt es zunächst die eigene Strategie zu ändern. Assads Sturz fordern, auf die Genfer-Verhandlungen setzen und dabei Iran, die Türkei und Russland zu kritisieren, hat die vergangenen Jahre nicht funktioniert und wird es auch in den kommenden nicht. Genauso wenig wie Frankreichs härtere Haltung gegenüber Teheran – immerhin haben scharfe Töne Irans Führung auch früher nur wenig beeinflusst. Wenn die einzige Antwort die Beteiligung an limitierten, US-geführten Raketenschlägen ist, wird Syriens Zukunft woanders bestimmt werden. Und das nicht zum Guten. 

Parham Kouloubandi studiert an der Sciences Po in Paris International Security und beschäftigt sich hauptsächlich mit sicherheitspolitischen Fragen und zwischenstaatlichen Beziehungen in Westasien. Sein Fokus liegt auf bewaffneten Konflikten und Diplomatie, vor allem in Hinblick auf die UN. Er ist zudem als Berater für eine ägyptische...