30.03.2014
Syrische Flüchtlinge im Libanon: „Jetzt hasst ihr mich“
Zeltlager für syrische Flüchtlinge im Libanon: Düstere Aussichten. Photo: Plus8gmt/Flickr (CC).
Zeltlager für syrische Flüchtlinge im Libanon: Düstere Aussichten. Photo: Plus8gmt/Flickr (CC).

Bei einem Besuch im Nordlibanon im Januar 2014 übersetze ich für eine französische Fotografin, die syrische Flüchtlinge mit dem Gegenstand fotografiert, den sie zur Erinnerung aus der Heimat mitgenommen haben. So erzählen drei Familien uns vom Bürgerkrieg und von der Flucht.

Mischmisch, ein kleines Dorf im Norden des Libanons. Wir treten in die Wohnstube ein, die Wände sind in grüner, abblätternder Farbe gestrichen. Die vergitterten Fenster sind mit bunten Vorhängen halb verhangen, die Wände mit Matratzen und Kissen gesäumt. In einer Ecke türmen sich weitere Matratzen und Decken. Ein Holzofen mit langem Abzugsrohr steht mitten im Raum, die Hausherrin bäckt dünne Fladen darauf. Dazu ein Fernseher auf einem Tischchen.

Wir werden herzlich begrüßt, die Fotografin war schon einmal hier, ich stelle mich vor: Der Hausherrin, etwa 40 Jahre alt, den drei Söhnen zwischen zehn und 20 Jahren, und wir beginnen uns gegenseitig auszufragen. Es stellt sich heraus, dass ich vor drei Jahren in ihrem Heimatdorf war; dort steht eine berühmte Kreuzfahrerburg, der Crac des Chevaliers.

Ich übersetze für die Fotografin, sie stellt ihr Mikrophon auf, und wir stellen Fragen: Wie seid ihr in den Libanon gekommen? Wie ist die Flucht abgelaufen und was soll passieren?

Ihr Dorf, Al-Husn, keine zehn Kilometer von der Grenze bei Homs gelegen, war lange Zeit sicher, doch eines Nachts kam die Gegend unter heftigen Beschuss: Das Gebiet ist eine wichtige Route für Rebellen, um über die wenig gesicherte Grenze in den Libanon zu kommen. Dort können sie sich mit allem Nötigen versorgen, inklusive Kriegsgerät. Um die Nachschubrouten abzuschneiden, bombardierte die syrische Armee die Gegend.

Die Familie hält die Nacht aus und verlässt am nächsten Morgen Syrien. Sie reisen über reguläre Grenzposten in den Libanon ein, mit nichts als ihren Kleidern am Leib. Der beachtliche Wohlstand der Familie, ihre Häuser und Felder, ihre Universitätsstudien bleiben zurück. Seit etwas mehr als einem Jahr wohnt die Familie im Erdgeschoss eines Hauses im Dorf Mischmisch in den Bergen des Nordlibanons, knappe 30 Kilometer Luftlinie von ihrer Heimat entfernt. Sie gehen selten hinaus, die Jungs der Familie werden von der libanesischen Dorfjugend beschimpft und geschlagen, weshalb auch niemand zur Schule geht.

Später kommt der Vater – er, ein ehemals international agierender Immobilienunternehmer, scheint die Situation in diesem Raum aussitzen zu wollen. Die zugigen Fenster und das Bad, ein ungeheizter Raum im Hof, die Abwesenheit aller Perspektive, die Arbeitslosigkeit, die scheinbare Unmöglichkeit von Schul- oder Universitätsstudien sind eine neue Realität, die sich dieser ehemaligen Mittelklassenfamilie mit aller Gewalt aufzudrücken scheint. Haben sie aufgegeben, für sich kämpfen zu wollen?

Wir unterhalten uns über das alte Syrien, über die Kreuzfahrerburg, über schöne Dinge, wir essen Fladen und trinken Tee, und erwehren uns der Einladung, den Tag und die Nacht zu bleiben: herzliche Menschen.

Fragmente der Erinnerung

Eine zweite Familie wohnt wenige Häuser weiter. Wir werden in den großen Wohnraum gebeten, wo sich die ganze Familie versammelt: Mutter und Vater, ihre drei Töchter zwischen 17 und 25, die drei jugendlichen Söhne, und die Kinder der beiden ältesten Töchter, drei, vier und fünf Jahre alt. Einige Nachbarskinder sind auch dabei: Eine große Runde. Kaffee, Tee und Kekse werden serviert. Wir beginnen von neuem: Das Mikrophon der Fotografin macht die Atmosphäre etwas offiziell, bis es alle wieder vergessen. Die Frage der Fotografin: Was ist der eine Gegenstand, den ihr aus Syrien mitgenommen habt, obwohl ihr fast nichts mitnehmen konntet: euer Erinnerungsstück? Unsere ersten Gastgeber hatten – nichts. Nur sich selbst und ihre Erinnerungen.

In dieser Familie jedoch nimmt die älteste Tochter ihre Halskette ab: Es ist eine graue metallen-stumpfe Kette, an der, zwei Zentimeter lang, einen halben Zentimeter dick, das kupferne Projektil einer Kalaschnikow baumelt.

Die Familie stammt aus der Innenstadt von Homs, einer ehemals wohlhabenden mittelgroßen Stadt im westlichen Zentralsyrien. Im syrischen Bürgerkrieg hat sich dort eine starke Rebellenpräsenz entwickelt, die Innenstadt wird immer mehr zum Schauplatz von Bombardements und Häuserkämpfen. Heute ist die Stadt ein Trümmerfeld, das an das Berlin von 1945 erinnert. Dort bewohnte die Familie bis vor eineinhalb Jahren ein Haus. Bis heute werden die Kämpfe immer stärker, es wird zunehmend unmöglich, das Haus zu verlassen oder sich mit Lebensmitteln zu versorgen.

Ein Raum der Wohnung der Familie lag im Schussfeld eines Scharfschützen. Die älteste Tochter ging dennoch hinein, um etwas zu holen – als eine Kugel an ihrem Kopf vorbeischießt und die Tür durchschlägt. Ihr Mann hat die Kugel aufgehoben und eine Öse an das stumpfe Ende gelötet. Sie sagt, die Kette sei ihr Andenken an ihr Leben: Dieses Stückchen Metall hätte auch ihr Ende sein können.

Es ist auch das Andenken an ihren Mann: Wenig später wurde er von Regierungstruppen verhaftet. Seither gibt es keine Nachricht mehr von ihm – die syrischen Gefängnisse sind im Bürgerkrieg mehr denn je zum Schauplatz schwerster Verbrechen geworden, viele Insassen sind ums Leben gekommen. Die Frau bleibt zurück mit ihren beiden Kindern. Dem Ehemann ihrer jüngeren Schwester ist dasselbe Schicksal zuteil geworden, auch von ihm gibt es keine Nachricht und auch seine Verhaftung liegt fast ein Jahr zurück.

Gestern und heute verschwimmt

Eines Tages, in der Wohnung in Homs, sind die Geräusche eines Kampfflugzeuges der syrischen Luftwaffe zu hören, es folgt ein schwerer Schlag in der Wohnung des Nachbars der Familie. Eine Rakete hat eine Wand durchschlagen, ist durch den Raum geschossen und in der gegenüberliegenden Mauer steckengeblieben – ein Blindgänger.

Dann wird der älteste Sohn bei Kämpfen oder einem Bombardement schwer verletzt. Er erleidet schlimme Kopfverletzungen. Die Familie pflegt ihn, so gut es geht, ein Krankenhaus aufzusuchen ist undenkbar. Als sich ein Treck von dreißig Familien aufmacht, die Stadt zu verlassen und mit allen Seiten sicheres Geleit verhandelt, schließen sich unsere Gastgeber mit ihrem bewusstlosen Sohn an. Eines der Autos wird trotz der Verhandlungen unter Beschuss genommen, die Insassen kommen ums Leben. Unsere Gastgeber flüchten weiter nach Qalamoun, einer Gegend unweit von Damaskus, die unter Kontrolle der Rebellen steht, und kommen dort für ein Jahr unter. Der älteste Sohn stirbt dort an seinen Verletzungen.

Im Spätherbst und Winter 2013 startet die syrische Armee eine Offensive gegen die Region, die den syrischen Rebellen als Nachschubroute dient. Die Familie flieht wieder, elf Erwachsene und Kinder in einem Auto, nachts inmitten des Winters, der diesen Dezember besonders schneereich ausfällt: Eine zweite Flucht im Schneesturm. Die Grenzsoldaten lassen die Familie passieren – als wir uns kennenlernen, sind sie seit einem Monat in Mischmisch. Die Kinder präsentieren Stofftiere, die sie schon in Homs besaßen: So viel bleibt Syrien, Plüsch und eine Gewehrkugel. Drei junge Männer fehlen.

Keine Träume mehr

Die Fotografin und ich brechen auf. Es ist dunkel geworden und wir gehen zur dritten Familie dieses Tages. Die etwa fünfzigjährige Mutter, ihre zehnjährige Tochter, ihr 28-jähriger Sohn, dessen Frau und ihre drei Wochen alte Tochter leben in einer gemütlichen Wohnung, zwei Zimmer, Küche, Bad.

Es gibt Tee und Süßigkeiten, wir sitzen auf den Matratzen entlang der Wand und beginnen zu fragen. Der Gegenstand der Zehnjährigen ist ein Plüschtier; der Sohn sucht einige kleine Sachen zusammen. Es sind ein Handschuh ohne Fingerspitzen, wie ihn Soldaten oft benutzen, ein Feuerzeug, ein schlichter Halsanhänger und ähnliches. Die Gegenstände hat er von seinen Freunden geschenkt bekommen, Kleinigkeiten.

Er stammt aus Qusair, einem Städtchen südlich von Homs, direkt an der libanesischen Grenze. Es wird seit 2012 heftig attackiert, doch die Bevölkerung wehrt sich, auch unser Gastgeber: Zuerst organisiert er mit seinen Jugendfreunden Essen und die Versorgung von Verwundeten. Später bewaffnen sie sich, um die Stadt gegen die Regierungstruppen zu verteidigen. Als die libanesische Hisbollah die syrischen Regierungstruppen ab April 2013 in einer Offensive gegen die Stadt unterstützt, verloren sie Stück für Stück die Stadt, immer mehr Zivilisten flohen. Die Jugendfreunde sterben nacheinander in den Kämpfen und die Gegenstände erhalten ihre neue Bedeutung – als Andenken.

Den Handschuh jedoch nimmt er einem Scharfschützen der Hisbollah ab. Während der Schlacht um Qusair erschießt dieser 192 Menschen, so sagt der Sohn – darunter zwei seiner Jugendfreunde. Den Scharfschützen erwischt er schließlich, lebend. Er bringt ihn zu den Familien seiner beiden Freunde, dort töten sie den Kämpfer gemeinsam: „Dabahnahu – wir haben ihn geschlachtet.“

Er erzählt, dass er Qusair mit seiner Familie als einer der letzten Rebellen und Zivilisten verlassen hat, in einem Treck in den Libanon. Auf dem Weg werden sie beschossen, viele der anderen Flüchtlinge sterben. Qusair sei geschleift worden, niemand lebe dort jetzt, nur Soldaten der syrischen Regierung. Seit bald einem Jahr seien sie in Mischmisch.

Wir sind wie betäubt von dieser Erzählung. Der Sohn sagt: „Und jetzt hasst ihr mich.“ Wir wehren ab. Hier sitzt ein Guerillakämpfer und auch ein Kriegsverbrecher. Wie wollen wir werten?

Er ist in meinem Alter, wir verstehen uns gut. Wir übernachten, der Sohn bereitet mir ein Lager aus Matratze und Decken, besteht darauf, dass ich einen Schlafanzug von ihm trage und sorgt sich, dass es alle warm genug haben. Die Frauen schlafen im Wohnzimmer, er und ich im Nebenraum. Er fragt mich aus, über Europa, europäische Frauen, ich frage ihn nach seinen Zukunftsträumen. Matratzenlagergespräche.

Er sagt, er habe keine Träume mehr – sie seien tot und in Qusair geblieben, mit seinen Freunden, und vielleicht bei einem Kämpfer der Hisbollah.