28.02.2020
Trashige Beats, wichtige Botschaft
Höchste Zeit schablonenhafte Denkmuster aufzubrechen – es lebe die konstruktive Verwirrung! Grafik: Paul Bowler
Höchste Zeit schablonenhafte Denkmuster aufzubrechen – es lebe die konstruktive Verwirrung! Grafik: Paul Bowler

In Kairos Slums sind Mahraganat-Musiker das Sprachrohr einer marginalisierten Generation. Immer mehr Jugendliche begeistern sich für die wilden Beats, doch nun soll ihre Musik verboten werden. Das hat politische Gründe, schreibt Hannah El-Hitami.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Während sich Menschen in Asien und Europa um das Corona-Virus sorgen, steht Ägypten scheinbar einem viel bedrohlicheren Feind gegenüber. Sein Name ist Electro-Shaabi. Und im Gegensatz zum Corona-Virus hat er bereits Millionen infiziert. Electro-Shaabi oder Mahraganat ist die Musik der marginalisierten Jugend aus Kairos Außenbezirken. Sie ist das Sprachrohr einer enttäuschten Generation und gleichzeitig der Soundtrack ihrer ausgelassenen Partys.

Glaubt man dem ägyptischen Parlamentarier Salah Hasaballah, ist diese Musik für Ägypten und die Region gefährlicher als Corona. Das sagte er zumindest Mitte Februar in einer Talkshow auf dem Sender Al-Balad. Dort behauptete er auch, dass Kriege heute nicht mehr mit Panzern und Raketen geführt werden, sondern mit Angriffen auf die Werte einer Gesellschaft. Entscheidet selbst, wo ihr diesen Typen auf der Seriositäts-Skala einordnen wollt.

Mit seiner Meinung ist Hasaballah jedenfalls nicht alleine. Mitte Februar hatte das ägyptische Musiker*innen-Syndikat entschieden, Mahraganat-Musikern[1] die Lizenz zu entziehen und Einrichtungen zu bestrafen, die dieser Musik eine Plattform bieten. Der Vorsitzende des Syndikats, Hany Shaker, will sogar Youtube und Soundcloud dazu auffordern, entsprechende Songs zu löschen. Auslöser war eine Liedzeile der Mahraganat-Superstars Hassan Shakosh und Omar Kamal bei einem Valentinstags-Konzert in Kairo, die den Konsum von Haschisch und Alkohol als Reaktion auf Liebeskummer beschreibt. Die beiden Künstler haben sich inzwischen öffentlich dafür entschuldigt. Doch der Streit um die Mahraganat-Musik hat viel weitreichendere Hintergründe.

Die Musik des „gemeinen Volkes“

Mahraganat bedeutet übersetzt „Festivals“. Was wirklich hinter diesem Begriff steckt, ist aber schwer zu erklären. Es hilft, sich eine in grellen Farben blinkende Leuchtreklame vorzustellen, bei der die ein oder andere Glühbirne ausgefallen ist: Sie ist penetrant, durchgeknallt und von schlechter Qualität.

Am besten wäre die Musik vielleicht mit dem arabischen Adjektiv shaabi zu beschreiben, schließlich wird sie ja auch Electro-Shaabi genannt. Dummerweise ist shaabi in seiner Essenz ebenso unübersetzbar. Laut Wörterbuch bedeutet shaabi: „volkstümlich, populär“. Ägypter*innen, die fließend Englisch sprechen und ihren Kaffee bei Starbucks trinken, würden mit diesem Wort Stadtteile beschreiben, in denen eine junge Latte-schlürfende Frau lieber nicht alleine auf die Straße geht.

Shaabi ist das Attribut des „gemeinen Volks“. Eine schlichte Mahlzeit mit Fladenbrot, weißem Käse und Ful-Bohnen kann es ebenso beschreiben wie die traditionelle ägyptische Musik mit ihren typischen Tabla-Rhythmen. Shaabi bezeichnet auch die ausgelassene Art dazu zu tanzen und zu feiern – auf den Straßen, zwischen den Häusern, mit der ganzen Nachbarschaft. Unterlegt mit elektronischen Beats, vulgärer Sprache und einer ungesunden Dosis Autotune wird daraus Electro-Shaabi oder eben Mahraganat-Musik.

Der Hiphop Ägyptens

Entstanden ist die Musikrichtung in den 2000er Jahren, als ein paar DJs auf alten Computern mit kostenloser Software volkstümliche Musik mit Techno mixten. Sie legten vor allem bei Hochzeiten und Straßenfesten in den ärmeren und informellen Vierteln Kairos auf – dort, wo heute Massen an jungen Männern ekstatisch zu den Beats tanzen, Bengalo-Feuer schwenken und pogen.

Wie viele kreative Strömungen wuchs die Szene nach der Revolution 2011 rasant. Mahraganat-Musik scheppert aus den motorisierten, dreirädrigen Tuktuks, Blechdosen-Taxis, in denen meist drahtige Jugendliche mit Flipflops sitzen und völlig wahnsinnig durch die Gassen ihrer Viertel rasen. Nachts ballert Electro-Shaabi oft über den Nil, wo große Gruppen junger Frauen und Männer sich Boote mieten und, nur wenige Meter von den konservativen Regeln des Festlandes entfernt, tanzen und feiern.

Doch Mahraganat ist mehr als nur Partymusik. Sie ist der Hiphop Ägyptens: die Stimme einer marginalisierten Jugend, gedrängt in die Slums am Rande der Stadt, gefürchtet von den Bewohner*innen und Autoritäten im Zentrum. Wie im Rap wird bei Mahraganat nicht nur über Frauen, Alkohol und Drogen gesprochen. Die Musik thematisiert auch die Perspektivlosigkeit, die Armut und den Alltag am Rande einer Gesellschaft, deren Mehrheit diese Menschen eigentlich repräsentieren.

In ihrer Doku „Electro Chaabi“ folgt die tunesisch-französische Journalistin Hind Meddeb den wichtigsten Figuren der Mahraganat-Szene Ägyptens durch ihren Alltag in den Stadtteilen Salam City, Imbaba und Matariyya. Die Musik, die beim ersten Hören nach epileptischem Synthi-Wirrwarr klingt, entpuppt sich dabei als eine intime Erzählung des Lebens der unterprivilegierten Ägypter*innen. Sie ist die Stimme all jener, die 2011 in Massen auf die Straßen gingen, und deren Bedürfnisse heute vergessen sind.

Feiern verboten

Hind Meddeb filmte ihre Doku 2012, während der Herrschaft des Muslimbruder-Präsidenten Mohamed Mursi. Wenn die Muslimbrüder Mahraganat wegen Blasphemie verbieten sollten, sagt darin der bekannte Musiker DJ Figo, dann gäbe es direkt eine neue Revolution. Er ahnte damals wohl nicht, dass es keine Muslimbrüder braucht, um seine Musik zu verbieten.

Wenn heute Stimmen laut werden, die Mahraganat-Musik verbieten wollen, dann liegt der Grund dafür nicht in religiösem Konservatismus, sondern in reaktionärem Nationalismus. Der Regierungsapparat inklusive seiner Behörden und Günstlinge will alles verbieten, was er nicht kontrollieren kann. So erinnert das Verbot von Electro-Shaabi an das informelle Viertel Boulaq in Downtown, welches 2018 dem Erdboden gleich gemacht wurde.

Ein gedrängtes, unübersichtliches Viertel im Zentrum der Stadt mit einer solidarischen Nachbarschaft und vielen jungen, frustrierten Menschen sollte es im heutigen Ägypten nicht geben. Einen energiegeladenen, chaotischen DIY-Musikstil, der ihnen eine Stimme gibt, genauso wenig. Viele der Bewohner*innen Boulaqs wurden in ein Neubauprojekt weit außerhalb der Stadt umgesiedelt, wo sie permanent überwacht werden. Hochzeiten auf der Straße zu feiern ist dort verboten – egal ob mit oder ohne Electro-Shaabi.

[1] Weil ägyptische Mahraganat-Musiker überwiegend (wenn nicht gar ausschließlich!) männlich sind, werden sie in diesem Text mit der männlichen Form bezeichnet.

 

 

Hannah El-Hitami, Jahrgang 1991, ist freie Journalistin in Berlin und schreibt vor allem über arabische Länder, Migration und koloniales Unrecht. Sie studierte Arabische Literatur und Kultur in Marburg und war Volontärin des Amnesty Journals. www.hannahelhitami.com/  
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Daniel Walter