15.04.2020
Tunesien: Einbahnstraße Visum
Bis zum Flughafen schaffen es die meisten Tunesier*innen erst gar nicht. Bild: Pixabay
Bis zum Flughafen schaffen es die meisten Tunesier*innen erst gar nicht. Bild: Pixabay

Das EU-Visasystem schränkt Tunesier*innen in ihrer Reisefreiheit stark ein. Besonders junge Leute, die für ein Studium oder Praktikum ins Ausland wollen, hängen oft Monate in der Luft – ohne Tunesien zu verlassen. Drei von ihnen berichten.

Mit dem Corona-Virus erleben viele Europäer*innen zum ersten Mal, was es bedeutet, wenn Grenzen geschlossen sind. Normalerweise sind wir den Luxus gewohnt, jederzeit spontan nach Italien reisen zu können, ein Erasmus-Semester in Lissabon zu verbringen oder auf Geschäftsreise nach Helsinki zu fliegen.

Ohne europäischen Pass kann sich das deutlich aufwendiger gestalten. Besitzer*innen eines tunesischen Passes müssen jedes Mal bangen, ob ihr lang erträumter Urlaub in Rom Wirklichkeit wird oder sie ein vielversprechendes Praktikum in Madrid antreten können. Wieso? Wegen der Grenzen. Naja, eigentlich sind die Grenzen nicht allein schuld, sondern das System, das sie unüberwindbar macht: das Visasystem. Um genau zu sein, das europäische Visasystem.

In normalen Zeiten können sich Europäer*innen innerhalb der europäischen Außengrenzen fast so frei wie innerhalb der einzelnen Nationalstaaten bewegen - und das ist tatsächlich wunderbar. Für Inhaber*innen nicht-europäischer Pässe ist es unterdessen zunehmend schwieriger geworden, europäischen Boden zu betreten. Im vergangenen Herbst, als ich ganz unbürokratisch ein Praktikum in Tunis machte, habe ich drei meiner tunesischen Freund*innen zu ihren Reise- und Praktikumsplänen befragt.

Maryam: „Wir können nicht auf dich warten.“

Maryam studiert im Master Kommunikationswissenschaften und gibt nebenbei schlecht bezahlten Englischunterricht. Einen großen Teil ihrer Freizeit widmet sie der Recherche nach einem Job oder Praktikum im Ausland – wo, ist ihr erst einmal egal. Mittlerweile hat sie schon so viele Bewerbungen geschrieben, dass sie aufgehört hat zu zählen. Dabei habe sie eigentlich gar keine Schwierigkeiten, eine Zusage zu bekommen:„Das Problem ist das Visum, erzählt sie: „Zum Beispiel wurde ich für ein neunmonatiges Praktikum an einer Akademie in Spanien genommen.  Ich war sehr aufgeregt, dass ich endlich nach Spanien reisen, die Kultur entdecken und neue Menschen kennenlernen würde.“

Nachdem sie jedoch begonnen hatte, sich um das Visum zu kümmern, habe sie eine Mail erhalten: ihr Praktikumsgeber hatte jemanden aus Europa gefunden, der innerhalb von wenigen Tagen anfangen konnte. „Das hat mich unglaublich traurig gemacht“, sagt Maryam: „Der Grund für die Ablehnung war ja nicht meine Inkompetenz oder ein Fehler meinerseits, sondern etwas, das komplett außerhalb meiner Kontrolle lag und mich mein Leben lang beeinträchtigen wird.“ Sie bewerbe sich weiterhin, bekomme aber immer wieder die selbe Antwort: „Wir mögen dein Profil, können aber nicht monatelang warten, bis du dein Visum bekommst.“

Balkis: Die Abrechnung kommt vor der Reise

Eine andere Freundin, Balkis, stand kurz vor dem Durchbruch mit ihrem Visum, als die Corona-Krise begann – jetzt ist ihr Praktikum erst einmal auf Eis gelegt. Sie hatte im Gegensatz zu Maryam Glück, denn ihr Praktikumsgeber in Paris hatte die Geduld, auf ihr Visum zu warten. Außerdem lebt ihre Schwester in Paris, eine Rückversicherung, die europäische Staaten im Visumsprozess gerne sehen. Trotzdem war auch ihr Antrag sehr aufwendig: Sie musste eine fünfstündige Reise von Sfax nach Tunis antreten und dort noch für die Übernachtung bezahlen.

Hier zeigt sich eine weitere Hürde: Ein Visum zu bekommen ist sehr teuer. Der Antrag selbst kostet stolze 307 Dinar (rund 95 Euro), hinzu kommen Fahrtkosten zu den persönlichen Interviews und zum Abholen des Passes. Eine Fahrt von Sfax nach Tunis kostet beispielsweise 32 Dinar (10 Euro). Ein monatliches Durchschnittsgehalt in Tunesien beträgt 860 Dinar (267 Euro). Und wenn der Antrag abgelehnt wird, sehen die Antragssteller*innen ihr Geld nicht wieder.

Die deutsche Botschaft in Tunesien hat eine Checkliste für Touristenvisa auf ihrer Webseite veröffentlicht: Die Liste erstreckt sich über vier Seiten und verlangt neben dem Rückflugticket und Hotelbuchungen auch Nachweise über die Bestreitung des Lebensunterhaltes während des Aufenthaltes und über die sozio-ökonomische Stabilität der Antragsteller*innen - um zu beurteilen, „ob der Antragsteller die Absicht hat, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf des beantragten Visums zu verlassen“. Für meine Reise nach Vietnam musste ich lediglich ein einseitiges Formular ausfüllen.

Anders ergeht es tunesischen Staatsbürger*innen, die nach Frankreich reisen wollen: Nach dem Antrag geht der Stress nämlich erst richtig los. Auf der privatwirtschaftlichen Onlineplattform TLScontact warten scheinbar endlose Masken darauf ausgefüllt zu werden. Oft kommen technische Probleme hinzu, die auch die Mitarbeitenden des ausgelagerten Callcenters nicht immer lösen können. Bereits ausgefüllte Masken löschen sich wieder, die Eingabe funktioniert nicht oder die erforderlichen Dokumente können nicht hochgeladen werden. Die Seite treibt Menschen, die kurz vor einer großen Reise oder dem Start eines neuen Jobs stehen, regelmäßig in den Wahnsinn.

„Sie ändern immer die nötigen Formulare“, beklagt sich Balkis. „Diese Vorbereitungen fressen so viel von meiner Zeit, dabei hätte ich genug mit meiner Promotion zu tun.“ Manchmal wünsche sie sich, dass auch Tunesien seine Gesetze verschärfen würde. „Wieso sollten wir so einen Aufwand betreiben, während Leute aus Europa einfach so zu uns kommen können?“

Wajdi – Semesterstart verpasst

Auch Zeitverzögerungen erschweren die Planung einer Reise, einer neuen Arbeit oder eines internationalen Austausches. Wajdi hatte sich im Juni letzten Jahres für den International Management Master an der Universidade Nova de Lisboa beworben und sowie er die Zusage Anfang Juli bekommen hatte, die Visabewerbung in Angriff genommen. Dennoch musste er bis Ende Oktober auf sein Visum warten. Das Semester hatte bereits im September ohne ihn begonnen.

„Natürlich hat sich mein Zuspätkommen auf meine Leistung ausgewirkt“, sagt Wajdi. Außerdem habe es die gesamte Auslandserfahrung beeinträchtigt, weil er keine Zeit gehabt habe die Leute und das Leben kennenzulernen. Solche Verspätungen sind nicht nur emotional belastend, sondern auch ganz praktisch ein Problem: Ohnehin schon teure Flüge nach Lissabon sind spontan gebucht fast unerschwinglich für Studierende. Und wie sollen sie eine Unterkunft organisieren, ohne zu wissen, ob sie am Ende einreisen dürfen?

Schreckgespenst: Begründung Nr. 10

Mittlerweile organisieren sich Tunesier*innen mit Fernweh in Facebookgruppen wie On A Eu Le Visa Pour Vous (auf Deutsch: „Wir haben ein Visum für Sie“) und tauschen Geheimtipps aus, die eine positive Entscheidung über den Visumsantrag erwirken sollen. Ein Thema, welches bei vielen Gruppenmitgliedern für Ärger sorgt, sind die vielen Visaablehnungen mit der Begründung Nr. 10: die Angabe von unglaubhaften Informationen.

Jemand in der Gruppe schreibt:

„Hallo an die Reisenden,
Meine Mutter (Rentnerin, ehemalige Lehrerin) hat ihren Antrag für ein Touristenvisum in Deutschland abgegeben. Das erste Mal (vor einem Monat) hat sie eine Ablehnung auf Basis der Begründung Nr.10 (die Infos wären nicht glaubhaft) erhalten. Und dank der Kommentare hier habe ich dann herausgefunden, dass es an der nicht bestätigten Hotelbuchung lag. Ich habe jetzt auch das Hotel mit einer internationalen Kreditkarte reserviert und das Hotel sogar angerufen, um herauszufinden, dass es geklappt hat. Dennoch!!! Große Überraschung, sie hat wieder eine Ablehnung mit Begründung Nr. 10.!
Eine Erklärung bitte!“

Während die Inhaber*innen eines tunesischen Passes in 36 Länder visumsfrei einreisen können, ist dies deutschen Staatsbürger*innen in 167 Ländern möglich. Für die 27 EU-Mitgliedsstaaten brauchen wir nicht einmal einen Reisepass. Als ich mich mit Maryam, Balkis und Wajdi bei einem Minztee und Datteln über dieses Thema unterhielt, fiel mir ein, wie ich auf dem Weg zum Münchner Flughafen in einer Schrecksekunde noch mal auf meinen Pass geschaut hatte: Gut! Noch mehr als sechs Monate gültig. In Tunis am Flughafen stand ich dann ganz entspannt in der Schlange zur Passkontrolle und Visumsvergabe. Das würde sicher alles gut gehen, wie die anderen Male auch.

Vanessa Barisch ist Koordinatorin des Liaison Offices der Philipps-Universität Marburg in Tunesien. Sie studierte Europastudien und Internationale Migration in Passau, Rom, Lissabon und Osnabrück. Ihre wissenschaftlichen und politischen Schwerpunkthemen sind vor allem Dekolonialisierung, Migration, Feminismus und Demokratie.
Redigiert von Hannah El-Hitami, Anna-Theresa Bachmann