04.11.2020
Warum syrische Literatur in Berlin boomt
Quelle: pixabay
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Seit 2015 ist das Interesse an syrischer Literatur in deutscher Übersetzung stark gestiegen. Künstler*innen, Übersetzer*innen und Verleger*innen erzählen von ihren Erfahrungen – und darüber, wieso der Hype für sie nicht nur förderlich ist.

In den vergangenen fünf Jahren wurde von zahlreichen Schriftsteller*innen, Übersetzer*innen und Verleger*innen ein regelrechter „Boom“ syrischer Literatur in deutscher Übersetzung bemerkt. Und auch wenn es keine genauen Daten über den Umfang dieses „Booms“ gibt, ist das intensive Interesse an syrischen Autor*innen in ganz Berlin spürbar.

Aber welche Grenzen kamen mit diesem Interesse? Ramy Al-Ascheq, einer der bekannteren syrischen Dichter in Berlin, sagt, dass die Nachfrage nach seiner Arbeit in den letzten vier Jahren definitiv gewachsen sei. „Das Problem ist allerdings, dass die Leute nicht wirklich interessiert sind an der Literatur oder der arabischen Sprache, sondern nur an bestimmten Ländern, in denen es Konflikte gibt und über die eine sexy Geschichte erzählt werden kann.“ Viele Autor*innen berichten unter Druck zu stehen, nur „aktuelle Ereignisse“ zu verarbeiten. Es ginge kaum darum, literarisch hochwertige Werke zu schaffen. Al-Ascheq sagt dazu:

Sie sagen: ‚Zeig uns wie sehr du auf deinem Weg nach Europa gelitten hast und wie gut Europa ist‘- sie wollen etwas über den syrischen Konflikt wissen, weil dort gerade etwas passiert. Es geht also nicht um die Literatur, es geht um Ereignisse. Ich finde das nicht sehr progressiv… Das Problem ist, dass viele Autor*innen angefangen haben zu schreiben, was Europäer*innen erwarten und was sie lesen wollen.“

Schriftsteller*innen beschreiben den Druck über die syrische Krise zu schreiben, sei es im Rahmen fiktiver oder persönlicher Erzählungen oder auch in Gedichten – so, als müsse die Krise zwangsläufig zentraler Referenzpunkt für eine*n syrischen Schriftsteller*in Deutschland sein. Darüber hinaus ist auch die Gleichsetzung der eigenen Erfahrung der Schriftsteller*innen als Migrant*innen mit ihrer Literatur allgegenwärtig im Literaturbetrieb. Dies wurde mit Nachdruck vom Schriftsteller Yassin Al-Haj Saleh ausgedrückt:

„Wenn du etwas schreibst, kannst du dich hinter deiner Arbeit und deinen Analysen verstecken. Ich hingegen kann mich nicht hinter Analysen verstecken. Ich bin immer da, selbst wenn ich nicht da bin und nicht über meine Geschichte schreibe und es dabei kein ‚ich‘ gibt, wie in den meisten meiner Werke. Trotzdem betrachtet man es als ‚meine Geschichte‘. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht genau oder kritisch gelesen werde. Ich will, dass meine Arbeit gelesen wird. Nicht die Biografie auf der Rückseite.“

Eine Vielzahl von Wissenschaftler*innen stellt insbesondere die Gleichsetzung weiblicher arabischer Autor*innen mit ihrem fiktionalen Werk fest, wobei die literarischen Stimmen arabischer Frauen als repräsentativ für die Erfahrungen der gesamten Gruppe angesehen werden (Amireh, Booth). [1] Dasselbe würde auch für die Geschichten migrierter, syrischer Autor*innen und die Welle von syrischer Literatur, die heute veröffentlicht wird, gelten. Al-Haj Saleh beschreibt: „Ich bin heute berühmt, aufgrund dessen, was mir passiert ist. Dabei ist dies immer eine Übertreibung.“ Seine Geschichte würde so verpackt, dass sie für ein Publikum konsumierbar ist, das nach diesen „sexy Leidensgeschichten“ giert.

Ignoranz gegenüber der syrischen epistemologischen Handlungsmacht

Al-Haj Saleh als Vertreter eines Überlebensnarrativs zu betrachten, ohne über dieses Narrativ hinausgehen zu können, sei mit seinen Worten, „rassistisch“. Der promovierte Politikwissenschaftler in seinen Endfünfzigern attestiert, dass er zwar versuche, in seinen Werken politische Analysen mitzuliefern, diese aber oft auf bloße Zeug*innenliteratur reduziert würden. Dazu führt er aus: „Wir können Zeug*innen sein, wir können unsere eigenen Geschichten erzählen. Aber in gewisser Weise ist das Publikum durstig, unsere Geschichten eben nur als Zeugnis und damit als Wissen von geringerem Niveau wahrzunehmen. Es wird nicht auf der Ebene des Theoretisierens oder Konzeptionalisierens von Phänomenen anerkannt.“

Al-Haj Saleh fügt hinzu: „Die Europäer*innen denken, sie seien diejenigen, die Theorien vorgeben, die die epistemologische Handlungskompetenz haben."Und niemand stelle diese akademische Überlegenheit in Frage: „Die Europäer*innen sagen, wer böse und wer gut ist. Zwischen einem Faschisten mit zotteligem Bart und einem Faschisten mit Krawatte bevorzugen sie einen Faschisten mit Krawatte. Ich denke, dass dies eine gute Definition für Rassismus sein könnte. Bis jetzt gibt es keinen wirklichen Dialog darüber.“

Mit Blick auf die aktuelle Dynamik in diesem Bereich sei die ins Deutsche übersetzte syrische Literatur laut Al-Haj Saleh meist wenig hochwertige Zeug*innenliteratur, die von „jungen Menschen“ geschrieben würde. Nachdem er seine Geringschätzung für die derzeit veröffentlichten Werke zum Ausdruck bringt, fügt er hinzu:

„Ich meine nicht, dass alle syrischen Schriftsteller*innen schlecht sind. Sehr viele von ihnen sind annehmbar und sehr kreativ. Aber einige von ihnen, einige junge Leute und andere, produzieren etwas, das sich vor allem an der Lesbarkeit orientiert, die von den Erwartungshaltungen im Land diktiert wird. Ich mache mir Sorgen, dass vieles von dem, was ins Deutsche übersetzt wird, nicht besonders interessant ist. Es ist von jungen Leuten geschrieben und kein großes Werk.

Al-Haj Saleh fährt fort: „Gute Schriftsteller*innen sollten beweisen, dass sie gute Literatur schreiben können, auch wenn sie aus einem armen Land kommen. Im Falle von Syrien macht das Erotisierende die Gewalt aus: Muslim*innen, Islamist*innen, alles durcheinander.“Zunächst schrieb Al-Haj Saleh den Boom der syrischen Migrantenliteratur in deutscher Übersetzung jungen syrischen Schriftsteller*innen zu, später fügte er jedoch hinzu, die Verlagsindustrie, welche den „orientalistischen“ Wünschen der westlichen Leser*innen nachgäbe, sei die wahre Schuldige.

Auch andere Schriftsteller*innen merken an, wie schwer es ihnen fällt, sich von der Verortung des zum Opfer erklärten, syrischen Subjektes zu lösen.  Yamen Hussein, ein jüngerer Dichter, der seit vier Jahren in Deutschland lebt, äußerte sich zu den Themen seiner Gedichte:

„Das, worüber in der arabischen Lyrik am meisten geschrieben wird, ist die Liebe... Alkohol, Liebe, all diese Themen. Bis zur Verknüpfung mit Politik und Revolution gab es diesen Hang zur Selbstdarstellung als Opfer nicht. Es gibt viele, viele Dichter*innen, die die eigene Viktimisierung in den Vordergrundstellen und sagen: ‚Ich bin arm, ich bin ein Flüchtling‘.Das ist nicht gut, weil sie in dieser Opferrolle verharren werden.“

Khaled Barakeh beobachtet dieses Phänomen ebenfalls: Egal ob syrische Autor*innen über Liebe oder über „etwas ganz Alltägliches“ schreiben würden – laut Barakeh werde das Erzählte mit der Flüchtlingskrise verbunden und mit einer „orientalistischen Brille“ gelesen.

Für Barakeh wirkten sich diese existenzialisierenden Erzählungen nicht nur auf das aus, was Autor*innen künstlerisch leisten können, sondern auch auf ihre gelebte Erfahrung. Geschichten über Flucht würden „maximal fetischisiert“ werden - auf dem Papier, aber auch darüber hinaus. Zur Verdeutlichung erzählt Barakeh eine Anekdote, die davon handelt, wie er einmal mit einigen Freund*innen seines Mitbewohners  Abendessen ging und was sich abspielte, als er erwähnte, dass er aus Syrien stammt:

„Sie hatten so ein mitleidiges Gesicht, und dann fragten sie: ‚Was ist deine Geschichte?‘, denn natürlich erwarten sie, dass jede*r die gleiche Geschichte hat, weil die Medien immer die dramatischsten traurigen Geschichten bringen und sie erwarten, dass jede*r das Mittelmeer überquert hat. Also dampfte ich alle traurigen Geschichten, die ich je gehört hatte zusammen. Meiner Erzählung war lückenhaft. Und wissen Sie, [die Zuhörer*innen, Anm. d. Red.] waren schlau.  Aber sie fingen tatsächlich an zu weinen. Das war wirklich lustig...und dann sagte ich ihnen, es tut mir leid, euch enttäuschen zu müssen, aber ich bin einfach mit dem Flugzeug gekommen. Sehr langweilig. Ich habe einfach online ein Ticket gekauft und das Flugzeug ist in Berlin gelandet.“

Obwohl diese Anekdote humorvoll daherkommt, veranschauliche sie doch das, was Barakeh als „den Eindruck der Kolonisierung“ bezeichnet, den es über Syrien und die arabische Welt [2] im Allgemeinen immer noch gäbe - eine Vorstellung von Gewalt, Rückständigkeit und Leid, die durch die Arbeit, zu der Barakeh und seine Mitstreiter*innen gedrängt werden, zementiert würde. Ein Eindruck, der zudem durch narrativ-verändernde Übersetzungen weiter aufrecht erhalten bliebe. Al-Asheq erwähnt zudem die Verallgemeinerungen, die sein tägliches Leben als Person des öffentlichen Lebens erschweren: „Wenn ein Terroranschlag geschieht, muss ich Stellung beziehen. Ich muss mich entschuldigen - aber warum sollte ich mich entschuldigen, ich meine, es ist nicht meine Schuld. Aber ja, man wirft dir immer wieder diesen Blick zu: ‚Die Araber, das sind doch deine Leute‘.“

Caroline Assad, Geschäftsführerin einer gemeinnützigen Organisation im literarischen Bereich in Berlin, sagt, sie sei zwar selbst keine Autorin, aber als „…Nicht-Deutsche fühle ich mich in eine bestimmte Ecke gedrängt und muss mich auf jeden Fall mit Migrationsdebatten auseinandersetzen. Es ist sehr schwierig, sich diesen gegenüber völlig gleichgültig oder unverbunden zu fühlen.“ Dennoch berichtet Assad, dass ihre Organisation mit dem Projekt „Weiter Schreiben" „…versuche, das Bewusstsein der europäischen Leser*innen, die diese inneren Vorurteile haben, zu verändern". Sie möchte, dass das deutsche Publikum zu Lesungen kommt und „eine Geschichte über eine*n Migrant*in erwartet, der/die über das Mittelmeer hierherkam, aber dann eine*n Autor*in sieht, der/die eigentlich ein*e Künstler*in und völlig anders ist, als sie sich das vorgestellt haben.“

Entdeckung des Anderen: Was ist die Faszination an syrischer Literatur?

Warum werden westliche Leser*innen von syrischen Migrationsgeschichten angezogen? Ich habe die Autor*innen in den Interviews nach ihrer Meinung gefragt, warum westliche Leser*innen ihrer Werke lesen wollen. Die  Reaktionen reichten von Sympathie für die wohlmeinenden und ungebildeten Leser*innen, bis hin zu Wut über Orientalismus als Beweggrund. Ramy Al-Asheq verleiht seiner Frustration über das mangelnde Bewusstsein des westlichen Publikums für die arabische Welt Ausdruck:

„Es gibt viel mehr Unwissenheit über Arabisch und arabische Literatur und arabische Länder als die Unwissenheit von uns über den Rest der Welt.Hier gibt es keine Entschuldigung für [die Europäer*innen, Anm. d. Red.], denn die Informationen sind da. Wie kann man so ignorant sein und wie kann man Teil eines großen Problems sein und sagen, man wisse es nicht?“

Andere, wie Assad, sehen den westlichen Durst nach syrischen Geschichten als eine gut gemeinte Auseinandersetzung mit dem Konflikt und der Region, trotz ihrer schädlichen Auswirkungen:

„Ich denke, ein Teil davon ist diese sehr gut gemeinte... Ich denke, das ist Teil der Reaktion in Deutschland, von den Deutschen selbst, die versuchen, ihre deutschen Mitbürger*innen weiterzubilden. Aber wie Sie wissen, gibt es auch diesen Fetischismus, wie arm und traurig es anderswo ist, und dass wir uns dadurch vielleicht ein bisschen besser fühlen. Aber ich glaube, es gibt auch ein echtes Verlangen zu verstehen und das Bedürfnis, dieser Krise und dem „Anderen“ aufrichtiger zu begegnen.“

Während heute ein gewisser Fetischismus im Konsum von syrischen „Leidensgeschichten“ besteht, gab es bereits in der Vergangenheit verschiedene, politisch beeinflusste Wellen, die die Richtung der deutschen Literaturübersetzung verschoben haben, darunter Ereignisse wie der libanesische Bürgerkrieg und die Interventionen der USA im Irak. Wie die Übersetzerin Marilyn Booth zum Übersetzungsboom zur „Rettung muslimischer Frauen“ in den USA in ihrem Aufsatz „‘Die muslimische Frau‘ als prominente Autorin und die Politik der Übersetzung des Arabischen: Die Mädchen von Riad gehen auf die Straße“ ausführte, „…waren ästhetische Gründe selten der Grund für die Auswahl [arabischer] Texte zur Veröffentlichung. Vielmehr waren innenpolitische Belange und wirtschaftliche Interessen auf diesem besonderen literarischen Marktplatz ausschlaggebend.“

Gegenwärtig ist Yasmina Jraissati die einzige, auf Arabisch fokussierte Literaturagentin mit einer Agentur, die arabische Autor*innen mit Übersetzer*innen und Verleger*innen europäischer Sprachen zusammenbringt. Ihrer Erfahrung nach hat das Interesse an syrischer Literatur in Europa infolge des syrischen Bürgerkriegs „definitiv zugenommen“. Sie lobt die Verlage in erster Linie, erzählt, dass verschiedene Pressestellen zu ihr kämen und „ein großes relevantes arabisches Buch“ verlangen würden, da in letzter Zeit die Erzählungen syrischer Migrant*innen als am relevantesten wahrgenommen würden. In seinem Interview deutete Yamen Hussein an, dass es eine Zeit gab, in der irakische Autor*innen am meisten für eine Übersetzung ins Deutsche nachgefragt wurden:

„Am Ende gibt es immer Namen, die Aufmerksamkeit erregen... weil sie [von Verleger*innen] gut präsentiert werden. Heute gibt es leider einen „Boom“ syrischer Literatur - diesen Aufschwung gab es auch vorher schon mal mit den Erfahrungen der irakischen Geflüchteten, es gab viele ‚Schriftsteller*innen und Dichter*innen aus der irakischen Welt‘. Es  kam zu einem Hype um viele  irakische Schriftsteller*innen, so wie jetzt bei den Syrischen- aber jetzt kann ich mich nur noch an die Namen von zwei irakischen Schriftsteller*innen erinnern.“

Wie wird es nun weitergehen mit syrischen Schriftsteller*innen in Deutschland? Jraissati vermutet, dass „…die Dauer [dieses Booms] hier kurz sein wird, weil es keinen wirklichen literarischen Anreiz gibt." Nach einer Weile, so sagt sie, „…werden sich die Leute langweilen, denn für diejenigen, die nicht an der eigentlichen Literatur interessiert sind, wird es repetitiv, sie suchen einfach nur nach der Geschichte - nach einer Weile werden sie das Gefühl haben, dass sie wissen, worum es [im Konflikt] geht.“

Jraissati glaubt, dass dieses Phänomen dennoch auch eine gute Seite hat, denn es bietet die Chance, dass einige neue Bücher entstehen, aber „…auf lange Sicht wird es die arabische Literatur nicht zum Leben erwecken. Im Moment ist es also die syrische Welle, aber ich sehe bereits, wie sie anfängt, abzuebben.“ Dieses Interesse am Konflikt „…ist kein wirkliches Interesse an der Region [oder der Sprache], vielleicht wird es irgendwann das Interesse der Menschen wecken, vielleicht wird es Türen öffnen. Aber das ist nicht garantiert.“

 

Dieser Artikel erschien zuerst in „Arablit Quarterly“ in englischer Sprache und wurde von dis:orient ins Deutsche übersetzt. Das Original mit dem Teil On the ‘Boom’ of Syrian Literature in Berlin“ sowie die gesamte Interviewreihe auf Englisch sind hier zu finden.

 

[1] Siehe dazu auch: Booth, Marilyn. "“The Muslim Woman” as Celebrity Author and the Politics of Translating Arabic: Girls of Riyadh Go on the Road." Journal of Middle East Women's Studies 6, no. 3 (2010): 149-82.

[2] Dieser Text erschien zuerst in englischer Sprache bei Arablit Quarterly und wurde von dis:orient ins Deutsche übersetzt. Gemäß unserer Redaktionsrichtlinien haben wir den Text gegendert. Aber wir haben uns dazu entschieden,  ursprüngliche Begriffsbezeichnung beizubehalten, die wir als Redaktionen zwar ablehnen, aber die der originalgetreuen Übersetzung am nächsten kommen. Dazu zählen die Begriffe „arabische Welt" und „der Westen“. Warum wir diese Begriffe ablehnen, könnt ihr unserem Selbstverständnis auf der Website entnehmen.

 

Mari Odoy promoviert an der Universität von Minnesota in „Asian and Middle Eastern Studies“ zur Übersetzung moderner syrischer Literatur.
Artikel von Marie Odoy
Redigiert von Johanna Luther, Anna-Theresa Bachmann
Übersetzt von Henriette Raddatz