16.04.2021
Was ist ein Terrorakt und was nicht?
Hinter Gittern: Auch in Deutschland drohen kurdischen Aktivist:innen Haftstrafen, insbesondere auf Grundlage des §129b Strafgesetzbuch. Illustration: Kat Dems
Hinter Gittern: Auch in Deutschland drohen kurdischen Aktivist:innen Haftstrafen, insbesondere auf Grundlage des §129b Strafgesetzbuch. Illustration: Kat Dems

Kurd:innen erleben nicht nur in ihren Herkunftsländern politische Verfolgung, sondern erfahren oft auch in Deutschland staatliche Repression, wenn sie aktivistisch tätig sind. Das muss sich ändern, findet Cem Bozdoğan.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Das ehemalige Mehrzweckgebäude des Oberlandesgerichts in Stuttgart Stammheim ist ein historischer Ort: 1975 wurde der Gebäudekomplex extra für den Gerichtsprozess der deutschen Terrororganisation Rote Armee Fraktion (RAF) gebaut, im Juni 2019 wurde er durch einen Neubau ersetzt. Auch heute noch laufen an dem Gericht politische Strafprozesse, darunter aktuell ein Verfahren gegen fünf vermeintliche Aktivist:innen der kurdischen Freiheitsbewegung PKK.

Die fünf Kurd:innen sollen am 12. April 2018 einen PKK-Aussteiger an einen abgelegenen Ort verschleppt, ihn mit einer Pistole bedrängt und mit dem Tod gedroht haben. Der ebenso angeklagte PKK-Aussteiger sagte als Kronzeuge aus und belastete die fünf mutmaßlichen Täter:innen. Die Verteidigung der Beschuldigten wies jedoch in mehreren Beweisanträgen auf die Widersprüchlichkeit und Unglaubwürdigkeit seiner Aussagen hin. Der Kronzeuge habe zudem „Gegenleistungen aufenthaltsrechtlicher und finanzieller Natur“ für seine Aussage gefordert, außerdem stünde der Verdacht im Raum, dass er mit den Anschuldigungen in erster Linie Rache üben wolle, da er in der Vergangenheit ein Liebesverhältnis zu einer der Angeklagten hatte.

Seit er im Prozess mit der Widersprüchlichkeit seiner Angaben konfrontiert wurde, schweigt er vor Gericht und weigert sich, Fragen der Verteidigung zu beantworten. In der Folge musste auch die Bundesanwaltschaft einräumen, dass seine Angaben widersprüchlich seien und selbst das Gericht äußerte zunehmende Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Beschuldigungen.

Neben den konkreten Tatvorwürfen der Entführung und Körperverletzung sind die fünf Beschuldigten auch wegen angeblicher Unterstützung oder Beteiligung an einer ausländischen terroristischen Vereinigung gemäß §129b in Verbindung mit §129a Strafgesetzbuch (StGB) angeklagt. Dies kann laut Gesetz mit bis zu 10 Jahren Haft bestraft werden, im Stuttgarter Fall fordert die Bundesanwaltschaft Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten und fünf Jahren für die Angeklagten.

Anders als im aktuellen Fall werden die meisten Kurd:innen allerdings überhaupt nicht aufgrund angeblicher Straftaten angeklagt, sondern allein wegen ihrer mutmaßlichen PKK-Mitgliedschaft und damit verbundenen harmlosen Aktivitäten, zum Beispiel wenn sie an Veranstaltungen teilnehmen, dafür werben oder sie unterstützen.

Terrorist ist, wer auf eine Demo geht

Im vergangenen September wurde beispielsweise der politisch aktive Kurde Yilmaz Acil mit einer fragwürdigen Begründung in Untersuchungshaft genommen. Unter anderem hatte Acil zahlreiche Demonstrationen, Kultur- und Gedenkveranstaltungen organisiert und eine Fahne mit einem Abbild von Seyit Riza getragen – dem geistigen Anführer des Dêrsim-Aufstandes 1937 in der Südosttürkei, bei dem kurdische Gruppen gegen die Assimilation des türkischen Staates rebelliert haben. Weil es bis heute keine Anklageschrift gibt, verfügte der Bundesgerichtshof, dass Acil aufgrund von zu langsamen Ermittlungen in seinen Grundrechten verletzten wurde. Er wurde deswegen am vergangenen Dienstag aus der Untersuchungshaft entlassen.

Der sogenannte „Anti-Terror-Paragraf“ des 129 StGB wurde 1976 von der sozialliberalen Regierung unter Helmut Schmidt eingeführt, um besser gegen die RAF vorgehen zu können. Nach dem Terroranschlag am 11. September auf das World Trade Center in den Vereinigten Staaten wurde die Regelung erweitert, um auch Aktivitäten von Terrororganisationen außerhalb Deutschlands juristisch verfolgen zu können.

Linke Gruppierungen, vor allem Stimmen aus der kurdischen Bewegung, sehen darin jedoch eine Kriminalisierung ihrer Identität: Die bisherigen Urteile in Verfahren nach den Paragrafen 129a und b StGB zeigen, dass oft augenscheinlich „harmlose“ Taten reichen, um strafrechtlich verfolgt zu werden. Das Oberlandesgericht Stuttgart erhob beispielsweise Anklage gegen den Kronzeugen aus Stuttgart, weil er Bustickets für eine legale Kundgebung verkaufte, zu Spendenaktionen aufrief und Festivals organisierte. Seit 2010 hat der kurdische Rechtshilfefond Azadî e.V. 46 Menschen unterstützt, gegen die Strafverfahren auf Grundlage der 129b und 129a StGB geführt wurden.

Aber nicht nur kurdische Aktivist:innen, auch Mitglieder der Türkischen Kommunistischen Partei oder der tamilischen Freiheitsbewegung Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) wurden 2019 laut Bundesregierung nach den Paragrafen 129 fortfolgende des Strafgesetzbuches angeklagt. Grundlage für die Strafverfolgung von vermeintlichen Anhänger:innen terroristischer Vereinigungen ist zum einen die Terrorliste des EU-Ministerrats sowie eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom Oktober 2010.

Seit 2001 führt die EU neben der PKK auch die LTTE oder die islamistische al-Qaida als terroristische Organisation im Ausland auf. Obwohl ein Urteil des Rats der Europäischen Union 2018 bekannt gab, dass die PKK zwischen 2014 und 2017 unrechtmäßig als Terrororganisation eingestuft wurde, hatte das keine Auswirkungen auf die Verfahren in diesem Zeitraum. Auch die Feststellung des Europäischen Gerichtshofs, dass die tamilischen LTTE zu Unrecht als Terrororganisation aufgelistet war, blieb folgenlos.

Welche Rolle spielen politische Interessen?

Die Kritik an den „Anti-Terror-Paragrafen“ ist groß – vor allem am Paragrafen 129b StGB, der auch die Bildung und Teilnahme an kriminellen und terroristischen Organisationen im Ausland unter Strafe stellt und damit die Strafverfolgung kurdischer oder tamilischer Menschen ermöglicht. Zum einen kritisieren Jurist:innen die weitreichende Eingriffsbefugnis der Ermittlungsbehörden. Oftmals haben Ermittler:innen nur Vermutungen, die auf eine terroristische Vereinigung oder die Mitgliedschaft von Menschen hinweisen, aber keine handfesten Beweise, die einen polizeilichen Eingriff rechtfertigen würden. Die Anklagen gegen kurdische Aktivist:innen zeigen die Kriminalisierung sehr deutlich – oder wertet die deutsche Justiz den Verkauf eines Tickets etwa schon als Akt des Terrors?

Zum anderen steht die Kritik im Raum, dass der Umgang mit kurdischen Aktivist:innen seitens der deutschen Behörden von politischer Natur ist und den europäisch-türkischen Interessen dient. Der Rechtshilfefond Azadî wirft der Bundesregierung und besonders Außenminister Heiko Maas vor, indirekt mit der konservativ-nationalistischen Regierung in der Türkei zu kooperieren, indem Deutschland auf eine Beschwichtigungspolitik setzt, statt die türkischen Menschenrechtsverletzungen zu kritisieren.

Das EU-Türkei-Abkommen von 2016, welches Migrationsbewegungen über die Türkei nach Europa eindämmen sollte, erweckt den Eindruck, als wolle man der türkischen Regierung politisch entgegenkommen, indem man kurdische Aktivist:innen in Deutschland genauso kriminalisiert wie in der Türkei. Die Ironie dabei: Viele dieser Menschen mussten die Türkei wegen genau dieser politischen Verfolgung verlassen und sind Anfang der 1990er-Jahre in Länder wie Deutschland, Frankreich oder Belgien emigriert.

Oft wird gefordert, die Strafnormen zur Bildung krimineller bzw. terroristischer Vereinigungen komplett abzuschaffen. Ganz unwichtig sind die Anti-Terror-Regelungen aber keineswegs, schließlich werden auch Menschen, die sich Terrorgruppen wie dem sogenannten „Islamischen Staat“ oder al-Qaida anschließen, nach §129a und b StGB verurteilt. Es ist ebenso nicht auszuschließen, dass es kurdische Gruppierungen gibt, denen zu Recht der Prozess unter diesem Gesichtspunkt gemacht wird.

Auch in Bezug auf deutsche kriminelle beziehungsweise terroristische Vereinigungen spielen die Regelungen keine unwichtige Rolle: So wurde Beate Zschäpe im Rahmen des NSU-Prozesses wegen Bildung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Was daher vor allen Dingen benötigt wird, ist eine Reform der Regelungen rund um den Paragrafen 129 StGB. So sollten beispielsweise Ermittlungsbefugnisse erst nach konkreteren Hinweisen erteilt werden dürfen und Behörden müsste eine stärkere Beweislast auferlegt werden. Damit könnten offensichtlich terroristische Organisationen zur Rechenschaft gezogen werden und Aktivist:innen weiterhin ungestört ihr verfassungsrechtlich verankertes Recht wahrnehmen, politisch aktiv zu sein.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Kat Dems finden sich auf ihrem Instagram-Account oder auf ihrer Webseite.

 

 

Cem Bozdoğan studierte Sozialwissenschaften in Düsseldorf und Gewalt- und Konfliktforschung in London. Heute arbeitet er als Redakteur für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und schreibt als freier Autor, vor allem über Themen aus Kurdistan und der Türkei.
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Johanna Luther