11.09.2020
Was kaum noch jemand zu rechtfertigen wagt
Grafik: Paul Bowler
Grafik: Paul Bowler

1988 tötete die Islamische Republik Iran Tausende politische Gefangene ohne Gerichtsverfahren. Jahrelang blieb dieses Verbrechen der Öffentlichkeit unbekannt. Doch heute drängen immer mehr Iraner*innen auf die Aufarbeitung des Massakers.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Für politisch interessierte Iraner*innen gibt es kaum eine Zeit im Jahr, die sie nicht mit einer kollektiven Tragödie assoziieren können. Jedes Jahr im Juni wird die Geschichte der iranischen Präsidenten diskutiert: Juni 1981, als der erste Präsident Irans fliehen sollte; 1997, als die Reformer an die Macht kamen und eine neue Epoche im Land beginnen sollte; 2009, der Wahlbetrug von Mahmud Ahmadinedschad gegenüber seinem Gegner Mir Hossein Mousavi. Anfang Juli erinnert sich die Öffentlichkeit an die Studentenproteste von 1999 und den Angriff auf den Teheraner Campus, bei dem mehrere Studierende starben. Mitte August redet man vom amerikanisch-britischen Coup, der am 19. August 1953 zum Sturz des unter der Bevölkerung beliebten und demokratisch gewählten Premierministers Mossadegh geführt hatte. Und wenn sich der Sommer langsam dem Ende neigt, kommen die Erinnerungen an einen der dunkelsten Momente zeitgenössischer iranischer Geschichte wieder hoch: die Massenhinrichtungen von 1988.

Tausende politischen Häftlinge wurden damals innerhalb weniger Monate ohne Gerichtsverfahren hingerichtet. Im September erreichten die Hinrichtungen ihren traurigen Höhepunkt. Auch wenn das Ausmaß dieses Massakers bis heute nicht eindeutig geklärt ist, wissen Beobachter*innen inzwischen genug, um zu bestätigen: diese Massenmorde waren „ein in der Geschichte Irans beispielloser Akt von Gewalttätigkeit – beispiellos in der Form, Intensität und der Art und Weise, wie die Hinrichtungen ausgeführt wurden“, so der iranische Historiker Ervand Abrahamian.

Eine folgenreiche Entscheidung

Die meisten Opfer dieses Massakers waren Mitglieder linker Parteien, die der islamische Staat bereits Anfang der 80er Jahre verboten hatte. Sobald die schiitischen Kleriker mit der Islamischen Revolution von 1979 die Macht übernommen hatten, machten sie sich daran, ihre Herrschaft zu festigen. Anhänger*innen und Mitglieder linker Parteien wurden verfolgt. Wer nicht rechtzeitig fliehen konnte oder wollte, wurde festgenommen, in Untersuchungshaft teilweise bis zum Tode gefoltert, und schließlich vor das sogenannte Revolutionsgericht gebracht. Dort fanden die Prozesse überwiegend hinter geschlossen Türen statt, ohne dass die Beschuldigten einen Anwalt haben durften.

Die geistlichen Richter verurteilten die hochrangigen Mitglieder dieser Parteien entweder zur Todesstrafe oder zu langjährigen Freiheitsstrafen. Einige, die keine großen Rollen in ihren Parteien gespielt hatten oder über einflussreiche Kontakte verfügten, bekamen mit mehrjährigen Gefängnisurteilen hingegen verhältnismäßig mildere Strafen.

Im Jahre 1988, als der erste Golfkrieg mit dem Irak ein Ende fand, hatten die Ersten ihre Haftstrafen theoretisch abgesessen. Doch für die islamische Führung war das ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt: Eine Mischung aus Wirtschaftskrise, politischer Isolation und militärischer Niederlagen hatten Ayatollah Khomeini, Gründer und damaliger Oberster Führer der Islamischen Republik, dazu bewegt, einen Waffenstillstand mit dem Irak zu unterschreiben. Ausgerechnet jetzt war die Zeit gekommen, die Gefangenen allmählich freizulassen.

Die islamische Führung stand vor einer großen Entscheidung: Die Häftlinge in die Freiheit zu entlassen, wäre für die Machthaber die Umsetzung ihrer eigenen rechtskräftigen Urteile gewesen. Zugleich fürchteten sie, dass die Freigelassenen sich abermals politisch engagieren könnten. Angesichts ihrer Erfahrungen und ihrer Fähigkeit, sich zu organisieren, wäre das gut möglich gewesen.

Um das Erstarken der Opposition zu verhindern, berief Khomeini ein Sonderkomitee ein, das entscheiden sollte, welche Gefangenen nicht mehr gefährlich waren und damit freigelassen werden könnten. Das Komitee, unter Iraner*innen als „Todesausschuss“ bekannt, konfrontierte die Gefangenen mit verschiedenen Fragen: Ob sie ihrer politischen Zugehörigkeit abschwören, ob sie das Ritualgebet sprechen und ob sie an die Islamische Republik glauben.

Die Häftlinge wussten nicht, dass ihr Leben von ihren Antworten abhängen würde. Wer in diesem Verhör, das nur ein paar Minuten dauerte, den Eindruck erweckte, für das islamische Regime weiterhin eine Gefahr darzustellen, wurde kurz darauf hingerichtet. Laut dem damaligen UN-Sondergesandten für Menschenrechtsangelegenheiten im Iran fanden dabei 1879 politische Gefangene den Tod. Menschenrechtsorganisationen gehen sogar von bis zu 4000 Opfern aus.

Inneres Zerwürfnis

Das Geschehen vom Sommer 1988 ist in vielen Hinsichten einzigartig. Zum einen ist es vielleicht die einzige Tat in der Geschichte dieses Regimes, deren Verantwortung keiner übernehmen will. Selbst diejenigen, die sich öffentlich für Unterdrückung der Opposition äußern. Auch für diejenigen, die den Machthabern in Iran alles zutrauen, waren diese Hinrichtungen nicht einfach zu verstehen. Außerdem hat die Islamische Republik mit den Hinrichtungen gegen eigenes Recht verstoßen und damit innerhalb der Führungsringe einen nachhaltigen Konflikt ausgelöst: Als Ayatollah Montazeri, den Ayatollah Khomeini als seinen Nachfolger vorgestellt hatte, einige Wochen nachdem er von den Hinrichtungen erfuhr, versuchte er Khomeini davon abzubringen. Zunächst schrieb er einen Brief an Khomeini. Nachdem er keine Antwort erhielt, lud Montazeri, damals noch vermeintlicher Nachfolger Khomeinis, die Mitglieder des Todesausschusses am 15. August 1988 persönlich zu sich ein.

Von dem Gespräch existiert eine Audioaufnahme, die Montazeris Familie vor einigen Jahren veröffentlichte. Darin sagt Montazeri: „Meiner Ansicht nach ist das größte Verbrechen in der Islamischen Republik von euren Händen begangen worden, für das uns die Geschichte verurteilen wird. Man wird euren Namen als Kriminelle in der Geschichte schreiben.“ Weil es ihm trotz mehrfacher Versuche nicht gelang, die Hinrichtungen zu stoppen, trat Montazeri von all seinen politischen Ämtern zurück.

Oft werden die Ereignisse des Sommers 1988 von den Überlebenden und Angehörigen der Opfer als „iranischer Holocaust“ bezeichnet, weil die Gefangenen für die Machthaber nicht als Menschen gegolten hätten, sondern bloß als eine zu verwaltende Zahl. An einer Stelle der bereits erwähnten Audioaufnahme ist zu hören, was sie meinen: Ein Mitglied des Sonderkomitees berichtet Montazeri, dass sie 200 Gefangene bereits in die Einzelzellen gebracht hätten. Nun könnten sie nicht mehr ohne weiteres in die normale Haft zurückgebracht werden, weil sie dann den anderen Häftlingen erzählen würden, was tatsächlich los sei. „Erlauben Sie uns bitte, mindestens diese 200 Gefangenen hinzurichten“, bittet der Mann Montazeri. Dieser entgegnet: „Meiner Meinung nach dürfen Sie keinen einzigen Menschen umbringen.“

Monatelang gelang es dem Todesausschuss, diese Morde vor der Öffentlichkeit und sogar vor deren Angehörigen geheim zu halten. Erst im September 1988 wurden die Familien eine nach der anderen informiert, dass ihre Geliebten teilweise bereits vor Wochen hingerichtet wurden.

Ein neues Bewusstsein

Über drei Jahrzehnte später steht dieses Massaker immer noch im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Jeden September treffen sich Familien und Freund*innen der Opfer sowie politisch Interessierte auf dem Khavaran-Friedhof in Teheran, wo ein Großteil der Opfer in Massengräbern liegt, um an sie zu erinnern. Doch bisher wurde keiner der Beteiligten zur Rechenschaft gezogen, weder diejenigen, die die Massenhinrichtungen ausgeführt haben, noch jene, die den Befehl dazu gaben.

In den ersten Dekaden nach dem Massaker wusste nur ein kleiner Teil der Gesellschaft, nämlich die Angehörigen der Opfer und ihre Parteifreund*innen, was im Sommer 1988 geschah. Die erfolgreiche Geheimhaltung dieses Verbrechens kann die Islamische Republik als Erfolgsgeschichte in Sachen Zensur verbuchen. Dieser Erfolg liegt auch am traurigen Ausmaß des Grauens: Die Tat ist so brutal, dass sich selbst die Gegner*innen der Islamischen Republik, die ihr eigentlich alles zutrauen, dieses Ausmaß an Brutalität nicht vorstellen können.

Doch durch das Internet hat sich alles verändert. Inzwischen ist das Massaker von 1988 im Bewusstsein der jüngeren Generationen angekommen. Während der Gottesstaat das Massaker leugnet, ist sich die Zivilgesellschaft darüber einig, dass dieses Verbrechen nicht ungesühnt bleiben darf. Unter der iranischen Zivilgesellschaft und unter iranischen Oppositionellen gibt es mehrere Streitigkeiten. Doch wenn es um den Sommer 1988 geht, traut sich niemand, das Verhalten der Islamischen Republik zu leugnen oder zu rechtfertigen. Selbst diejenigen, die daran beteiligt waren oder davon profitiert haben, können das Massaker nicht länger leugnen.

Omid Rezaee ist ein iranischer Journalist. 2012 verließ er seine Heimat, nachdem er aufgrund seiner journalistischen und politischen Tätigkeiten einige Monate im Gefängnis verbracht hatte. Bis Ende 2014 berichtete er aus dem Irak vor allem über den Krieg gegen den sogenannten Islamischen Staat. 2015 kam er nach Deutschland und schreibt seitdem...
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Anna-Theresa Bachmann