16.07.2020
Was wäre eigentlich so schlimm daran?
Der Luftwaffenstützpunkt „Ramstein“ in Rheinland-Pfalz. Foto: Flickr
Der Luftwaffenstützpunkt „Ramstein“ in Rheinland-Pfalz. Foto: Flickr

Die Zahl der US-Truppen in Deutschland soll verringert werden. Weite Teile von Politik und Medien  sehen darin eine Bedrohung der „freiheitlichen Weltordnung“. Was aber bedeutet diese zu stützende Ordnung konkret? Überlegungen von Leon Wystrychowski.

Was bereits Ende Juni 2018 als Gerücht für Aufruhr sorgte, ist nun, genau zwei Jahre später, offenbar beschlossene Sache: Die US-Regierung unter Donald Trump will einen Teil der Streitkräfte aus Deutschland abziehen. Von insgesamt 35.000 Soldat*innen und weiteren 17.000 zivilen Mitarbeiter*innen sollen insgesamt 9.500 zum Teil nach Polen verlegt, zum Teil in die USA zurückgeholt werden. Letztere möchten sich, so US-Sicherheitsberater Robert O'Brien, schon einmal darauf einstellen, in Manöver gegen China im Pazifikraum eingebunden zu werden.

Die aktuellen Reaktionen erinnern an jene auf den angekündigten Rückzug der US-Armee aus Syrien, der letztlich nie wirklich erfolgte  auch damals handelte es sich lediglich um taktische Truppenverlegung  in die sichere westirakische Grenzregion, wobei die ostsyrischen Ölfelder weiterhin militärisch abgesichert wurden. Auch jetzt hören wir nun vonseiten deutscher Medien und Politiker*innen scharfe Kritiken - und Warnungen. Die Welt, wie wir sie kennen, stehe am Abgrund, so der Tenor. Wo die USA sich zurückziehen, da stoßen andere Mächte vor: China, Russland, Terrorgruppen. Damit sei die „freiheitliche Weltordnung“ bedroht. Das scheint, wenn man die Medien verfolgt, weitgehender Konsens, gerade auch bei den liberalen Kritiker*innen der Trump-Administration. Aber was soll das überhaupt bedeuten?

Wessen Freiheit? Welche Welt? Was für eine Ordnung?

Nur wer keine Ahnung hat vom Globalen Süden, wo rund neun Zehntel der Menschheit lebt, kann wirklich glauben, dass die Lage dort ohne die globale Vormacht der USA schlimmer aussehen könnte. Wie Jean Ziegler seit Jahren predigt, stirbt alle fünf Sekunden ein Kind an Unterernährung, in einer Welt, deren Gesamtwirtschaft 12 Milliarden Menschen problemlos ernähren könnte.

Ganz so erhaltenswert scheint diese „Ordnung“ also nicht zu sein, unabhängig von der Rolle der USA. Bleiben wir aber bei der konkreten US-Politik und nehmen als Beispiel Länder in WANA. Die Vereinigten Staaten übernahmen dort nach dem Zweiten Weltkrieg – die traditionellen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich teils entlastend, teils verdrängend – weitgehend die Rolle des Hegemonen ein.

So wurde Washington die Schutzmacht für sämtliche Monarchien zwischen Marokko und Iran, für Israel und später auch für die Militärregime in Ägypten und Tunesien, sowie zwischenzeitlich den Irak unter Saddam Hussein. Nur am Rande sei hier an die Putsche in Iran 1951 und der Türkei 1980 erinnert, wo die Demokratie im Osten scheinbar als Gefahr für die Demokratie im Westen gesehen wurde, oder an die Iran-Contra-Affäre, bei der möglichst viele Tote nicht nur hingenommen wurden, sondern erklärtes Ziel waren.

Auch der sogenannte internationale Terrorismus, gegen den „der Westen“ unter Führung der USA seit 2001 einen „Kreuzzug“ führt, ist bekanntermaßen ein Kind der US-Politik: Die sogenannten Mujahedeen, islamistische und dschihadistische Kämpfer*innen, die in den 1970er und 80er Jahren aus zahlreichen Ländern nach Afghanistan strömten und aus denen die Taliban und Al-Qaida hervorgingen, wurden systematisch gegen das dortige pro-sowjetische Regime aufgebaut.

Mit Qatar, wo sich einer der größten US-Militärstützpunkte der USA außerhalb des eigenen Territoriums befindet, und Saudi-Arabien stehen zugleich die größten staatlichen Förderer der Muslimbruderschaft auf der einen, und der wahhabitischen Ideologie auf der anderen Seite unter dem Schutz Washingtons. Das alles ist hinlänglich bekannt.

Ähnlich bekannt sind die verheerenden Folgen, die die US-geführten Interventionen seit 2001 in WANA angerichtet haben: Die Besetzung Afghanistans hat außer mindestens 180.000 Toten und einer fragilen Marionettenregierung in Kabul wenig vorzuweisen. Der Überfall auf den Irak hat vor allem eine halbe Million Menschenleben gekostet, die Spaltung der Bevölkerung entlang konfessioneller und ethnischer Linien, die Korruption, den massiven Anstieg des iranischen Einflusses und schließlich den Aufstieg des IS bewirkt.

Letzterer wäre auch ohne die Politik der Golfmonarchien, der Türkei und der US-Geheimdienste in Syrien nicht möglich gewesen. Nicht zu vergessen die 2011 von Washington und Paris geführte NATO-Intervention in Libyen, der wir auch den aktuellen Stellvertreterkrieg dort zu verdanken haben.

Weniger geläufig dagegen sind die Folgen der US-Drohnenkriege, die insbesondere über die Luftwaffenstützpunkt im rheinland-pfälzischen Ramstein koordiniert werden: Diese waren Obamas „Alternative“ zu der Praxis unter seinem Vorgänger Bush, der „Terrorverdächtige“ entführen und in Foltergefängnissen verhören ließ. Stattdessen werden seither Todeslisten erstellt. Auf die betroffenen Menschen wird vor allem in Pakistan, Afghanistan, Jemen und Somalia, aber auch im Irak und in Syrien Jagd gemacht.

Diese Politik findet nicht im luftleeren Raum statt. Die USA und ihre Verbündeten argumentieren stets mit Gefahren, auf die reagiert werden müsste. Nun stellten aber weder der „failed state“ Afghanistan, noch der seit den 1990er Jahren durch UN-Sanktionen niedergerungene Irak eine glaubhafte Bedrohung für die Vormachtstellung der „westlichen Demokratien“ in der Welt dar.

Und auch Russland war in den ersten Jahren unter Putin weder „antiwestlich“, noch außenpolitisch sonderlich ambitioniert. Tatsächlich müssen die Kriege in Irak und vor allem in Libyen als Gründe gesehen werden, weshalb Russland seit 2014 so offensiv auftritt: Moskau enthielt sich 2011, genau wie Peking, als der UN-Sicherheitsrat eine Flugverbotszone in Libyen einrichtete. Diese wurden dann aber von der NATO für einen Regimewechsel genutzt. In der Folge blockierten Russland und China sämtliche UN-Resolutionen, die eine Einmischung der NATO-Staaten in Syrien ermöglichen. Nach dem Umsturz in der Ukraine sicherte sich Russland nicht nur die geostrategische Krim mit ihrem Zugang zum Schwarzen Meer, sondern intervenierte auch militärisch an der Seite des syrischen Regimes, mit dem es einen Vertrag über die Marinebasis Tartus gibt, den letzten Mittelmeerhafen, den Russland militärisch nutzen darf.

Ähnliches gilt für Iran, der sich mit staatlichen und parastaatlichen Akteuren in Irak, Syrien, Libanon, Gaza und Jemen ein Abwehrsystem gegen die zahlreichen US-Militärstützpunkte in der Region aufgebaut hat. Angesichts all dessen ist es schon der Gipfel westeurozentrischer Ignoranz von „Stabilität“ und „freiheitlicher Weltordnung“ zu sprechen.

Zwischen Partnerschaft und Ambitionen

Was hat all das mit Deutschland zu tun? Sehen wir einmal von der Rolle der BRD als einer engen politischen Alliierten der USA seit dem Kalten Krieg ab, bleibt zunächst die geostrategische Rolle Deutschlands für das US-Militär.

Hier befindet sich der Luftwaffenstützpunkt „Ramstein“ in Rheinland-Pfalz, über die die aufgezählten Drohnenkriege koordiniert werden. Auch der Mordbefehl gegen den iranischen General Soleimani, der beinahe einen Krieg zwischen den USA und Iran ausgelöst hätte, lief somit über diesen Stützpunkt. Daneben werden in Landstuhl, dem größten Lazarett der USA im Ausland und ebenfalls in Rheinland-Pfalz, verletzte GIs behandelt. Dieses Versorgungszentrum wurde 1953, kurz vor Ende des Koreakriegs, eingerichtet und spielte seither bei sämtlichen US-Kriegen eine Rolle bei der medizinischen Versorgung der US-Soldat*innen.

In Stuttgart befindet sich außerdem die Zentrale von AFRICOM, dem für Afrika verantwortlichen US-Militärkommando. Bezeichnenderweise war kein afrikanisches Land bereit, die Zentrale aufzunehmen, weshalb man 2009 auf Deutschland ausweichen musste. AFRICOM koordiniert die „Antiterrorkriege“ Washingtons in Afrika, was konkret die militärische Zusammenarbeit mit Regierungen, Regimen und anderen militärischen Kräften im Sinne der US-Strategie bedeutet. Auch werden hier wohl zum Teil die Todeslisten für die Drohnenkriege am Horn von Afrika erstellt, die der US-Präsident absegnen muss. Schließlich lief auch der NATO-Luftkrieg gegen Libyen zu weiten Teilen über Stuttgart.

Der Spagat, den die bundesdeutsche politische Führung und auch viele Medien schon lange vollziehen, ist beachtlich: Einerseits gelten die USA seit Beginn des Kalten Krieges als „Führer der freien Welt“, wobei die dort bis 1965 geltende Apartheid, der wahnhafte Antikommunismus mit seinen mitunter antisemitischen Untertönen und die vielen Einmischungen der USA nicht ignoriert, sondern einfach hingenommen werden.

Andererseits werden die systemimmanenten Probleme, wie Armut, zunehmende Privatisierung des Gesundheitssystems, Gewalt an Schulen usw., die es auch hierzulande reichlich gibt, allesamt auf „die Amerikaner“ mit „ihrem“ Ultrakapitalismus projiziert. Darin gefallen sich ironischerweise besonders Konservative, die sich ansonsten gerne transatlantisch geben und auch schon mal mit dem Vorwurf des Antiamerikanismus um sich werfen.

Derzeit lässt sich das anhand der Debatte um Rassismus in der deutschen Polizei beobachten, den man angeblich nicht mit dem in den USA vergleichen könne. Den jüngsten Vorstoß unternahm Horst Seehofer. Das gleiche gilt für die Kriege der USA, die stets als grundsätzlich legitim galten: Vietnam wird gemeinhin als US-amerikanische „Tragödie“, nicht als Verbrechen gegen die Menschen in Vietnam erachtet. Ist vom „Scheitern“ des Irakkriegs die Rede, so wird meist unausgesprochen angenommen, dass es um die Errichtung einer stabilen Demokratie gegangen sei. Zugleich will man in Deutschland mit den schmutzigen Seiten eben dieser Kriege nichts zu tun haben. Angeblich stand die BRD ja immer auf der richtigen Seite wenn, wie in Jugoslawien, schon nicht völkerrechtlich, so doch zumindest moralisch.

Zurück auf die Weltbühne

Die Bundesrepublik setzt in vielen Konflikten auf die Rolle des „ehrlichen Marklers“. Wie aber schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als sich das Deutsche Reich ebenfalls als angeblich neutralen und defensiven Player darzustellen versuchte, liegt diese Rolle vor allem darin begründet, dass Berlin, wie etwa im Fall des Pipeline-Projekts „North Stream 2“, mit den eigenen Interessen immer öfter zwischen den Stühlen der Großmächte sitzt.

Zudem sind die Deutschen nach zwei Weltkriegen „militärisch entwöhnt“, wie es die Verteidigungsministerin und CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer ausdrückt. Trotzdem hat sich Berlin seit 1990 zunehmend wieder aufs internationale Parkett gewagt. Wie die ängstlichen Reflexe auf alle Ankündigungen Trumps, Truppen aus irgendwelchen Gebieten abzuziehen, zeigen, steht die BRD jedoch noch auf wackeligen Beinen und möchte auf die stützende transatlantische Hand vorerst nicht verzichten.

Das zeigen auch die Reaktionen auf die angekündigte Reduzierung der hier stationierten US-Soldat*innen. Andererseits gibt es auch Stimmen, die diesen Teilabzug als Blaupause für eine zunehmende Eigenständigkeit der EU und damit Deutschlands sehen. Dieser Kurs läuft seit Jahren unter dem Motto „Mehr Verantwortung übernehmen“, wie es seit 2016 im Weißbuch der Bundeswehr heißt.

In diese Richtung zielten auch zwei viel beachtete Reden im vergangenen November: Während die ehemalige deutsche Verteidigungsministerin und jetzige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte, „Europa“, womit sie die EU meinte, müsse „die Sprache der Macht lernen“, erklärte Kramp-Karrenbauer, dass auch „strategische Interessen“ Deutschlands militärisch verfolgt werden müssten. Für eine solche Aussage über den Afghanistankrieg hatte Horst Köhler neun Jahre zuvor noch als Bundespräsident zurücktreten müssen.

Ein Beispiel für das Lavieren der deutschen Außenpolitik zwischen „soft power“, Wirtschaftsmacht und militärischer Einmischung ist Nordafrika. Zu allen dortigen Staaten pflegt die Bundesrepublik gute Beziehungen: Aus Marokko kommen vor allem Fisch, Gemüse und Phosphat, Ägypten und Algerien gehören zu den größten Kunden deutscher Waffen und Tunesien gilt als wichtiger Zulieferer der Auto- und Textilindustrie.

In all diesen Ländern sind zahlreiche deutsche Institute vertreten. Außerdem wurden sie seit Jahren von der EU zu verlässlichen Bollwerken für die Flüchtlingsabwehr aufgebaut. Nur Libyen tanzt aus der Reihe: Nachdem Qaddafi 2011 gestürzt und sich der Ölkonzern Wintershall wegen des Bürgerkriegs seit 2014 zunehmend zurückgezogen hat, kommen von dort statt Öl –  vor allem geflüchtete Menschen über das Mittelmeer. Da helfen auf Dauer weder als „Küstenwache“ bezeichnete Milizen, noch ein Goethe-Institut. Aus Berliner Sicht unhaltbar.

Während der offizielle Zweck der EU-Marinemission „Irini“, nämlich das Waffenembargo über Libyen zu gewährleisten, bereits vor Beginn zweifelhaft war, stahl in der Folge auch noch Russland Deutschland die Show als Vermittler. Die laute Überlegung vonseiten der Bundesregierung, nun noch mehr Soldaten, diesmal im Zuge einer UN-Mission, zu entsenden, kommt also nicht von ungefähr.

Die Verhältnisse zum Tanzen bringen

Auch wenn Deutschland im Vergleich zu den USA offenbar deutlich weniger Schaden in der Welt anrichtet bzw. anrichten kann, ist klar, dass eine Kritik an der verheerenden Weltmachtpolitik Washingtons nur ehrlich sein kann, wenn sie auch die Berliner Ambitionen in den Fokus nimmt.

Ein Abzug der US-Truppen aus Deutschland wäre aus Sicht von Millionen Menschen zwischen Senegal und Pakistan alles andere als eine Bedrohung „ihrer“ Ordnung. Tatsächlich könnte ein solcher mit Blick auf Westasien und Afrika ein erster Schritt dahingehend sein, dass mächtige Staaten aufhören, sich in schwächere einzumischen.

Diese Überlegungen bleiben natürlich hypothetisch, denn weder würde irgendeine US-Regierung sich ersatzlos freiwillig aus einem strategisch wichtigen Land zurückziehen, noch würden andere Mächte wie Russland, China - oder Deutschland eine solche Lücke offenlassen. Schlechter würde die Welt durch einen kompletten Abzug der US-Armee aus Deutschland (oder Irak oder Syrien) in jedem Fall nicht.

In der Realität hat der von Trump verkündete „Abzug“ kaum Auswirkungen. Was aber bleibt, ist die Möglichkeit, sich darüber im Klaren zu werden, was das für eine „Ordnung“ ist, über die wir ständig so viel lesen und hören.

 

Leon studiert Geschichte und Orientalistik/Islamwissenschaft an der Ruhr-Uni Bochum mit den Schwerpunkten Politik und Neuere und Neueste Geschichte. Bislang besuchte er Ägypten, die Türkei, Iran, Israel, Palästina und Oman.
Redigiert von Elisa Söll, Eva Garcke