23.04.2014
Weißes Papier gewinnt die libanesische Präsidentenwahl
Samir Geagea (l.) wartet auf den Ausgang der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen. Bild: Samir Geageas Twitter-Account @DrSamirGeagea (https://twitter.com/DRSAMIRGEAGEA/status/458893910715023361)
Samir Geagea (l.) wartet auf den Ausgang der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen. Bild: Samir Geageas Twitter-Account @DrSamirGeagea (https://twitter.com/DRSAMIRGEAGEA/status/458893910715023361)

Es wurde die erwartete Farce: Bei der ersten Abstimmungsrunde für einen neuen libanesischen Präsidenten blieben die meisten Stimmzettel leer; Samir Geagea war der aussichtsreichste Kandidat, doch viele Abgeordnete erinnerten an seine umstrittene Rolle im Bürgerkrieg. Taktische Spielereien prägten die Tage zuvor. Wie es jetzt weitergeht ist offen, doch die Wahl eines Konsenskandidaten wird immer unausweichlicher.

„Waraqa baida”, sagte Nabih Berri, dann wieder: „Waraqa baida”, „Waraqa baida”, und irgendwann schenkte er sich das „Waraqa” und sagte nur noch: „Baida”. Wer die Stimmenauszählung heute im libanesischen Parlament verfolgte und kein Arabisch konnte musste glauben, dass sich der unbekannte Kandidat Waraqa Baida soeben anschickte, sensationeller Überraschungspräsident des Libanon zu werden. Doch Waraqa Baida heißt einfach nur „weißes Papier” – 52 der 124 libanesischen Abgeordneten gaben einen leeren Stimmzettel ab. Samir Geagea, der Kandidat der Allianz des 14. März, erhielt 48 Stimmen, für Henry Helou stimmten 16 Abgeordnete. Somit verfehlten alle Kandidaten deutlich die erforderliche zwei-Drittel-Mehrheit (86 Stimmen), um im ersten Wahlgang libanesischer Präsident zu werden (für Hintergründe zur libanesischen Präsidentschaftswahl und der aussichtsreichsten Kandidaten, siehe hier).

Bemerkenswert war, dass jeweils eine weitere Stimme auf Rashid Karami, Jihan Tony Franjieh, Elias el Zayek, Dany Chamoun und zwei auf Tarek Dany Chamoun entfielen – Menschen, die im Bürgerkrieg starben und für deren Tod Samir Geagea als Anführer der Miliz der Lebanese Forces verantwortlich sein soll. Die Abgeordneten protestierten auf diese Weise dagegen, dass Samir Geagea überhaupt für das Amt des libanesischen Staatsoberhaupts kandidierte, obwohl er 1994 aufgrund seiner Verbrechen im Bürgerkrieg zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt und erst 2005 wieder begnadigt wurde. Niemand stimmte für Nadine Moussa, eine Anwältin, die gestern als erste Frau in der Geschichte ihre Präsidentschaftskandidatur angekündigt hatte und von vielen Libanesen sehr geschätzt wird. Ein weiterer Umschlag enthielt keinen Stimmzettel, und eine Stimme entfiel auf Amin Gemayel.

Amin Gemayel, Anführer der christlichen „Phalangisten”-Partei, könnte nun im zweiten Wahlgang am nächsten Mittwoch anstelle von Geagea für die Koalition des 14. März kandidieren, wenn eine absolute Mehrheit (50 Prozent der Stimmen plus eins) ausreicht. Der 14. März hatte stets beteuert, pro Wahlgang nur mit einem Kandidaten antreten zu wollen. Mit einer diplomatischen Charme-Offensive hatte Geageas Frau Strida erreicht, dass Gemayel im ersten Wahlgang auf eine Kandidatur verzichtete. Doch es darf bezweifelt werden, dass Gemayel erneut ins Glied zurücktritt. Er war bereits von 1982 bis 1988 libanesischer Präsident, während des Bürgerkriegs. In seine damalige Amtszeit fällt der Friedensvertrag mit Israel aus dem Jahr 1983, den die Regierung jedoch 1984 wieder zurücknahm. Ebenso ist unwahrscheinlich, dass Geagea seine Blamage von heute wiederholen will – wobei man da bei ihm nicht sicher sein kann. Seine Frau Strida hat jedenfalls angekündigt, „bis zum Schluss zu kämpfen”.
Auch nächste Woche wohl noch kein Sieger

Geageas heutige Niederlage war zu erwarten; er konnte nicht davon ausgehen, Stimmen aus dem Lager des 8. März zu bekommen, nachdem er in seinem Wahlprogramm das Gewaltmonopol des Staates betont hatte und damit die Hizbollah angriff. Dass der 8. März noch keinen eigenen Kandidaten nominiert hat, überrascht dagegen: Viele Beobachter rechneten fest mit der Kandidatur von Michel Aoun. Doch der ehemalige General, dessen einziges politisches Ziel in den vergangenen Jahren zu sein schien, dass er selbst irgendwann Präsident wird, wartet wohl darauf, dass ihn eine Mehrheit der Abgeordneten um seine Kandidatur bittet – eine Niederlage wie die heutige von Geagea soll ihm nicht passieren.  Anders ist seine Zurückhaltung kaum zu erklären. Seine Partei, die „Freie Patriotische Bewegung”, gab leere Stimmzettel ab, bis ein „Konsenskandidat" gefunden sei – der dann wohl Michel Aoun heißen soll.

Bislang deutet wenig darauf hin, dass nächste Woche ein aussichtsreicher Kandidat antritt, der keinem der beiden großen Lager, 8. März oder 14. März, angehört. Auch Aoun ist kein Konsenskandidat, wenngleich sein Erfolg wahrscheinlicher scheint als der von Geagea oder Gemayel – er ist wohl auch der mysteriöse namenlose Favorit der Hizbollah. Allerdings hat Aoun weder das Vertrauen noch die Unterstützung von Parlamentspräsident Berri oder von Walid Joumblatt. Letztgenannter dürfte nächste Woche wohl wieder einmal das Zünglein an der Waage spielen: Angenommen, Gemayel kandidiert für den 14. März und Aoun für den 8. März, hätte keiner der beiden Kandidaten die Chance auf eine Mehrheit im Parlament. Walid Joumblatt, Anführer der hauptsächlich drusischen „Fortschrittlichen Sozialistischen Partei”, wäre dann erneut in seiner Lieblingsrolle als Königsmacher. Beim heutigen Wahlgang schickte seine Partei mit Henry Helou einen eigenen, freilich aussichtslosen, Kandidaten ins Rennen, um sich keiner der beiden Allianzen anschließen zu müssen. Es ist gut möglich, dass Joumblatt auch nächste Woche zu einem ähnlichen Manöver greift, falls kein Konsenskandidat gefunden ist. Dann hätte wieder niemand eine Mehrheit.

Die taktischen Spielchen gehen also weiter. Einen Monat haben die Abgeordneten noch Zeit, am 25. Mai scheidet Michel Sleiman aus dem Amt. Bis dahin müssen sie einen Nachfolger finden, um ein Vakuum an der Staatsspitze zu vermeiden. Doch die Frage drängt sich auf, ob ein weißes Stück Papier am Ende nicht doch der beste Präsident wäre, den der Libanon aktuell bekommen kann...

 

Lesetipp: Die Idee, dass Büromaterial wohl der bessere libanesische Präsident wäre, hat die großartige Satire-Seite Karl reMarks zu einer lesenswerten Glosse weitergesponnen: Stapler Accidentally Elected President of Lebanon.

Sein Journalistik-Studium führte Bodo vor einigen Jahren in den Libanon. Es folgten viele weitere Aufenthalte im Libanon und in anderen Ländern der Levante, auch als Reiseleiter für Alsharq REISE. Bodo hat einen Master in Politik und Wirtschaft des Nahen und Mittleren Ostens in Marburg und arbeitet heute als Journalist, meist für die Badischen...