19.07.2018
Wie ich mir meinen Aufenthalt in Deutschland schon mit der Bagdad-Bahn verdient habe

Die Debatte um europäische Werte von Demokratie und Menschenrechten ist wieder aufgeflammt. Dabei glauben die Europäer immer noch sie hätten sich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durch eigene Anstrengung erarbeitet - dabei waren es wohl eher die Menschen in Mosul. Schluwa Sama klärt auf.

Dieser Text ist Teil der Alsharq-Kolumne „Des:orientierungen“. Alle Texte der Kolumne finden Sie hier.
 

„Say it loud, say it clear: Refugees are welcome here“ war gefühlt der wichtigste Spruch auf der Demonstration „Seebrücke - schafft sichere Häfen“ in Berlin am 7. Juli. Ca. 12.000 Menschen waren in Berlin auf die Straße gegangen, um gegen die Kriminalisierung von Seenotrettung zu demonstrieren. Während ich also mitrief, fragte ich mich, ob „Refugees are welcome“ zu skandieren, allein reicht.

Reicht es, dafür zu demonstrieren, Refugees willkommen zu heißen, bzw. nicht ertrinken zu lassen? Reicht es, sie ankommen zu lassen in Europa, ihnen dann ein Asylverfahren zu ermöglichen und sie danach womöglich noch freundlich auf einen Kaffee einzuladen? Und dann können sich alle als gute Europäer*innen zurücklehnen? Ging es hier also nur darum, das eigene Selbstbild zu verteidigen, um anschließend stolz auf die eigene „Humanität“ sein zu können?

Wolfgang Luef bestätigte meinen Verdacht, dass es zumindest teilweise um den europäischen Stolz ging. In seiner Kolumne „Der Abschied“, wahrscheinlich guten Gewissens verstanden als eine Art humanitäre Intervention in eine zutiefst rassistische, deutsche Debatte zur Seenotrettung, schrieb er: „Der kleine Stolz, den man noch vor Kurzem empfinden konnte, ein Europäer zu sein, er ist zusammen mit tausenden Männern, Frauen und Kindern im Mittelmeer ertrunken.“

Wie viele Schritte in die Barbarei gibt es?

Vor kurzem erst? Was ist denn bei Ihnen, Herr Luef, vor kurzem? Vor 10 Jahren als die NSU-Morde in Deutschland anfingen und die Gesellschaft weggeguckt hat? Oder eher vor so 100 Jahren als der erste Völkermord der Deutschen Kolonialmacht an den Herero stattgefunden hat? Gegen Ende seines Artikels appelliert Wolfgang Luef an seine Leser*innen doch bitte nicht in der Barbarei zu versinken:

„Man kann sogar der Meinung sein, Flüchtlinge sollten, wenn sie es bis hierher schaffen, möglichst nicht am öffentlichen Leben teilnehmen dürfen, damit sie sich bloß nicht integrieren und schnellstmöglich zurückgeschickt werden können, wenn Gerichte das so entscheiden. Menschen aber sehenden Auges ertrinken zu lassen, als abschreckendes Beispiel für andere, das ist keine Meinung. Es ist der erste Schritt in die Barbarei.“

Eigentlich will Herr Luef Europa ja nur vor dem ersten Schritt in die Barbarei warnen. Leider erkennt er dabei nicht, dass Europa diesen Schritt schon lange hinter sich hat. Keinen weiteren Schritt mehr in die Barbarei zu machen, würde bedeuten, dass Europa die bisherige Barbarei, die es in der Welt angerichtet hat, endlich anerkennt und stoppt.

So schwer ist das Erkennen der Barbarei gar nicht. Ich gebe gerne mein Beispiel. Ich machte meine ersten Erfahrungen mit der europäischen Barbarei, als ich Tobias eine Schelle gab. Eigentlich ein reiner Reflex und Tobias war mehr als frech zu mir: „Sei froh, dass wir dich überhaupt aufgenommen haben“, sagt er. Als Frau Schwanenberger das mit der Schelle bemerkte, erklärte sie, dass Gewalt auch keine Probleme löst. Damit machte sie mir damals deutlich, dass man auch Rassisten wie Tobias zuhören muss. Sie sprach es nicht aus, aber ich erkannte ab dann immer wieder die gleiche Idee, mit der ich mich seither in verschiedenen Kontexten immer wieder konfrontiert sehe. Es ist die „Demut-vor-dem-Deutschen-Staat-Debatte“. Die Debatte ist inhaltlich nicht sehr tiefschürfend.

Schlimm genug, dass dieser Diskurs mir als 14-jährigem Mädchen Minderwertigkeitskomplexe aufdrängen wollte, obwohl ich schon die ganzen anderen Komplexe hatte. Meine Mitschüler*innen hatten Komplexe wie „keine-so-schönen-blonden-langen-Haare“ wie Paddy Kelly von der Kelly Family zu haben, oder zu kleine Brüste, oder zu viele Pickel oder komisch erscheinendem Haarwuchs. Zumindest waren diese Sachen irgendwann, irgendwie geklärt. Aber den Komplex, in Deutschland nur „welcome“ zu sein, weil die Europäer Menschenrechtswerte im Blut haben und ich nicht, sie mich trotzdem aufnehmen und deswegen Heilige sind, ging nicht so leicht weg. Zumindest, bis ich dann bemerkte, dass ich doch schon längst für all das bezahlt habe.

Eine imperiale Macht zum Schutz der Kurden?

Auf jeden Fall hat meine Familie 1904 dafür schon bezahlt. 1904 sicherte sich die Deutsche Bank die exklusiven Rechte am Öl um Mosul und begann anschließend den Bau der Bagdad-Bahn, die für die Deutsche Bank eine Art Ölpipeline auf Schienen werden sollte. Der deutsche Botschafter in Konstantinopel, Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein, spricht 1899 in kolonialer Manier die Haltung des Deutschen Reiches aus, indem er das Projekt wie folgt beschreibt: „die Bahnlinie von dort [Konstantinopel]bis Bagdad [ist]ein deutsches Unternehmen, das nur deutsches Material verwendet und zugleich für Güter und Personen die kürzeste Linie bildet aus dem Herzen Deutschlands nach seinen ostasiatischen Besitzungen".

Die imperiale Idee, sich mit dem Bau der Bahn Absatzmärkte zu erschließen und ein imperiales Konkurrenzspiel mit England auf Kosten der Menschen in Mesopotamien anzufangen, zeigt, dass es sich nicht einfach nur um ein Infrastrukturprojekt handelte, sondern ein koloniales Projekt zur Kontrolle und Ausbeutung der Region WANA war. Der Historiker Timothy Mitchell zeichnet in seinem Buch ‚Carbon Democracy: Political Power in the Age of Oil‘, eine komplexe Geschichte nach, in der deutlich wird, wie die Deutsche Bank zunächst noch versucht, die Ölproduktion in WANA zu verzögern, um sowohl die Ölproduktion im heutigen Irak zu kontrollieren, als auch die internationale Ölpreise.

Zudem soll über diese Kontrolle die Möglichkeit verhindert werden, dass Menschen in WANA auf der Basis eines selbstbestimmten Zugriffs auf ihre eigenen Ressourcen politische Ansprüche auf soziale Gleichheit und politische Teilhabe erheben können (siehe Mitchell, s.86). Die Sicherstellung der Kontrolle über Ölressourcen in Mosul wird nach dem ersten Weltkrieg mit einer perfiden Logik gerechtfertigt. So erklärte etwa der Völkerbund, dass die Provinz Mosul mit einer mehrheitlich kurdisch-sprachigen Bevölkerung den Schutz einer imperialen Macht brauche. Daher, so die Logik, müsse Mosul dem Irak zugerechnet werden und das Völkerbundmandat, also die koloniale Ausbeutung des Irak, um 25 Jahre verlängert werden.

Der Diebstahl dieser Ölressourcen seitens europäischer und amerikanischer Ölfirmen aus WANA bedeutete, dass die heutigen Lebensformen in den liberalen Wohlstandsdemokratien in Europa und den USA materiell erst möglich gemacht wurden durch bestimmte Energieregime. Zu bedenken ist, wie Mitchell erklärt, dass nach Kohle, Öl aus der WANA Region der wichtigste Energielieferant wurde.

Dass es in Deutschland zum Beispiel gute Schulen gibt, die einem manchmal sogar einen sozialen Aufstieg ermöglichen, wurde materiell möglich gemacht unter anderem durch den Zugriff auf unerschöpfliche Ölressourcen. Um westlichen Ölfirmen den Zugriff auf diese Ressourcen (weiterhin) zu sichern, sind die westlich Staaten auf undemokratische Verhältnisse in WANA angewiesen und daran interessiert, diese auch so zu belassen. Anders gedacht kann man auch treffend wie Hagen Rether in der Hymne des Wutbürgers sagen: Ihre Fluchtursache ist unsere Lebensweise.“

 

Wann hört Europa auf, den Rest der Welt kaputt zu machen?

Um also überhaupt von irgendeiner Art von Humanität Europas zu reden, auf die man dann gerne in 100 Jahren stolz sein kann, braucht es erstmal eine Aufarbeitung dieser barbarischen Geschichte und ein Ende dieses „sei-doch-froh-dass-du-in-Deutschland-zur Schule-gehen-kannst-Hochmuts“. Denn dafür haben meine Ur-Oma und mein Ur-Opa schon 1904 bezahlt.

Ich verzichte auf die Einladung „Refugees welcome“, wenn Europa endlich aufhört, den Rest der Welt kaputt zu machen. Wenn Deutschland aufhört, seine Sicherheit am Hindukusch zu verteidigen und stattdessen die Sicherheit von Menschen wie Jamal Nasser M. garantiert, der am Geburtstag von Horst Seehofer sterben musste. Europa soll einfach nichts kaputt machen, aber wenn es schon alles kaputt macht, dann ist ‚Refugees welcome‘ das Mindeste, was getan werden sollte. Alles andere ist nur die Kontinuität der europäischen Barbarei. Um einige Schritte geht es da schon gar nicht mehr.

Schluwa ist Doktorandin am Centre for Kurdish Studies, University of Exeter. Sie promoviert zur politischen Ökonomie Irakisch-Kurdistans mit einem Fokus auf das Alltagsleben von Bäuer*innen. Dabei beschäftigt sie sich u.a. mit kolonialen Kontinuitäten, globalem Kapitalismus, Krieg und Landwirtschaft im Kontext Kurdistans und dem Irak. Für ...