Am 07. September ereignet sich im sonst ruhigen Hafen von Sidi Bou Said in der tunesischen Hauptstadt Tunis eine besondere Szene: Menschen aus ganz Tunesien kommen zusammen, um die Global Sumud Flotilla zu empfangen. Dis:orient war vor Ort.
This article is also available in English: Bound for Gaza: The Global Sumud Flotilla leaves Tunis.
Der Inhalt dieses Artikels ist Teil aktueller Entwicklungen. Weitere Informationen, Updates oder deraktuelle Standort der Flotilla sind auf der Webseite der Global Sumud Flotilla zu finden: globalsumudflotilla.org.
Die Schiffe der Flottille erreichen die tunesische Küste gegen vier Uhr nachts. An Bord befinden sich Menschen aus 44 Nationen, alle mit einem gemeinsamen Ziel: Den Völkermord in Gaza zu stoppen, die seit 2007 andauernde Gaza-Blockade und die menschengemachte Hungersnot zu beenden – ein Ergebnis der israelischen Blockade, die verhindert, dass sowohl Menschen als auch jegliche Güter Gaza betreten oder verlassen können.
Palästinensische Flaggen schmücken den Strand von Sidi Bou Said, gehalten von den Unterstützer:innen der Flottille. Die Stimmung ist überwiegend gleich: „Wir wünschten, wir könnten selbst mitfahren.“ Und so versammeln sich Mütter, Töchter, Söhne und Väter jeden Alters um Wael Naouar, Greta Thunberg, Yasemin Acar und Thiago Ávila und hören ihren Worten aufmerksam zu.
Eine böse Überraschung
Die Komitees der Global Sumud Flotilla (GSF) und der Maghreb Sumud Flotilla gaben bekannt, dass sie am 10. September gemeinsam nach Gaza segeln wollen. Der Plan verläuft erst einmal wie erhofft, als die Schiffe anlegen. Die Teilnehmer:innen werden registriert und kontrolliert.
Die notwendigen Schritte, die zu befolgen sind, werden erledigt, während alle ungeduldig auf den Beginn der Fahrt nach Gaza warten – in der Hoffnung, den Wandel, den bisher keine einzige Regierung gebracht hat, in Gang zu setzen.
Am 9. September, kurz nach Mitternacht – die Schiffe befinden sich noch in tunesischen Gewässern – wird eines der Hauptschiffe namens „Family” von brennender Munition getroffen. An Bord befinden sich die Mitglieder des GSF-Steuerkomitees, das unter portugiesischer Flagge segelt. Die Besatzung der „Family“ nimmt Stellung: Es handele sich um einen Angriff einer israelischen Drohne, die versucht habe, ihre Mission zu stoppen. In einer offiziellen Erklärung behauptet die tunesische Generaldirektion der Nationalgarde hingegen, dass das Feuer durch eine Zigarettenkippe, die auf eine Rettungsweste an Bord gelandet ist, ausgelöst worden sei. Mitglieder der GSF veröffentlichen allerdings Videos aus verschiedenen Blickwinkeln, die zeigen, dass etwas von außerhalb des Bootes auf das Deck abgefeuert wurde. Außerdem scheint das Hintergrundgeräusch in den Aufnahmen, bevor ein Feuerball das Boot trifft, von einem fliegenden Objekt zu stammen. Die Crew wurde bei dem Angriff glücklicherweise nicht verletzt.

Die tunesischen Bürger:innen reagieren sofort: Sie versammeln sich in weniger als einer Stunde nach dem Vorfall im Hafen, um ihre Solidarität und ihre Unterstützung zu bekunden. Eine Person aus der Menge sagt: „Wir haben keine Angst hier zu sein, ihr Angriff erinnert uns nur daran, warum wir das alles tun.“ Die Aktivist:innen der GSF erklären noch am selben Tag in einer Pressekonferenz, dass sie unter allen Umständen weiter segeln werden. Mohammed Mrad, ein junger tunesischer Schauspieler, der sich der GSF angeschlossen hat, betont: „Trotz allem, was passiert ist, haben wir beschlossen, am selben Tag in See zu stechen.“ Seine Erklärung beruhigt die Umstehenden, von denen viele schon lange auf eine Mission wie die der GSF gewartet haben – eine Mission, die das palästinensische Volk durch Taten und nicht nur durch Worte unterstützt.
Ein unbeugsamer Wille
Am folgenden Tag, dem 10. September wird erneut gegen Mitternacht, noch immer in tunesischen Hoheitsgewässern, ein weiteres Schiff namens „Alma“ angegriffen. Die Besatzungsmitglieder bergen ein verbranntes elektronisches Gerät vom Deck. Auch diesmal wurden die Aktivist:innen an Bord glücklicherweise nicht verletzt. Das tunesische Innenministerium veröffentlicht kurz darauf eine uneindeutige Erklärung: „Der Angriff auf eines der im Hafen von Sidi Bou Said vor Anker liegenden Schiffe war ein Angriff, der weitere Untersuchungen erfordert“. Israel hat sich zu keinem der beiden Angriffe offiziell bekannt.
Obwohl es keine offiziellen Solidaritätsbekundungen seitens tunesischer Institutionen oder der Regierung gibt, ist die Nationalgarde und die Polizeibeamt:innen bei der Organisation der Menschenmengen im Hafen und im Umgang mit den Teilnehmer:innen, Organisator:innen und Unterstützer:innen sehr hilfsbereit. Gleiches gilt für die Hafenverwaltung, ebenfalls eine staatliche Institution – sie trägt dazu bei, einen sichereren Raum für die Teilnehmer:innen der Flottille zu schaffen, und zeigt ihre Unterstützung. Dies ließ viele Tunesier:innen mit der Frage zurück, warum Unterstützung ausschließlich implizit zum Ausdruck gebracht wird.
„Wir lassen uns nicht abschrecken. Wir lassen uns nicht aufhalten. Wir werden gemeinsam nach Gaza segeln und die Blockade durchbrechen“. Mit dieser Botschaft reagieren die Besatzungsmitglieder auf den Angriff. Louay Cherni, ein tunesischer Content Creator und ebenfalls Teilnehmer der GSF, erklärt: „Jeder Versuch, die Global Sumud Flotilla anzugreifen, wird uns noch mehr zusammenschweißen. Wir alle sind entschlossen, in See zu stechen.“
Erneut fluten Videos von Menschen, die ihre Unterstützung bekunden, das Internet: Sie versammeln sich um die Flottille und feiern, teils mit Feuerwerk, als trotzige Antwort auf den Angriff. Die warme und freundliche Atmosphäre lässt das Geschehene fast vergessen.
Der lang ersehnte Tag
Keiner der Angriffe konnte den Willen der Menschen brechen, die ungeduldig auf den Tag der Abreise warten. Erneut versammeln sich Tausende im Hafen von Sidi Bou Said: Pressevertreter:innen, Organisator:innen, Teilnehmer:innen und ihre Familien aus aller Welt. Überall sind Sprechchöre zu hören, die Freiheit für Palästina fordern und ihre Unterstützung für die GSF bekunden. Palästinensische Fahnen werden geschwenkt.
Die Abfahrt ist für etwa vier Uhr nachmittags geplant. Im Laufe des Tages werden letzte Vorbereitungen getroffen. Doch das Wetter, mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 80 km/h und Regenschauern über der Stadt, durchkreuzt die Pläne. Das GSF-Komitee entscheidet, dass es unter diesen Umständen nicht sicher sei, in See zu stechen. Stattdessen sollen sie aus logistischen Gründen am nächsten Tag erst einmal in Richtung des tunesischen Hafens Bizerte segeln. Trotz dieser Planänderung liegt Aufregung in der Luft, und die Teilnehmer:innen bekunden, dass sie sich bereit für die Mission fühlen.
Die letzten Schritte
Das schlechte Wetter hält auch am Folgetag an und hindert die Schiffe daran, ihre Reise nach Gaza anzutreten. Sie machen sich also stattdessen, wie tags zuvor beschlossen, auf den Weg zum Hafen von Bizerte. Für die Menschen in Bizerte ist dies eine erfreuliche Gelegenheit: Wieder versammeln sich Menschenmassen, um die Schiffe willkommen zu heißen. Sie zeigen ihre Unterstützung durch Lieder, wehende Palästinafahnen und versorgen die GSF-Besatzungen mit Essen und Getränken.
Am nächsten Morgen nähern sich die Schiffe dem letzten Kontrollpunkt, von dem aus sie im Abstand von je drei bis sechs Stunden nacheinander in internationale Gewässer auslaufen sollen. Drei Tage später, am 15. September, treffen sich die Schiffe an der Küste von El Bounta in der Stadt El Haouaria und segeln von dort aus gemeinsam weiter, um sich mit den übrigen Schiffen der Freedom Flotilla Coalition zu treffen.
Während die GSF mittlerweile die tunesischen Gewässer verlassen hat und ihre Mission in Richtung Gaza fortsetzt, verfolgen die Tunesier:innen aufmerksam die Nachrichten und beobachten diejenigen, die sich im Namen des gemeinsamen Zieles auf den Weg gemacht haben – fest entschlossen, die Mission bis zum Ende zu unterstützen.
Nach erneuten israelischen Angriffen auf die Flottille am 23. September versammeln sich Hunderte in den Straßen verschiedener tunesischer Städte, um Schutz für die GSF zu fordern. In der Zwischenzeit weitet die israelische Besatzungsarmee ungehindert ihre Bombardierungen des Gazastreifens aus – einen sicheren Ort gibt es nicht.
Gestern, in der Nacht vom 1. Oktober kurz vor der Küste von Gaza, fängt israelisches Militär Schiffe der Global Sumud Flotilla ab.





















