12.02.2024
Deutschlands Rolle im Gaza-Krieg: Perspektiven aus WANA
Deutschlands Unterstützung Israels wird in der WANA-Presse viel diskutiert. Bild: Pixabay
Deutschlands Unterstützung Israels wird in der WANA-Presse viel diskutiert. Bild: Pixabay

Deutschland wird als bedingungsloser Unterstützer und Partner Israels seit Beginn des Gaza-Kriegs international kritisiert. Mit diesem Pressespiegel stellt dis:orient Perspektiven aus der WANA-Region zum Thema dar.

Seit dem 7. Oktober 2023 solidarisiert sich ein Teil der deutschen Zivilgesellschaft und deutsche staatliche Institutionen mit Israel, beispielsweise symbolisch mit Kundgebungen vor dem Brandenburger Tor, das mit der israelischen Flagge angestrahlt wurde. Auf der anderen Seite gab es pro-palästinensische Kundgebungen, die öffentlich und politisch unter anderem hinsichtlich des Vorwurfs der Gewalttätigkeit und antisemitischer Äußerungen der Demonstrant:innen Kritik erfuhren. Solche Demonstrationen entsprechen nicht der Regel: Außerhalb der Hauptstadt fanden viele friedliche Demonstrationen statt. Dennoch wurden Demonstrationsverbote ausgesprochen und weitere pro-palästinensische Bekundungen sanktioniert. Hierzu zählt das Verbot palästinensischer Symbole an Berliner Schulen, die Absage der Preisverleihung für die palästinensische Schriftstellerin Adania Shibli auf der Frankfurter Buchmesse und die Entlassung des Spielers Anwar El Ghazi des 1. FSV Mainz 05.

Wie Antisemitismus definiert wird, bleibt in diesem Kontext auch eine zentrale Frage: Am 22. Januar 2024 wurde die viel debattierte Erweiterung der Berliner Förderrichtlinien für Kunst- und Kulturförderung um die IHRA-Antisemitismusdefinition zurückgenommen, sowie das verpflichtende Bekenntnis zum Existenzrecht Israels für die Einbürgerung im Land Sachsen-Anhalt.

Am 28. Oktober enthielt sich Deutschland bei der Abstimmung über eine UN-Resolution zur Verbesserung der humanitären Lage in Gaza und für eine sofortige Waffenruhe. Hinzu kommt, dass der Warenwert der Waffenlieferungen Deutschlands nach Israel bis einschließlich 2. November von 32 auf 303 Millionen Euro im Vergleich zum Vorjahr 2022 anstieg.

Südafrika reichte am 29. Dezember 2023 vor dem Internationalen Gerichtshof Klage gegen Israel wegen Verstoßes gegen das Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes ein. Deutschland solidarisierte sich mit Israel und dessen Recht auf Selbstverteidigung und trat am 12. Januar 2024 in den Prozess als Drittpartei ein. Diese Presseschau stellt dar, wie die deutsche Rolle in der WANA-Region aufgenommen wurde.

Deutschlands Rolle als Drittpartei am Internationalen Gerichtshof

Die Intervention Deutschlands auf der Seite Israels als Drittpartei im Prozess vor dem Internationalen Gerichtshof am 12. Januar 2024 kommentierte der namibische Präsident Hage Gottfried Geingob als „schockierend“ in Anbetracht des von der ehemaligen Kolonialmacht Deutschland begangenen Völkermordes in Namibia, der sich zudem an diesem Tag jährte.

Auch der libanesische Hisbollah-nahe Nachrichtensender Al Mayadeen griff die deutsche Kolonialgeschichte auf und schrieb am 18. Januar 2024, „Berlins bedingungslose Unterstützung Israels hat den Anschein einer erfolgreichen Aufarbeitung weiter entkräftet und Deutschlands koloniale DNA wieder in den Vordergrund gerückt“.

Das katarische regierungsnahe Nachrichtenhaus Al Jazeera kritisierte angesichts der Intervention in Den Haag in seinem Podcast The Take ebenfalls, Deutschland würde nicht aus seiner eigenen Geschichte lernen: „Beim Völkermord in Namibia starben viele Menschen an Hunger und Dehydrierung. Die deutschen Streitkräfte lockten die Menschen in die Wüste, ohne Zugang zu Nahrung oder Wasser, und hinderten sie an der Flucht. Die Parallelen zum Gazastreifen sind eindeutig. [...] Es ist ein sehr besorgniserregender Weg, den Deutschland einschlägt.“ Zudem diskutierte The Take die historischen und soziologischen Gründe des bedingungslosen deutschen Rückhalts für Israel und kam zu dem Schluss, dass ein entgleister Umgang mit der Erinnerungskultur um den Holocaust der Grund dafür sei. Die Sendung wurde am 19. Januar ausgestrahlt.

Das linksgerichtete palästinensisch-israelische Online-Magazin +972 Magazine betrachtete die deutsche Reaktion als weiteren verblendeten Wiedergutmachungsversuch für die Gräueltaten im Holocaust. Dieses Argument tauchte auch in der Analyse von Tout sur l’Algérie, ein frankophones algerisches Online-Medium, auf: „Der Prozess schmeckt Israels Freunden, darunter Deutschland, Israels stärkstem diplomatischen Unterstützer nach den USA, nicht. Berlins Einverständnis mit den israelischen Ansichten erklärt sich durch Deutschlands Nazi-Vergangenheit und seine Verantwortung für das Massaker an den Juden Europas während des Zweiten Weltkriegs“.

Die linksliberale israelische Zeitung Ha’Aretz stellte ebenfalls die Geschehnisse rund um den Prozess vor dem Internationalen Gerichtshof dar und schreibt, dass Deutschland „sich der immer länger werdenden Liste der Unterstützer:innen Israels angeschlossen hat“. Ha’Aretz zeigte sich überzeugt von der Haltlosigkeit der Anklage gegen Israel und ließ in dem Sinne Premierminister Benjamin Netanjahu zu Wort kommen: „Wir [Deutschland und Israel] stehen auf der Seite der Wahrheit und diese Blutverleumdung, die reine Heuchelei und Bosheit ist, darf nicht über die moralischen Grundsätze triumphieren, die unsere beiden Länder mit der gesamten zivilisierten Welt teilen“.

Deutsche Waffenlieferungen an Israel

Das private jordanische Nachrichtenhaus Roya News TV  interessierte sich hingegen am 7. Januar 2024 für die Lieferung von 10.000 Granaten von Deutschland an Israel. Die Zeitung zitiert in ihrem Artikel die Reaktion der Hamas: Deutschland sei „voll und ganz politisch sowie ethisch für die Kriegsverbrechen, die von einer nazi-zionistischen Regierung begangen werden, und für den völkermörderischen Krieg gegen Palästinenser:innen im Gaza-Streifen verantwortlich“.

Auch im Libanon waren die deutschen Waffenlieferungen bereits am 15. November 2023 ein Thema. In einem detaillierten Artikel über europäische Waffenexporte rückt der Autor Timo Al-Farooq von Al Maydeen die bereits erwähnte Verzehnfachung des Volumens der Waffenexporte von Deutschland nach Israel ins Zentrum und endet furios mit „Schande, Deutschland. Schande“.

Die Einstufung der Hamas als Terrororganisation

In Tunesien stand Deutschland besonders nach einer Schuleröffnung, die im Beisein des tunesischen Bildungsministers Mohamed Ali Boughdiri und des deutschen Botschafters Peter Prügel stattgefunden hatte, im Fokus des medialen Diskurses. Botschafter Prügel hatte anlässlich der Schuleröffnung gesagt, es sei nicht zu leugnen, dass die aktuelle Eskalation der barbarischen Terrorattacke der Hamas gegen Israel ausging.

Die Redaktion von Kapitalis – eine frankophone Nachrichtenplattform mit Fokus auf Nordafrika und besonders Tunesien – begegnet dieser Äußerung mit zwei Gegenargumenten: Erstens sei der Angriff der Hamas vom 7. Oktober, so verurteilungswürdig er auch sein mag, eine legitime Reaktion einer nationalen Befreiungsbewegung auf die Bombardierung der Bevölkerung von Gaza durch die israelische Armee; zweitens könne die Hamas keineswegs als Terrororganisation gewertet werden, da sie keine Angriffe auf ausländisches Territorium vornehme, sondern sich gegen eine Kolonialmacht wehre, die seit 75 Jahren einen Völkermord gegen die Palästinenser:innen vorantreibe. In Wahrheit sei die Hamas eine Freiheitsbewegung und Peter Prügel ginge der israelischen Propaganda auf den Leim.

Umgang mit pro-palästinensischen Stimmen in Deutschland

Auch die Demonstrationsverbote pro-palästinensischer Kundgebungen waren ein stark diskutiertes Thema in der tunesischen Presse. Während sich die meisten Medienplattformen mit den Geschehnissen in Frankreich auseinandersetzten, schrieb Allia Bukhari am 11. Dezember 2023 bei Kapitalis: „Deutschland ist zwar pro-israelisch und unterstützt Israel bedingungslos, aber es ignoriert den Genozid an den Palästinenser:innen so sehr, dass es friedliche, pro-palästinensische Stimmen unterdrückt. Dies fällt auf muslimische Deutsche zurück, die sich stigmatisiert und unwohl fühlen“.

Dennoch drückte die Autorin Verständnis für das Verbot der palästinensischen Organisation Samidoun aus, da die Gruppe das Attentat vom 7. Oktober freudig gefeiert und während der Demonstrationen in Deutschland Gewalt angewandt habe. Anders sah das die libanesische Zeitung Al Mayadeen, die am 2. November 2023 Samidoun als „internationales Netzwerk aus Organisator:innen und Aktivist:innen, die sich mit palästinensischen Gefangenen solidarisieren“ bezeichnete und zu dem Schluss kam, dass „Deutschland keinen Unterschied zwischen Antisemitismus und Antizionismus kennt“.

Auch Daily Sabah, eine türkische regierungsnahe Tageszeitung, interessierte sich für die Debatte um die pro-palästinensischen Kundgebungen und besprach besonders das Thema Islamfeindlichkeit in Deutschland. Am 21. November 2023 berichtete die Zeitung über folgendes Statement der Innenministerin Nancy Faeser: „Wir haben ein Problem mit Islamfeindlichkeit in Deutschland“. Ebenfalls im Fokus des Artikels stand der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, der über das Unwohlsein von Muslim:innen in Deutschland, die sich unter dem Generealverdacht befänden, antisemitisch zu sein, schrieb. Der Artikel sieht hierin Rassismus gegen Palästina-Unterstützer:innen.  

Auch Al Jazeera schreibt am 7. Januar 2024 über Rassismus, der sich in der öffentlichen und politischen Reaktion auf die pro-palästinensischen Protestbewegungen äußert. Al Jazeera zitiert zur Untermalung CDU-Politiker und das BILD-Manifest. Der Artikel schreibt sogar von „Anti-Palästinismus als staatliche Politik“, die vom hausgemachten Antisemitismus in Deutschland ablenken solle.

Die französischsprachige Tageszeitung L’Orient-Le Jour aus dem Libanon titelte am 16. Januar 2024 über die Strike Germany-Kampagne, bei der Künstler:innen aus aller Welt eine Petition unterschrieben haben, derzufolge Deutschland palästinensische Stimmen unterdrücke und die dazu aufruft, die Zusammenarbeit mit deutschen Kulturinstitutionen einzustellen. Die Zeitung bezog sich auf ein Interview mit Mohammed El-Kurd bei Al Jazeera. El-Kurd sagte dort, dass „[e]s während des Völkermords kein business as usual und auch keine Zusammenarbeit mit denjenigen geben kann, die den israelischen Völkermord an der palästinensischen Bevölkerung im belagerten Gazastreifen leugnen, rechtfertigen oder sich daran beteiligen.“ Es sei die moralische Verantwortung der Künstler:innen und Aktivist:innen, Deutschland zu boykottieren.

Deutschland erfuhr mit den oben beschriebenen Maßnahmen in der Zivilgesellschaft in WANA allerdings nicht nur negative Kritik. Die Times of Israel beschrieb am 13. November 2023 ausführlich die Herausforderungen, die die innergesellschaftlichen Konflikte in Deutschland aufgrund des Gaza-Krieges und der Maßnahmen des deutschen Staates zum Schutz jüdischen Leben hat: „Am Ende einer Unterrichtsstunde zum Konflikt sollte man sich drei Botschaften merken: Israel hat das Recht auf Selbstverteidigung, der Kampf gegen den Terrorismus muss im Einklang mit dem Völkerrecht erfolgen und Juden in Deutschland sind nicht für die politischen Entscheidungen in Israel zuständig“, lobt die konservative israelische Zeitung die Handreichung des Berliner Senats für Schulen.

Resümee: Grundlegend unterschiedliche Weltvorstellungen

Die beiden meist rezipiertesten Themen der Medien unserer Presseschau sind der Prozess gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof und Restriktionen gegen pro-palästinensische Kundgebungen in Deutschland. Israelische Medien lobten die deutschen Maßnahmen gegen antisemitische Äußerungen in weiten Teilen und berichteten positiv über Deutschlands Einsatz als Drittpartei beim Internationalen Gerichtshof. Die nicht-israelischen Medien in WANA kritisierten vorwiegend das deutsche Verhalten vor dem Internationalen Gerichtshof. Letztere kommentierten, dass Deutschland aus seiner nationalsozialistischen Vergangenheit die falschen Schlüsse ziehen würde: Anstatt sich für die Verhinderung eines weiteren Völkermordes einzusetzen, gebe Deutschland der Begleichung seiner historischen Schuld Vorrang.

Grundsätzlich zeichneten sich innerhalb der Medien in WANA entlang derselben Bruchlinie weitere, grundlegend unterschiedliche Weltbilder ab: Die israelische Presse beschreibt die Hamas als Terrororganisation, aber für den Rest der WANA-Presse handelt es sich dabei um Freiheitskämpfer:innen. Die von uns analysierte WANA-Presse mit Ausnahme Israels stellt entweder das Existenzrecht Israels in Frage, indem sie den Staatsnamen in Anführungszeichen setzen oder es ist vom ,Besatzerstaat Israel‘ die Rede.

 

 

Vanessa Barisch ist Koordinatorin des Liaison Offices der Philipps-Universität Marburg in Tunesien. Sie studierte Europastudien und Internationale Migration in Passau, Rom, Lissabon und Osnabrück. Ihre wissenschaftlichen und politischen Schwerpunkthemen sind vor allem Dekolonialisierung, Migration, Feminismus und Demokratie.
Claire hat einen Bachelor in Geschichte, Politik und Soziologie und einen Master in Internationalen Studien. Ihre akademischen Schwerpunkte sind Grundrechte in Demokratien und der israelisch-palästinensische Konflikt. 
Redigiert von Regina Gennrich, Charlotte Hahn