24.04.2020
Das Schlimmste ist schon jetzt Alltag
Trotz Freilassungen: In Westasien und Nordafrika sitzen Hunderttausende weiterhin hinter Gittern – oft unschuldig. Grafik: Paul Bowler
Trotz Freilassungen: In Westasien und Nordafrika sitzen Hunderttausende weiterhin hinter Gittern – oft unschuldig. Grafik: Paul Bowler

Iran, Ägypten, Syrien oder die Türkei: Ausgerechnet jene Staaten mit besonders katastrophalen Haftbedingungen lassen wegen Corona Gefangene frei. Eigentlich eine gute Nachricht, durch die Umstände aber eher absurd, findet Hannah El-Hitami.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Endlich Hausarrest! In Zeiten von Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbot ist Nazanin Zaghari-Ratcliffe wohl einer der wenigen Menschen, die sich zu Hause ganz schön frei fühlen. Die britisch-iranische Staatsbürgerin wurde 2016 wegen Spionage zu fünf Jahren Haft verurteilt. Sie war zuvor für die Journalisten-Stiftung von Thomson Reuters tätig gewesen und gab an, lediglich für einen Familienbesuch im Iran gewesen zu sein.

Vier Jahre hat sie im Teheraner Evin-Gefängnis verbracht, nur einmal durfte sie in dieser Zeit ihre kleine Tochter sehen. Nun durfte sie das Gefängnis verlassen und befindet sich mit Fußfessel im Hausarrest bei ihren Eltern im Iran. Für sie zählt jeder Moment außerhalb der Zelle – selbst, wenn sie später wieder rein muss.

So schreckliche Nachrichten das Corona-Virus auch mit sich bringt, zumindest für einige hat die Pandemie positive Nebenwirkungen. Zehntausende werden dieser Tage aus Gefängnissen weltweit entlassen. Manche von ihnen werden dauerhaft frei bleiben, andere verbringen nur einen Hafturlaub zu Hause. Auch in Westasien und Nordafrika (WANA)[1] haben Regierungen Gefangene entlassen, um die unkontrollierbare Verbreitung des Corona-Virus in Haftanstalten zu verhindern. Besonders wertvoll ist das in Ländern wie Syrien, Ägypten oder Iran, wo Menschen unter miserablen Bedingungen inhaftiert und aufs Engste zusammengepfercht sind.

Dass einige jetzt freikommen, ist absolut notwendig: Das Virus wäre eine große Gefahr für die ohnehin geschwächten Insass*innen in den vielfach überfüllten Gefängnissen. Doch sind es viel zu wenige, die von den Maßnahmen profitieren – und oftmals keine politischen Gefangenen. Außerdem steckt eine traurige Ironie darin: Die Gefangenen sollen vor dem Virus geschützt werden, obwohl katastrophale hygienische Zustände sie auch außerhalb von Corona-Zeiten krank machen oder sogar töten, weil ihnen die medizinische Behandlung vorenthalten wird.

An der Grenze zum Tod

Eines der schlimmsten Beispiele dafür ist Syrien, das eine lange Tradition brutalster Folter und außergerichtlicher Hinrichtungen hat. Hunderttausende Syrer*innen haben die Geheimdienste von Baschar al-Assad verschwinden lassen. 2014 bewiesen die „Caesar“-Fotos, dass viele von ihnen zu Tode gefoltert wurden. Die Bilder Tausender Leichen sind kaum auszuhalten. Sie zeigen nur einen Bruchteil der Höllenqualen, die Syriens Gefangene durchleben.

Unzählige Berichte dokumentieren systematische Folter und Vergewaltigung. Die Namen der berüchtigten Gefängnisse sind heute gleichbedeutend mit Massenmord. Das Saydnaya-Gefängnis bezeichnete Amnesty International als „Schlachthaus für Menschen“. Kaum vorstellbar also, dass die Lage für Gefangene in Syrien noch schlimmer werden könnte.

In Syriens überfüllten Gefängnissen, wo Insassen ganz dicht an der Grenze zum Tod leben, hätte das Corona-Virus verheerende Auswirkungen. Dennoch hat das Regime lediglich ein paar Hundert Kriminelle aus der Haft entlassen. Eigentlich ist das nicht verwunderlich: Bisher hatte es ja auch kein Interesse am Überleben seiner politischen Gefangenen. Dass jetzt überhaupt irgendwelche Gefangenen freikommen, ist wohl reine Propaganda.

Kriminelle dürfen raus

In der Türkei, dem Land mit den überfülltesten Gefängnissen in Europa, sollen immerhin 45.000 Gefangene vorläufig bis Ende Mai entlassen werden, noch einmal so viele sogar dauerhaft. Doch auch hier müssen vor allem jene Gefangene hinter Gittern bleiben, die dort am wenigsten hingehören. Wer wegen Terrorismus-Vorwürfen einsitzt – und das sind seit dem versuchten Militärputsch 2016 zahlreiche Aktivist*innen, Oppositionelle, Journalist*innen – darf nicht auf eine vorübergehende Freilassung hoffen.

Das soll nicht heißen, dass die Gesundheit eines Kriminellen weniger wert wäre als die eines politischen Gefangenen. Unabhängig von ihrer (vermeintlichen) Tat haben alle Gefangenen ein Recht auf menschenwürdige Haftbedingungen, eine angemessene medizinische Versorgung und auf Schutzmaßnahmen gegen das Corona-Virus. Dennoch ist die aktuelle Situation ein Anlass, an all die Menschen zu denken, die unschuldig eingesperrt sind.

Nur 15 Freilassungen

So auch in Ägypten: Verschwindenlassen, erzwungene Geständnisse und endlose Untersuchungshaft haben die Gefängnisse des bevölkerungsreichsten nordafrikanischen Landes überfüllt. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass 60.000 politische Gefangene unter unmenschlichen Haftbedingungen eingesperrt sind. Insassen sterben an behandelbaren Krankheiten, weil die Behörden ihnen die medizinische Versorgung verweigern.

Der prominenteste unter ihnen: Ex-Präsident Muhammad Mursi, der 2019 nach vier Jahren Haft starb. Mursis Familie zufolge hatte sich sein Gesundheitszustand im Gefängnis zunehmend verschlechtert. Er litt an Diabetes und Bluthochdruck und starb schließlich mit 67 Jahren an einem Herzinfarkt.

Nun konnte sich die Staatsanwaltschaft gerade einmal dazu durchringen, 15 Personen freizulassen, darunter prominente Oppositionelle. Zwar wurden die Freilassungen nicht offiziell als Corona-Maßnahme bezeichnet. Sie folgten aber auf weitverbreitete Forderungen von Aktivist*innen und NGOs, etwas gegen die Überfüllung der Haftanstalten zu tun, um die rasante Verbreitung des Virus zu stoppen.

Sollte die Freilassung von 15 Personen tatsächlich eine Reaktion auf diese Forderungen gewesen sein, so wäre das natürlich ein ziemlich schlechter Witz. Denn weiterhin vegetieren Zehntausende in Ägyptens Gefängnissen und Polizeistationen, wo sie der Pandemie hilflos ausgeliefert wären. Sie müssen freigelassen werden oder zumindest ein gerechtes Verfahren bekommen – aber nicht wegen Corona, sondern weil sie ein Recht darauf haben.

Wie wenig ein Leben wert ist

Es ist schon absurd: Gerade jene Länder, die viel zu viele Insassen in eine Zelle pferchen, die hygienische und medizinische Versorgung in normalen Zeiten komplett missachten und Tote in Kauf nehmen, lassen jetzt Gefangene frei. In Anbetracht der Corona-Krise wollen sie dadurch Schlimmeres verhindern, doch das Schlimmste ist in vielen Haftanstalten schon jetzt Alltag.

Sind diese Maßnahmen dann nur der Versuch zu beweisen, man habe das Virus im Griff? Oder können selbst Staaten, die Menschenrechte völlig missachten, ihre Gefangenen nicht vor den Augen der Welt ganz offiziell sterben lassen? Was immer der Grund für die neuentdeckte Sorge um die Häftlinge auch sein mag, sinnvoll sind die Maßnahmen nur als erster Schritt. Um das Leid in WANAs Gefängnissen zu beenden, müssen sich die Haftbedingungen grundlegend verändern, politische Gefangene dauerhaft freigelassen werden.

Immerhin: in Iran haben 85.000 Häftlinge ihre Freiheit für kurz oder lang wiedergewonnen, darunter politische Gefangene wie Nazanin Zaghari-Ratcliffe. Wie wenig das Leben eines*einer Gefangenen dort dennoch wert ist, zeigt eine Meldung vom 9. April: Bei Protesten in verschiedenen iranischen Gefängnissen sollen 36 Insassen von Sicherheitskräften getötet worden seien. Sie hatten gefordert, dass die Gefängnisbehörden sie angemessen vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus schützen.

 

[1] Die Bezeichnung „Naher Osten“ vermittelt eine eurozentrische und orientalistische Sichtweise. Daher sprechen wir bei dis:orient lieber von „Westasien und Nordafrika“, kurz: WANA.

 

 

Hannah El-Hitami, Jahrgang 1991, ist freie Journalistin in Berlin und schreibt vor allem über arabische Länder, Migration und koloniales Unrecht. Sie studierte Arabische Literatur und Kultur in Marburg und war Volontärin des Amnesty Journals. www.hannahelhitami.com/  
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Anna-Theresa Bachmann