02.03.2018
Der Mordexportweltmeister sorgt sich um importierte Konflikte
Alsharq-Kolumnistin Schluwa Sama promoviert derzeit am ‚Centre for Kurdish Studies‘ an der University of Exeter, England. Grafik: Tobias Pietsch
Alsharq-Kolumnistin Schluwa Sama promoviert derzeit am ‚Centre for Kurdish Studies‘ an der University of Exeter, England. Grafik: Tobias Pietsch

Kaum jemand in Gesellschaft, Medien oder Wissenschaft scheint verstanden zu haben, was Deutschland noch alles aus seiner „historischen Schuld“ lernen muss, und warum es bei Krieg und Folter kein „hier“ und „dort“ gibt. Höchste Zeit, das zu ändern. Ein Kolumnen-Beitrag von Schluwa Sama.

Dieser Text ist Teil der neuen Alsharq-Kolumne „Des:orientierungen“. Alle Texte der Kolumne finden Sie hier.

„Warum geht ihr nicht zu euch nach Hause und protestiert dort?“

Ich war wohl so dreizehn Jahre alt, als mir diese Frage zum ersten Mal gestellt wurde, an der Gedächtniskirche in Berlin, von einer vorbeigehenden Passantin. Das war auf einer Demonstration gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein. Einige Jahre zuvor waren wir als Politisch Verfolgte nach Deutschland gekommen.

Im Laufe meines Demonstrationslebens wurde mir diese Frage noch einige Male gestellt, in unterschiedlichen Variationen. Und, ihr könnt beruhigt sein, nicht nur in Deutschland stellt man diese Art von Fragen. Auch in England, im Jahr 2016 kam es dazu. Obwohl Europa sonst so gut im Entwickeln von allem scheint, gab es keine großartige Weiterentwicklung dieser Fragestellung.

Jedenfalls hört sich das in England zum Beispiel so an: "Why do you protest in Britain? You should go and protest in your place, in the Middle East”. Das kam von einem wütenden Ehepaar, als ich im November 2016 gegen die Repressionswelle in der Türkei und Nordkurdistan demonstrierte.

Sie waren zu zweit

So lässt sich also die europäische Entwicklung zusammenfassen: Heutzutage kommen sie nicht allein. Sie waren zu zweit. Sie kamen auf mich zu und waren wütend. Beim ersten Mal war es ja noch eine Passantin, die wohl einfach auf dem Ku’damm shoppen gehen wollte. Sie kam nicht auf mich zu. Sie lief vorbei mit einem Blick, der eher Geringschätzung ausdrückte. Dabei weigerte sie sich, mir direkt in die Augen zu sehen, während sie ihre Frage stellte.

Gut. Vielleicht hat diese Weiterentwicklung europäischer Gesprächsformen auch was mit meinem Alter zu tun. Erwartet man wirklich eine Antwort, wenn man einem Kind solch eine Frage stellt? Damals gab es keine Antwort. 2016 schon.

Bevor wir zu dieser Antwort kommen, könnte nun der Verdacht aufkommen, ich würde diesen Text nur aufgrund einiger Einzelfälle schreiben. Denn wenn es in Deutschland um Rassismus (ja, das ist hier ungefähr das Thema) geht, sind es ja bekanntlich genau das: Einzelfälle. So wie es bei 813 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres und 1803 Straftaten gegen Asylsuchende, bei denen 254 Menschen verletzt wurden, und dem Morden des NSU und und und auch nur Einzelfälle sind.

Dieses Denken muss gebrochen werden

Dabei geht mein Problem über das gängige Verständnis von Rassismus hinaus. Es ist das Problem vom Denken in „euer Zuhause“, „dort“ einerseits und „bei uns“ „hier, in Deutschland“ andererseits, das tief sitzt im europäischen Denken, zu tief sitzt. Dieses Denken muss gebrochen werden.

Wer glaubt, dieses Denkmuster stecke nur in den Fragen von einigen verwirrten Passant*innen, der hat wohl immer noch zu viel Vertrauen in die Entwicklung des akademischen und medialen Diskurses in Europa. Denn in diesen Bereichen widmet man sich ebenfalls dieser Fragestellung, leicht abgewandelt, verpackt in seriöser, scheinbar objektiver, also gleichbedeutend mit unantastbarer Formulierung.

Wir tasten aber an. Und dann merken wir: Das Denken in Europa entwickelt sich einfach nicht weiter. Berichte über die kürzlich erfolgten Demonstrationen in Deutschland gegen den Angriff und die Invasion der Türkei in Afrin, Kurdistan/Syrien geben hauptsächlich die Ängste der deutschen Polizei wieder, die erklärt: „Die Bundesrepublik darf nicht zum Schauplatz innertürkischer Konflikte werden.“ Und dann noch die Angst des städtischen Handels: „Erneut werden viele tausend Besucher abgehalten, in die Stadt zu kommen, um einen entspannten Köln-Aufenthalt mit Einkauf zu erleben“. Selbstzentrierter und verlogener geht es wohl nicht? Hat meine Passantin von damals auch schon objektiven, deutschen Journalismus gelesen und fühlte sich dann berechtigt, so verächtlich und in ihrem Rassismus bestätigt mit mir zu reden?

Mit dem Anstrich der Naturwissenschaft

Dann ist da noch der Journalismus, der die Wissenschaft heranzieht, um seine eigenen Thesen zu bestätigen. Da gibt es nur die Expert*innen, die vom „Konfliktimport“ reden. Für den Exportweltmeister sind Importe natürlich immer gefährlich. Und dann gibt es die Wissenschaft selbst, die Deutschland zu einem demokratischen Schauplatz von Konflikten stilisiert, wobei das Land natürlich in keinster Weise selbst in Konflikte anderswo involviert zu sein scheint. Am Ende ist dann die „Konfliktimporthypothese“ bestätigt und es werden einige „endogene und exogene Gründe“ hervorgebracht. “Endogen” und “exogen” hatten wir auch im Chemieunterricht. Klingt so naturwissenschaftlich und Naturgesetze sind ja entweder richtig oder falsch. Hinterfragen kann man das nicht.

Es sind also keine einzelnen Passant*innen. Und nun endlich zu meiner Antwort von damals:

„Wisst ihr eigentlich, wie tief ihr selber im Morden steckt?“ Nein, es geht nicht „nur“ darum, dass deutsche Panzer im Einsatz sind, um Menschen in der Stadt Afrin, in Kurdistan, in Syrien, im Irak umzubringen, und dass damals deutsches Giftgas an Saddam Hussein verkauft wurde, dass es anscheinend auch heute wieder an den Diktator Assad verkauft wurde, der 2013 und auch aktuell einen weiteren Giftgasanschlag in Damaskus, Ghouta ausübt. Es gab damals wie heute keinen breiten Protest einer deutschen Bevölkerung gegen die deutsche Regierung.

Ihr seid nicht nur MITschuldig

Es gab einige Linke, die sich darum sorgten, z.B. auch Medico International. Aus deren Kreisen weiss ich, dass es damals gefährlich war, die Lieferung von Komponenten für die Giftgasproduktion aus Deutschland für Saddam auch nur anzusprechen. Es gab kaum eine Chance, Gehör zu finden. Medico International wurde damals bei Androhung einer hohen Geldstrafe untersagt, die deutschen Lieferanten Saddams zu benennen, weil diese Exporte mit Wissen und Willen der damaligen CDU-FDP-Koalition erfolgt waren.

Also, liebe Leute in Deutschland, ihr seid nicht nur MITschuldig, weil ihr einige Waffen an die Türkei verkauft. Nein, euer gesamter Lebensstil, eure Wirtschaft, euer Erfolg als Exportweltmeister basiert auch auf dem Export von Mord. 2016, als ich gegen die Repression in der Türkei protestierte, wurden „von der deutschen Regierung Exporte für Güter im Wert von mehr als 98 Millionen Euro in die Türkei genehmigt“.

Und nicht nur mit Mord kann man Profite machen, auch mit Folter: „Auch die Ausfuhr von Gütern in die Türkei, die in der Anti-Folter-Verordnung geregelt sind, genehmigte die deutsche Regierung im laufenden Jahr. Der Wert dieser Exporte beträgt mehr als 88.000 Euro, es handelt sich dabei um Güter, die gemäß der Anti-Folter-Verordnung für „Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“ verwendet werden können.“

Oder, kürzlich: „Zwischen dem 18. Dezember vergangenen Jahres und dem 24. Januar 2018 seien insgesamt 31 Genehmigungen für die Ausfuhr von Rüstungsgütern in die Türkei erteilt worden”.

Wie viele Arbeitsplätze hängen wohl an diesen Exporten? Wie viel Lifestyle kann damit in Deutschland aufrechterhalten werden? Wie viele Forschungsinstitute werden damit bezahlt, die dann die Konfliktimporthypothese bestätigen?

In der Schule wurde mir immer beigebracht: „Deutschland ist sich seiner historischen Schuld bewusst“. Auch jede*r Politiker*in heute erklärt uns das. In jeder Variation gibt es diese Formulierung. Eine Weiterentwicklung dessen, was historische Schuld heute zu bedeuten hat, habe ich in Deutschland noch nicht gehört. Hätte sich Deutschland entwickelt, hätte es gewusst, dass man mit dem Mord an Menschen keinen Profit macht.

Heute wird nicht mehr im eigenen Land gemordet

Ja, Deutschland ist Exportweltmeister. Mord wird exportiert. Und Kapitalismus macht’s möglich. Früher wurde im eigenen Land gemordet (obwohl gleichzeitig auch schon immer außerhalb gemordet wurde, der erste Völkermord im 20. Jahrhundert an den Herero geht auch auf das deutsche Konto - nur lernt man darüber in der Schule nichts). Nach sechs Millionen ermordeter und vergaster Jüdin*innen hätte das Land erkennen können, dass es falsch ist, Giftgas zu benutzen, um Menschen umzubringen.

Was erkannt wurde, ist dass es falsch ist, bei sich „zu Hause“ zu morden. Weiterentwicklung bedeutet heute, „dort“, „bei denen“ weiterzumachen. Das heißt dann, dass Ulla und René weiterhin ihre Arbeitsplätze bei Rheinmetall behalten können. Mit ihrer guten Pension und dem Gehalt nach Tarifvertrag gehen sie dann zum Beispiel am Ku’damm shoppen. Da können sie dann auch demonstrierenden Kindern dumme, verächtliche Fragen stellen.

Es ist mir langsam egal, ob Politiker*innen und Medien euch vorgaukeln wollen, dass es sich bei uns um primitive Menschen handelt, die nur gelernt haben, sich gegenseitig umzubringen. Das Schlimmste, so sagt man euch, ist dann noch, dass sie „ihre“ Konflikte nach Deutschland tragen. Wenn ihr die Widersprüche nicht erkennen wollt, wenn ihr nicht mit uns demonstrieren wollt, wenn ihr euch nicht gegen die Politik eurer Regierung, eures gesamten Wirtschaftssystem stellen wollt, dann seid ihr nicht nur mitschuldig, ihr profitiert dann willentlich von unserem Tod.

Und ihr könnt froh sein, dass wir überhaupt hier sind, denn wir demonstrieren und erklären euch schon lange was „dort“ los ist und dass „ihr“ schon lange mordend „dort“ seid. Das, was ihr exportiert, bringen wir zu euch zurück. Ihr könnt von uns lernen. Also fangt endlich an, zuzuhören, statt AfD zu wählen.

Gut. Ich bin ehrlich. Das habe ich so nicht gesagt. Die Antwort klang eher so: „Fuck off, you racist bastards“.

Schluwa ist Doktorandin am Centre for Kurdish Studies, University of Exeter. Sie promoviert zur politischen Ökonomie Irakisch-Kurdistans mit einem Fokus auf das Alltagsleben von Bäuer*innen. Dabei beschäftigt sie sich u.a. mit kolonialen Kontinuitäten, globalem Kapitalismus, Krieg und Landwirtschaft im Kontext Kurdistans und dem Irak. Für ...