26.07.2019
Deutsche Reflexe auf eine palästinensische Strategie

Die Debatte um die BDS-Bewegung wird in Deutschland so kontrovers geführt wie nie zuvor. Sie dreht sich hauptsächlich um Antisemitismus – und verfehlt damit das Thema, kommentiert Christoph Dinkelaker.  

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen. Alle Texte der Kolumne findest du hier.

Nun ist es beschlossen: BDS entgegenzutreten bedeutet, Antisemitismus zu bekämpfen. Vor zwei Monaten stimmte der Bundestag für den von SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP eingebrachten Antrag Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“. Dem Votum ging eine kontroverse Debatte voraus: Neben weiten Teilen der Linken stimmten auch etwa 90 Abgeordnete der antragstellenden Parteien gegen den Beschluss, enthielten sich oder äußerten ernsthafte Bedenken.

Außerhalb des Bundestags übten 16 deutschsprachige Wissenschaftler*innen, die sich seit Jahrzehnten mit Israel und Palästina auseinandersetzen, per Medienerklärung sachlich-differenzierte Kritik am Beschluss. Es lohnt unbedingt, die inhaltliche Kritik zu den Punkten „Pauschale Stigmatisierung“, „Unterlassene Unterscheidung zwischen Israel und den besetzten Gebieten“ sowie „Einschränkung der Meinungsfreiheit“ nachzulesen.

Zudem verurteilten etwa 240 jüdische Akademiker*innen aus Israel und anderen Ländern in einer an die Bundesregierung adressierten Stellungnahme „die Behauptung, BDS sei als solches antisemitisch“. Peter Schäfer, Judaist und Direktor des Jüdischen Museums in Berlin, wurde ein Retweet zu ebenjener Stellungnahme jüdischer Akademiker*innen über den Account des Museums zum Verhängnis: Nach heftiger Kritik, unter anderem vom Zentralrat der Juden in Deutschland, sah sich der ohnehin umstrittene Museumsdirektor zum Rücktritt gezwungen.

Die eigene Geschichte sensibilisiert – die Geschichte Anderer wird ignoriert

Die Debatte zu BDS – das Kürzel steht für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen – dreht sich in Deutschland vornehmlich um den vermeintlich antisemitischen Charakter der BDS-Bewegung. So soll auch der BDS-Bundestagsbeschluss Antisemitismus bekämpfen. Ein Ziel, für das es einzutreten gilt. Antisemitischen Straftaten nahmen in den vergangenen Jahren drastisch zu. Dies gilt auch für antisemitische Äußerungen mit Israel-Bezug.

Nicht alle, aber glücklicherweise viele Parlamentarier*innen erheben diesbezüglich ihre Stimme. Auch (oder besonders) in Zeiten der AfD reagiert das Parlament wachsam auf antisemitische Rhetorik und antisemitische Assoziationen.

Laut BDS-Beschluss des Bundestags wecken „Don’t buy“-Aufkleber der BDS-Bewegung „unweigerlich Assoziationen zu der NS-Parole ‚Kauft nicht bei Juden!`“ und sind dementsprechend als antisemitisch einzustufen. Die Krux: Die Verfasser*innen des Beschlusses argumentieren mit deutschen Geschichtserfahrungen – ohne dabei die Geschichte der BDS-Bewegung, geschweige denn die Dynamik des israelisch-palästinensischen Konflikts zu berücksichtigen. 

Das ist ein Deutschland-Zentrismus, der bei der Beurteilung von Akteur*innen in regionalen Konflikten problematisch wird. Die raison d’être und die Ziele der BDS-Bewegung fallen in der innerdeutschen Debatte fast komplett unter den Tisch, im Bundestagsbeschluss werden sie mit keinem Wort erwähnt.

Der Beschluss verkennt das Nebeneinander unterschiedlicher historischer Erfahrungen und Bezugsrahmen. Während in Deutschland angesichts der NS-Vergangenheit Israel nicht zuletzt als Schutzort für verfolgte Jüdinnen und Juden betrachtet wird, sind palästinensische Bezugsrahmen von anti-kolonialen und anti-rassistischen Deutungen geprägt, die zum Beispiel in Südafrika oder Südamerika stärker aufgegriffen werden.

Es geht nicht darum, zwischen diesen unterschiedlichen Rahmen zu entscheiden, sondern zunächst beide anzuerkennen. In der BDS-Resolution des Bundestags hingegen wird der palästinensische Rahmen pauschal diffamiert.

Enstehungskontext und Hintergründe zu BDS

Es macht Sinn, an dieser Stelle auf den Enstehungskontext der BDS-Bewegung einzugehen: Sie wurde am Ende der Zweiten Intifada (2000 - ca. 2005) von einem zivilgesellschaftlichen palästinensischen Bündnis initiiert. Die Jahre zuvor waren einerseits durch extreme Gewalt, unter anderem Selbstmordattentate palästinensischer Milizen sowie Luftangriffe und Ausgangssperren der israelischen Armee, geprägt.

Andererseits durch das Scheitern der Camp David-Verhandlungen und der zunehmenden Skepsis, eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts am Verhandlungstisch herbeizuführen. Die BDS-Bewegung begriff sich in diesem Kontext als gewaltfreie Form des Dritten Weges, als Alternative zu den beiden gescheiterten Strategien der bewaffneten Konfrontation und der Diplomatie.

Die BDS-Bewegung ruft zu Sanktionen, Desinvestitionen und Boykott-Strategien auf, um Israel unter Druck zu setzen, die in UN-Sicherheitsresolutionen verbrieften palästinensische Rechte anzuerkennen. Konkret fordert die Bewegung das Ende der seit 1967 bestehenden Besatzung des Westjordanlandes, des Gazastreifens, Ostjerusalems und der syrischen Golan-Höhen; die rechtliche und faktische Gleichstellung der palästinensischen Bürgerinnen und Bürger Israels und die Anerkennung des Rückkehrrechts der im Zuge des israelisch-arabischen Kriegs 1948 geflüchteten Palästinenser*innen.

Auf der Website der BDS-Bewegung werden die südafrikanische Anti-Apartheidsbewegung und das Civil Rights Movement in den USA als inspirierende Akteure genannt. Auf der internationalen Ebene hat sich ein heterogener Unterstützerkreis gebildet, „von herausragenden Persönlichkeiten wie Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu über britische Gewerkschaften, Stadtverwaltungen in Spanien, die American Studies Association bis hin zu jüdischen Gruppierungen und Einzelpersonen inner- wie außerhalb Israels.“ 

Die Bewegung distanziert sich auf der BDS-Website explizit von Antisemitismus und anderen Rassismen. Antisemitische Stimmen einzelner Aktivist*innen, die sich als Teil des heterogenen, dezentralen Bündnisses verstehen, gibt es dennoch. Der renommierte Antisemitismusforscher Wolfgang Benz schätzt BDS als Ganzes als nicht antisemitisch, sondern als eine „politische, israelkritische Bewegung“ ein, was „Antisemiten aber nicht an der Teilnahme hindere.“

BDS Bedrohung für das Ansehen Israels, in Deutschland eine überschaubare Gruppe

BDS will in Israel und Palästina wirken. Als größte Erfolge führen die Aktivist*innen Beispiele von internationalen Firmen an, die sich aufgrund internationaler BDS-Kampagnen vom israelischen Markt oder aus Siedlungen in den besetzten Gebieten zurückgezogen haben. Bislang schwächen die Kampagnen der BDS-Bewegung Israel ökonomisch nicht, sie tragen jedoch dazu bei, Israels Ansehen weltweit zu schaden.

Deshalb befasst sich die Regierung Netanjahu intensiv mit BDS. Zum einen diffamiert das Ministerium für Strategische Angelegenheiten mit Medienkampagnen und Lobbyarbeit im In- und Ausland die Bewegung. Zum anderen wird Nicht-Israelis, die „zum Boykott Israels oder von Israel kontrollierten Gebieten (also auch der Boykott von Institutionen/Waren in völkerrechtswidrigen Siedlungen, Anmerkung des Autors) aufrufen“, seit einem Knessetbeschluss von 2017 die Einreise verweigert.

Da Israel auch die Grenzen der besetzen Palästinensischen Gebiete kontrolliert, sind Besucher*innen des Westjordanlands, des Gazastreifens und Ostjerusalem und palästinensische Aktivist*innen ebenfalls betroffen.

Die Aktivitäten in Deutschland sind dagegen marginal. Ein vergleichsweiser kleiner Unterstützerkreis stößt mit seinen Boykottforderungen gegenüber dem israelischen Staat oder israelischen Produkten in Israel und den besetzten Gebieten sowohl in weiten Teilen der Gesellschaft als auch der Bundespolitik auf großen Widerstand. In Bezug auf Antisemitismus ist BDS nach Einschätzung des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus eine in Deutschland zu vernachlässigende Größe.

Den Fokus auf die raison d’être von BDS richten

Eine überschaubare Bewegung, die im Kern nicht antisemitisch ist, hinsichtlich dieses Themas aufzublähen, beeinträchtigt den Blick auf die wesentlichen Herausforderungen im Kampf gegen Antisemitismus: den Kampf gegen Rechtsextreme, die den Großteil antisemitischer Straftaten begehen.

Im Diskurs zu BDS wäre es zielführender, den Fokus auf die Frage zu richten, wo und warum diese Bewegung entstand und sie weltweit Unterstützung von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Friedensaktivist*innen, etc. erhält – nicht zuletzt von Ländern und Gruppen, die Erfahrungen von Besatzung, Segregation und/oder Kolonialismus gemacht haben. Die Antwort lautet in den meisten Fällen nicht Antisemitismus.

Die wichtigsten Beweggründe für die Unterstützung von BDS sind die anhaltende Besatzung der von Israel besetzten Palästinensischen Gebiete, die Nicht-Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung, Menschenrechtsverletzungen, Annexionsbestrebungen, ein System der Segregation zwischen Siedler*innen und Palästinenser*innen oder auch das Versagen diplomatischer Bemühungen.

Der oberflächliche Umgang mit BDS führt dazu, dass ein gesamter Denkansatz im israelischen-palästinensischen Konflikt – nämlich gewaltfreier, nicht-diplomatischer Aktivismus – dämonisiert wird. Welcher Handlungsspielraum bleibt für Palästinenser*innen, wenn die rechtsgerichtete Regierung Netanjahu keinerlei Interesse an einer auf UN-Resolutionen basierenden Verhandlungslösung zeigt und sowohl Gewalt als auch Gewaltfreiheit verurteilt werden?

Kampf gegen Antisemitismus darf nicht instrumentalisiert werden

Der Kampf gegen Antisemitismus ist zentral und wichtig. Doch darf er nicht instrumentalisiert werden, um notwendige außenpolitische Debatten im Keim zu ersticken. Dies ist kein Ausdruck von deutscher Verantwortung gegenüber Israel, sondern Deutschland-zentriert, überheblich und kontraproduktiv.

Wenn der Bundestag BDS unweigerlich mit Antisemitismus assoziiert und Kommunen BDS-nahen Gruppen Räumlichkeiten verweigern, dann wird nicht nur der Diskurs zu BDS, sondern der Diskurs generell zum israelisch-palästinensischen Konflikt beschnitten. Solche Einschränkungen der Diskussionsmöglichkeiten verstärken anti-israelische Ressentiments. Dem gilt es mit einer offenen Diskussionskultur entgegen zu treten.

Christoph ist studierter Islam-, Politik- und Geschichtswissenschaftler mit Fokus auf Westasien. Der Mitgründer von Alsharq - heute dis:orient - war zwischen 2011 und 2014 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem tätig. In Berlin arbeitet er als Geschäftsführer für Alsharq REISE. Christoph hält regelmäßig...
Artikel von Christoph Dinkelaker
Redigiert von Daniel Walter