09.10.2015
Alsharq-Veranstaltung: Mündliche Erzählkultur - von der "Halqa" zur Flüchtlingskrise
Die Halqa als fester Bestandteil der Erzählkultur in Marokko: Eine Erzählerin schlägt hier in Casablanca das Publikum in ihren Bann. Foto: © Susanne Kaiser, 2014.
Die Halqa als fester Bestandteil der Erzählkultur in Marokko: Eine Erzählerin schlägt hier in Casablanca das Publikum in ihren Bann. Foto: © Susanne Kaiser, 2014.

In weiten Teilen der arabischen Welt gibt es eine jahrhundertealte mündliche Erzähltradition. Bei einer Alsharq-Veranstaltung am 17. Oktober in Berlin spricht der Arabist Otmane Lihiya über die Halqa (Erzählrunde) und die Rolle des Hlaiqi. Im zweiten Teil wird Britta Wilmsmeier die irakische Geschichte „Karakus und Iwas. Der lachende König“ erzählen und ihr Projekt mit Flüchtlingen vorstellen.

Den Flyer zur Veranstaltung gibt es hier

Erzählt werden Mythen, Sagen, Märchen, Legenden, Anekdoten, Gedichte, Lieder und historische Ereignisse – oder auch Kinofilme. Besonders in Marokko und Syrien ist die Erzählung als öffentliches Spektakel verwurzelt. In Marokko treten bis heute in der Halqa (Erzählrunde) professionelle Geschichtenerzähler auf. In Syrien gab es dafür extra eigene Cafés, in denen das Publikum von den virtuosen Geschichten in den Bann gezogen wurde. Wie es mit der mündlichen Erzähltradition dort weitergeht, lässt sich aufgrund des anhaltenden Bürgerkriegs allerdings nur schwer sagen.

In der Halqa bieten ein oder mehrere Erzähler auf einem öffentlichen Platz einem Kreis von Zuhörern Geschichten dar. Sie treten dabei in Dialog zu ihrem Publikum und binden es in die Erzählungen ein. Bei dieser spontanen und performativen Form der mündlichen Erzählkultur, die besonders in großen Städten wie Rabat oder Casablanca regelmäßig stattfindet, gehören längst auch Frauen als öffentliche professionelle Erzählerinnen zum Stadtbild. In Marrakesch ist der zentrale Platz „Djemaa El Fna“ berühmt - oder eher berüchtigt - für seine Erzähler, seit 2001 sogar als UNESCO-Weltkulturerbe „Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit“. Hier jedoch ist die Halqa vor allem Folkloretheater, wie viele Marokkaner kritisieren.

Das wichtigste Medium einer mündlichen Darbietung ist der Körper, der durch Stimme, Gestik, Mimik oder Körperhaltung die Erzählung konstituiert, begleitet oder konterkariert. Doch ist nicht allein der Körper der Erzählerin entscheidend für das Zustandekommen einer Geschichte, ebenso kommt es auf die Körper der Zuhörer an. Im interaktiven Zusammenspiel gestalten diese durch Zurufe, eigene Versionen oder Beschwerden über Handlungsverläufe die Erzählung mit und beeinflussen so ihren Verlauf. Die Erzählung ist also nicht nur Werk einer Einzelnen, sondern wird kollektiv entwickelt.

Der Vortrag des Arabisten Otmane Lihiya wird die Funktion der Halqa sowie die Rolle der Erzählerin behandeln.

 

Erzählen in Zeiten der Flüchtlingskrise

 Heidi Scherm

 

Im zweiten Teil der Veranstaltung wird Erzählerin Britta Wilmsmeier, eine der bekanntesten deutschen Erzählerinnen, die irakische Geschichte „Karakus und Iwas. Der lachende König“ erzählen und über ihre Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen berichten. Dabei geht sie insbesondere auf Krisenbewältigung und die heilende Wirkung von Geschichten und Märchen ein. So wendet sich ihr neuestes Projekt „Erzählen macht stark“ besonders an Flüchtlinge.

Erzählungen dienen zur Unterhaltung, aber ebenso zur Belehrung und Verständigung. Eltern erzählen ihren Kindern Märchen, einerseits um sie an die umgebende Welt heran zu führen, andererseits um ihnen einen Normen- und Wertekanon an die Hand zu geben, mit dem sie diese Welt selbstständig betreten können. Der Akt des Erzählens ist somit mehr als das bloße Wiedergeben einer Geschichte. Doch welchen Stellenwert hat das Erzählen außerhalb des gewohnten Kulturkreises oder Wertekanons in einer Zeit, in der Menschen auf der Flucht in Massen ihre Heimat verlassen?

Gerade in dieser Situation kann Erzählen auch Möglichkeiten der Verarbeitung bieten, Trost oder Hoffnung spenden. Gerät die äußere Welt aus den Fugen, so hilft menschliche Zuwendung, nicht zuletzt durch Anteilnahme und die persönliche Stimme auf dem Weg zu einer inneren Stabilität.

Erzählen findet heute Anwendung in der Trauma-Therapie, bei der Beschäftigung mit Demenz-Kranken oder in der Palliativ-Betreuung. Und der oft erstaunlich universelle Charakter von Erzählungen ermöglicht zudem eine Annäherung über die eigenen traditionellen und kulturellen „Grenzen“ hinaus, sodass Erzählen auch vermehrt in der Arbeit mit Migranten zum Einsatz kommt. Der integrierende und heilende Charakter des Erzählens hilft bei der Bewältigung von Erfahrungen mit Flucht, Gewalt und Entwurzelung und baut Vertrauen auf – nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen.

 

Hier alle Informationen zur Veranstaltungen in Kürze:

Vortrag mit Diskussion: Otmane Lihiya „Der Hlaiqi. Mündliche Erzähler in Marokko“

Performance und Projekt: Britta Wilmsmeier „Nachtigall ick hör dir trapsen. Lokales Erzählen im globalen Kontext“

 

Wann? Am 17. Oktober 2015, 11.30 Uhr

Wo? Im Neuköllner „Fincan“, Altenbraker Str. 26, 12051 Berlin

Anmeldung bitte an: [email protected]

Organisation: Susanne Kaiser und Laura Overmeyer

Alsharq - das sind viele Menschen. Manchmal posten wir aber auch als Team, zum Beispiel bei Veranstaltungsankündigungen oder Dingen in eigener Sache.