26.04.2024
„Ich wünsche mir, dass die Bundesregierung zu den Ergebnissen steht“
"Muslimfeindlichkeit – eine deutsche Bilanz", Screenshot Bericht 2023, Bundesministerium des Innern und für Heimat
"Muslimfeindlichkeit – eine deutsche Bilanz", Screenshot Bericht 2023, Bundesministerium des Innern und für Heimat

Der umfassende Expert:innenbericht zu „Muslimfeindlichkeit“ wurde zunächst vom Innenministerium in Auftrag gegeben, veröffentlicht und dann zurückgezogen. Gremiumsmitglied Özcan Karadeniz sprach mit dis:orient über die Hintergründe.

Als Konsequenz aus dem rassistischen Terroranschlag in Hanau 2020 rief das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) noch im selben Jahr den Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit (UEM) ins Leben. Das Gremium hatte den Auftrag, einen umfassenden Bericht zu „Muslimfeindlichkeit“ in Deutschland zu verfassen – mit dabei das who is who der antimuslimischen Rassismusforschung. Im Juni 2023 hat das BMI den Bericht veröffentlicht. Daraufhin klagte unter anderem der im Bericht namentlich erwähnte Publizist Henryk M. Broder, der sein Persönlichkeitsrecht verletzt sah. Im März 2024 gab ihm das Oberverwaltungsgericht Brandenburg recht. Über die Hintergründe hat dis:orient mit Özcan Karadeniz gesprochen. Er war nicht nur Mitglied im UEM, sondern auch Geschäftsführer des Verbands binationaler Familien und Partnerschaften in Leipzig. Heute arbeitet er beim Dachverband sächsischer Migrant*innenenorganisationen e.V.

Der Bericht wurde bereits im Juni 2023 veröffentlicht. 400 Seiten, zweieinhalb Jahre Arbeit – wie zufrieden warst du mit dem Ergebnis, Özcan?

Die Ausgangsbedingungen waren herausfordernd. Zu Beginn wurden zwölf Expert:innen in das Gremium berufen. Eine Kollegin, Nina Mühe, verstarb leider kurz darauf. Später ist Iman Attia aus persönlichen Gründen zurückgetreten und Yasemin Shooman ins Bundeskanzleramt gewechselt. Das heißt, in der intensiveren Arbeitsphase waren wir nur noch zu neunt. Dazu kommt, dass die Materie sehr umfangreich ist. In Anbetracht der Herausforderungen und beschränkten Ressourcen bin ich mit unserer Arbeit sehr zufrieden.

Alle im Gremium setzen sich seit langer Zeit mit antimuslimischem Rassismus auseinander. Ihr habt für den Bericht auch 16 eigene Studien durchführen lassen – gab es etwas, das dich besonders überrascht hat?

Vieles war mir im Grunde klar, durch Studien und Erfahrungswerte. Aber es wurde wieder einmal deutlich, wie groß das Ausmaß in allen Bereichen ist: in Politik, Bildung, Medien oder Kultur. Aus Filmen und Serien wie „4 Blocks“ kennt man die negativen Klischees, aber selbst im Theater werden diese häufig bedient. Was mich betroffen macht, ist das Ausmaß der brachialen Gewalt, gerade gegenüber kopftuchtragenden Frauen, die bestimmte öffentliche Räume komplett meiden.

Bekam der Bericht bei Veröffentlichung aus Sicht des Gremiums die angemessene Aufmerksamkeit?

Wir wussten nicht genau, was uns erwarten würde. Die Resonanz auf solche Berichte variiert stark. In der Gesellschaft gibt es wenig Bewusstsein für antimuslimischen Rassismus. Es gab eine gewisse Resonanz in der Öffentlichkeit, sie hätte aber durchaus größer sein können und ist leider auch schnell wieder abgeebbt. Auf wissenschaftlicher Ebene war der Bericht sogar wegweisend und fand auch international Beachtung.

Der Bericht enthält auch konkrete Handlungsanweisungen an die Politik. Was wurde und wird davon umgesetzt?

Bis dato wurde meines Wissens fast nichts umgesetzt. Ich hätte mir von den Entscheidungsträger:innen gewünscht, dass da mehr Wille gezeigt wird. Im Gegenteil sagte Innenministerin Nancy Faeser öffentlich, dass sie bestimmte Einschätzungen des Berichts nicht teile. Das finde ich herausfordernd, da wir einen wissenschaftlichen Erkenntnisstand präsentieren und keine Meinung, die man teilen kann oder nicht.

Im März 2024 zog das BMI den Bericht zurück. Das Oberlandesgericht in Brandenburg hatte Broder Recht gegeben, der sein Persönlichkeitsrecht im Bericht verletzt sah. Kannst du mehr zu dem Verlauf der Ereignisse sagen?

Ende Juni 2023 haben wir den Bericht vorgestellt, es wurden Belegexemplare gedruckt und auch viel bestellt. Aufgrund des Urteils wurde der Bericht im März zurückgezogen. Die genauen Zwischenschritte kenne ich auch nicht. Wegen des Urteils müssen Anpassungen vorgenommen werden und mein Kenntnisstand ist, dass diese minimal sind und der Bericht anschließend wieder veröffentlicht werden soll. Ich wünsche mir, dass die Bundesregierung zu den Ergebnissen steht.

Nancy Faeser (SPD) schien etwas unschlüssig. Sie selbst hat das Vorwort des Berichts geschrieben. Jetzt sagst du, sie hat öffentlich gesagt, dass sie einzelne Einschätzungen nicht teile. Wie eng habt ihr mit dem BMI zusammengearbeitet und inwiefern war abgesprochen, explizite Beispiele und Namen zu nennen? War im Vorhinein klar, dass es Probleme mit dem Persönlichkeitsrecht geben könnte?

Das Innenministerium hat sich aus dem inhaltlichen Prozess herausgehalten und die Unabhängigkeit des Gremiums wurde vorbildlich gewahrt. An einigen Stellen im Bericht gibt es explizite Analysen, die nicht davor Halt machen, Akteur:innen, die in der Vergangenheit negativ aufgefallen sind, namentlich zu benennen. Man kann uns vielleicht vorhalten, dass das strategisch nicht so geschickt war. Andererseits finde ich es bedenklich, dass bei Personen, die wiederholt sehr deutlich aufgetreten sind, nur problematisiert wird, dass sie in der Analyse namentlich genannt werden – aber nicht ihr eigentliches Verhalten.

Das BMI hat den UEM als Konsequenz von Hanau ins Leben gerufen. Auch Polizei, Verfassungsschutz und Politik schneiden schlecht ab. War es möglicherweise eine Erleichterung für das BMI, den Bericht zurückzuziehen?

Das ist natürlich Spekulation. Ganz allgemein führt uns das vor Augen, wie schwierig die Auseinandersetzung mit Rassismus in unserer Gesellschaft weiterhin ist. Das Verständnis für den Begriff und vor allem die Analysekategorie Rassismus sind wenig ausgeprägt und sehr verkürzt. Wir haben heute eine Zivilgesellschaft, die diverser und fordernder ist. Ein Viertel der Menschen hat eigene Migrationsbezüge und akzeptiert gewisse Ungleichheitsverhältnisse nicht mehr. Das führt zu mehr Handlungsdruck, auch auf die Regierung, der unmittelbar nach Hanau besonders groß war. Dadurch sind Möglichkeitsräume entstanden, die sich aber nach einer gewissen Zeit wieder schließen und wenn die Strukturen dann nicht nachhaltig verändert wurden, gibt es häufig eine Art Backlash. In diesem Sinne würde ich auch die Reaktion der Innenministerin und der Öffentlichkeit sehen.

Ganz konkret: Was sagt die Nicht-Umsetzung der Handlungsempfehlungen und auch das Zurückziehen des Berichts über den Umgang mit antimuslimischem Rassismus in Deutschland aus?

Wir haben im Bericht auch empfohlen, dass es eine:n Bundesbeauftragte:n für antimuslimischen Rassismus geben sollte. Das ist bisher nicht geschehen. Ich glaube, das ist bezeichnend für die verbreitete Vorstellung, dass antimuslimischer Rassismus ein Stück weit durch einzelne extremistische Handlungen von muslimisch gelesenen Menschen legitimiert wird. Die starken Vorurteile machen es schwer, sie als Betroffene von Rassismus wahrzunehmen. Es gibt wenig Lobby oder Bereitschaft, antimuslimischen Rassismus ernst zu nehmen. Wer antimuslimischen Rassismus auf die politische Agenda setzt, hat wenig zu gewinnen, aber viel zu verlieren, da von verschiedenen Scharfmacher:innen kontinuierlich Stimmung dagegen gemacht wird.

Ich habe zur Wiederveröffentlichung widersprüchliche Informationen gefunden. An einer Stelle hieß es, der UEM könne den Bericht eigenmächtig wieder veröffentlichen, an anderer Stelle, das BMI wolle den Bericht auf der Seite der Deutschen Islamkonferenz wieder veröffentlichen. Wie war die Reaktion auf das Zurückziehen des Berichts im UEM?

Wir wundern uns über das Gerichtsurteil, verstehen aber auch, dass die Bundesregierung daran gebunden ist. Ich glaube als ehemaliges Gremium sind wir uns einig, dass wir vorziehen, dass der Bericht wieder von der Regierung veröffentlicht wird. Wir haben einen Auftrag erteilt bekommen, haben enorm viel Zeit und Energie investiert – und das als klare Konsequenz aus Hanau. Es ist immens wichtig, dass sich die Regierung nicht von politischen Strömungen vor sich hertreiben lässt und zu den wissenschaftlichen Ergebnissen steht.

 

 

 

Seit Lissy zwischen 2014 und 2016 in Palästina lebte, interessiert sie sich für die WANA-Region. Besonderes Interesse gilt der Sprache Arabisch, Israel/Palästina und anti-muslimischem Rassismus. Lissy ist Dolmetscherin und Übersetzerin für Arabisch. Im Vorstand ist sie seit 2020 für die Mitgliederbetreuung zuständig.
Redigiert von Charlotte Hahn, Hannah Jagemast