17.10.2023
Brennpunkt Ägypten: Wie entscheidet al-Sisi zur Gaza-Blockade?
Die Landschaft im nördlichen Sinai nahe des ägyptischen Teils der Stadt Rafah. Foto: Mujaddarah (CC BY-SA 3.0 DEED)
Die Landschaft im nördlichen Sinai nahe des ägyptischen Teils der Stadt Rafah. Foto: Mujaddarah (CC BY-SA 3.0 DEED)

Wie wird Ägypten in Bezug auf die Gaza-Blockade und die Palästinenser:innen handeln? Die Frage erregt global Aufmerksamkeit. Zudem stehen im Dezember Präsidentschaftswahlen an. Präsident al-Sisi steht innen- und außenpolitisch unter Druck.

Der Grenzübergang in Rafah nach Ägypten ist der momentan einzig verbleibende Weg aus dem Gazastreifen. Für die 2,3 Millionen Menschen dort, wo derzeit israelische Bombardements toben, ist er die letzte Hoffnung auf einen sicheren Zufluchtsort. Im Moment ist er für Personen und für Hilfskonvois geschlossen (Stand 17.10.2023), letzte Nacht wurde der Grenzübergang erneut bombardiert.

Ägypten steht sowohl außen- als auch innenpolitisch unter immensem Druck. Präsident Abdel Fattah al-Sisi verkündete im Staatsfernsehen entschieden, die Grenze geschlossen zu halten. Gleichzeitig werden international altbekannte Rufe nach einer Umsiedelung der Palästinenser:innen in den Norden des Sinai in Ägypten laut. Wie wird Ägypten mit dieser komplexen Herausforderung umgehen?

Grenzübergänge am Gazastreifen vor der aktuellen Situation. Quelle: UNOCH

Ägypten steht vor Präsidentschaftswahlen

Die politische Lage in Ägypten war vor der nun drohenden Bodenoffensive in Gaza von den im Dezember anstehenden und kürzlich verkündeten Wahlen geprägt. Kandidat:innen sind derzeit dabei, ihre Kandidaturen zu registrieren und die dafür nötige Unterstützung zu sammeln. Es wird erwartet, dass al-Sisi seine Präsidentschaft fortführen wird. Die politische Landschaft zeigt wenig Vielfalt, da die meisten der vorhandenen Kandidat:innen der Partei von Präsident al-Sisi angehören. Sie sollen die Wahlen durch die vermeintliche Pluralität von Kandidat:innen legitimieren. Unabhängige oppositionelle Kandidat:innen und deren Umfeld wurden, genau wie bei den anderen Präsidentschaftswahlen seit 2013, bedroht, verhaftet oder anderweitig daran gehindert, sich aufstellen zu lassen.

Inmitten dieser politischen Dynamik brodelt die Stimmung in der ägyptischen Bevölkerung bereits. Al-Sisis Strategie, das Land aus dem wirtschaftlichen Abgrund zu holen scheint nicht aufzugehen, was zu einer alarmierenden Inflation und drastisch steigenden Nahrungsmittelpreisen geführt hat – im Vergleich zu September 2022 sind diese um fast 75 Prozent angestiegen. In einer Rede an die Nation, in der er seine erneute „Kandidatur“ bekannt gab, ermahnte er die ägyptische Bevölkerung abermals, geduldig zu sein, und nicht über die hohen Lebensmittelpreise zu jammern. Doch das, was die Situation in Ägypten nun maßgeblich beeinflussen könnte, ist die Lage im Norden des Sinai.

Die aktuellen Narrative

Die gegenwärtige Situation in Ägypten ist von zwei widersprüchlichen Narrativen geprägt. Offiziell erklärt Präsident al-Sisi, dass der Grenzübergang in Rafah geschlossen sei (Stand 16. Oktober 2023). Dies ist der Fall, seit Israel in der letzten Woche den Grenzübergang in Rafah bombardiert und Teile davon zerstört hatte. Zudem wurde der Grenzübergang in Rafah erneut mit Beton verstärkt. Vor 15 Jahren, als der Gazastreifen von Israel blockiert war und der Zugang zu Benzin und medizinischer Versorgung verwehrt wurde, drängten Palästinenser:innen über die Grenze nach Ägypten, um dringend benötigte Güter zu beschaffen. Ägyptische Offizielle betonen jedoch, dass sich eine solche Situation nicht wiederholen werde. Gleichzeitig gibt es Vorbereitungen für humanitäre Hilfe, einschließlich der Bereitstellung von Zelten, Wasser und Lebensmitteln im Nord-Sinai, die über die Grenze geschafft werden können.

Andererseits gibt es Berichte darüber, dass Akteur:innen wie die USA seit Jahren mit al-Sisi über eine mögliche Umsiedlung – genauer gesagt erneute Vertreibung – der Palästinenser:innen aus dem Gazastreifen in den Nord-Sinai verhandeln wollten. Den genannten Quellen zufolge hat Ägypten dies in der Vergangenheit immer abgelehnt. Die denkbaren Anreize für ein solches Szenario wären vor allem wirtschaftlicher Natur, zum Beispiel ein (teilweiser) Erlass der unendlichen Schulden Ägyptens, der Hauptgrund für Ägyptens desolate wirtschaftliche Lage. Sollte es tatsächlich zu einer Vertreibung der Palästinenser:innen auf den Sinai kommen, wird die ägyptische Bevölkerung voraussichtlich heftig reagieren, insbesondere so kurz vor den anstehenden Wahlen. Al-Sisi kann diesen innenpolitischen Faktor nicht ignorieren, wenn er an der Macht bleiben möchte.

Umsiedelung der Palästinenser:innen in den Nord-Sinai?

Würde Ägypten die Grenze öffnen, bedeutete dies, dass der Status der Palästinenser:innen in Frage gestellt wird. Es käme zu einer Vertreibung in einen anderen Staat, einer erneuten Nakba, was ernsthafte völkerrechtliche Fragen aufwirft. Das Aufgeben des (physischen) Landes würde die Chancen auf die Errichtung eines unabhängigen palästinensischen Staates weiter verringern. Als Ergebnis dieser komplexen Situation ist die ägyptische Bevölkerung in der Frage zutiefst gespalten, was die beste Lösung ist für die palästinensische Bevölkerung. Meiner Einschätzung nach wird al-Sisi die Grenzen aus eben diesen Gründen nicht öffnen.

Gleichzeitig ist die Solidarität der ägyptischen Bevölkerung mit den Palästinenser:innen ungebrochen. Bereits während des Freitagsgebets am 13.10.2023 kam es zu Protesten in der Al-Azhar-Moschee. Die ägyptischen Sicherheitskräfte intervenierten, indem sie die Türen schlossen und die Menschen nur in kleinen Gruppen hinausließen, um weitere Proteste und Menschenansammlungen zu verhindern. In verschiedenen Teilen des Landes gab es weitere Demonstrationen, die jedoch rasch aufgelöst wurden. Dies spiegelt die allgemeine Sorge der Regierung vor Demonstrationen und Massenversammlungen wider.

Obwohl Ägypten auf politischer Ebene seine Beziehungen zu Israel „normalisiert“ hat, entspricht dies nicht zwangsläufig der Haltung der überwiegenden Mehrheit der Ägypter:innen. Schließlich kämpfte Ägypten gegen Israel in mehreren Kriegen und die Sinai-Halbinsel war einige Zeit von Israel besetzt.

Gleichzeitig vertreibt Ägyptens Regierung seine eigene Bevölkerung aus dem Norden des Sinai

Die Stabilität innerhalb Ägyptens ist derzeit äußerst gefährdet, ganz gleich, wie Präsident al-Sisi am Ende entscheidet. Unter Kontrolle ist sie momentan noch, da al-Sisi mit großer Härte gegen Meinungsfreiheit und oppositionelle Arbeit vorgeht und damit die Äußerung offener Kritik verhindert. Ein Beispiel dafür, wie dünn das innenpolitische Eis von al-Sisi ist, ist die Lage im Norden des Sinais – genau dort, wo die Palästinenser:innen im Falle einer Grenzöffnung ankommen würden.

Teile des Nord-Sinai hatte das Land erfolgreich von der Besatzung durch den lokalen Arm des Islamischen Staates (IS) befreit. Im Zuge der militärischen Operationen gegen den IS wurden militärische Anlagen gebaut, wie etwa eine drei Meter hohe Mauer mit zehn Ein- und Ausgängen rund um die Hauptstadt des Gouvernements, al-Arisch. Teil dieser Mauer sind Wachtürme, die mit Sprengstoffdetektoren und Bewegungsmeldern ausgerüstet sind. In der Bevölkerung kursiert die Befürchtung, dass diese militärische Infrastruktur nun genutzt werden könnte, sollten die Palästinenser:innen tatsächlich die Grenze nach Ägypten überqueren.

Der Sieg gegen des IS war zudem nur dank der Unterstützung durch die lokale beduinische Bevölkerung möglich. Diese hatte gemeinsam mit dem Regime gegen den IS gekämpft, viele Familien waren jedoch von der ägyptischen Regierung aus Sicherheitsgründen „umgesiedelt“ worden. Sie sollten nach der Befriedung der Region zurückkehren können. Doch als einige der beduinischen Familien dies im August 2023 versuchten, fanden sie Absperrungen vor und entdeckten, dass dort Bodenproben für ein geplantes Landwirtschaftsprojekt entnommen wurden. Das Regime hatte sein Versprechen gebrochen. Seit dem 22. August 2023 organisierten Mitglieder verschiedener beduinischer Stämme daraufhin Sit-ins unter dem Motto „Recht auf Rückkehr“.

Was tun?

Ägypten befindet sich in einem vielschichtigen Konflikt mit sich selbst. Soll das Land seine palästinensischen Brüder und Schwestern retten und ihnen sichere Zuflucht gewähren, was jedoch die Aussicht auf einen eigenen palästinensischen Staat dauerhaft verbauen könnte? Oder sollten die Grenzen geschlossen bleiben und Ägypten, wie der Rest der Welt, die Augen vor dem drohenden Genozid an palästinensischen Kindern, Männern und Frauen verschließen? Dies sind zentrale Fragen, die al-Sisi neben seinen Sorgen um den Machterhalt in den kommenden Tagen beantworten muss.

 

 

 

 

Samira Abbas hat Islamwissenschaften in Berlin studiert. Ihre Masterarbeit schrieb sie über die politische und soziokulturelle Situation der Beduinen auf der Sinai-Halbinsel in Ägypten. Seit 2017 lebt sie in Ägypten und schreibt auf ihrem Blog "The Pharao's Goats" über Politik und Gesellschaft in Ägypten. 
Redigiert von Clara Taxis, Rebecca Spittel