07.02.2023
Rezension: „Ihr seid noch nicht besiegt“
Eine Mahnwache für Alaa während der COP27. Foto: The Free Alaa Campaign
Eine Mahnwache für Alaa während der COP27. Foto: The Free Alaa Campaign

Alaa Abd el-Fattahs ausgewählte Texte erzählen nicht bloß die Geschichte eines Widerstandskämpfers. Vielmehr versammeln sie politische Analyse, Hoffnungen, Träume und Enttäuschungen des ägyptischen Aktivismus eines ganzen Jahrzehnts.

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig Bücher und Filme vor. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

November 2022: Während der in Scharm el-Scheich stattfindenden Klimakonferenz COP27 ist der Name Alaa Abd el-Fattah täglich in den internationalen Medien präsent. Der politische Gefangene, Blogger und Aktivist hatte seinen bis dato schon mehr als sechs Monate währenden Hungerstreik auf die Verweigerung von Flüssigkeit ausgeweitet. Er protestierte gegen seine fünfjährige Haftstrafe, zu der er 2021 zu Unrecht verurteilt worden war. Internationale Politiker:innen wie der französische Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz sprachen seinen Fall im Gespräch mit dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi an – ohne Erfolg. Die Konferenz ging am 18. November 2022 zu Ende, Alaa nahm ab dem 10. November wieder Nahrung zu sich. Die Umstände sind nach wie vor nicht vollständig transparent. Laut BBC seien zuerst Flüssigkeit und Nährstoffe per Infusion zugeführt worden, bevor Alaa sich selbst entschlossen habe, wieder zu essen und zu trinken.

So lange wie seine Haft bereits andauert, gibt es auch die Initiative #FreeAlaa. Die Kampagne wird vor allem von Alaas Familie getragen, die sich unermüdlich für seine Freilassung einsetzt. Gemeinsam mit Freund:innen veröffentlichten sie 2021 das Buch „You Have Not Yet Been Defeated“, das nun auf Deutsch erschienen ist.

Das Buch ist eine Zusammenstellung von Alaas Texten, erschienen zwischen 2011 und 2021: Tweets, Reden, Essays für die ägyptische Online-Zeitung Mada Masr und aus dem Gefängnis geschmuggelte Notizen. Die Texte reichen von Kommentaren zu politischen Ereignissen bis hin zu Grundsatztexten, in denen Alaa etwa das staatliche Repressionssystem und die Situation der Gefangenen analysiert (2019), oder aber einen theoretischen Abriss darüber gibt, was Wandel ist und wie er in Ägypten aussehen könnte (2021).

Im Vorwort der Herausgeber:innen wird klar, warum die Texte (relativ) unkommentiert veröffentlicht wurden: Alaa selbst ist im Gefängnis – am Leben –, wodurch eine Kommentierung durch andere nicht sinnvoll erschien. Kontext bietet die Chronik politischer Meilensteine in Ägypten von 1952 bis 2019 am Ende des Buches. Das fehlende Gendern der deutschen Übersetzung wirkt jedoch befremdlich und deplatziert angesichts des so progressiven Inhaltes, der Lesende voller Motivation zur Veränderung globaler Missstände zurücklässt. Auf Rückfrage nennt der Verlag „interne redaktionelle Gründe“.

Chronologie: Vor, während und nach der Revolution

Begonnen hatte Alaa Abd el-Fattah seine politische Arbeit in den frühen 2000er-Jahren als Blogger. In den Anfängen des Internets wurde er als Aktivist bekannt, der an das demokratisierende Potential der Technologie glaubt. Um dieses Potential nutzen zu können, müsse das Internet für alle nutzbar sein. Alaa kämpfte für quelloffene Software, für Internetzugang in ländlichen Regionen und die Verfügbarkeit von Software auf Arabisch. Er wurde weltweit als Speaker eingeladen. Gleichzeitig wurde er seit 2006 wiederholt wegen seines politischen Engagements inhaftiert.

Seine Texte sind voller Sätze, die man zitieren, publizieren, an Wände sprühen will. „Wie üblich kam die Polizei zu spät, um die Freiheit zu unterdrücken“, schreibt er 2011 in einem Text, der die „Let’s Write Our Constitution“-Kampagne einleitet. In ihm zeigt er am Beispiel des Kampfes gegen Apartheid in Südafrika auf, welche Chance und Risiken eine neue Verfassung birgt, und fordert einen partizipativen verfassungsgebenden Prozess in Ägypten. Seine Überzeugung: Nur wenn die breite Gesellschaft am Prozess beteiligt ist, kann die Verfassung demokratischen Wandel tragen.

Was heute aus der zeitlichen und geografischen Entfernung als schwer auseinanderzuhaltende Kontinuität der Unterdrückung und Repression erscheint, gewinnt durch dieses Buch wieder an Detailschärfe. Eindrücklich zeigt dies etwa Alaas Erstaunen, als er 2011 – nach der Revolution – wieder inhaftiert wird: „Ich hätte nie gedacht, dass es mir fünf Jahre später erneut wiederfährt. Dass ich nach einer Revolution, die einen Tyrannen gestürzt hat, in seine Gefängnisse zurückkehre.“

Hoffnung auf die „Geburt einer schönen neuen Welt“

Die Beiträge im Buch haben eine teils abenteuerliche Entstehungsgeschichte: Als Alaa 2019 ohne Stift, Papier und ohne Zugang zu Informationen von außerhalb in „Sicherheitsverwahrung“ genommen wird, nutzt er seine Anhörungen um politische Reden zu halten. Seine Anwälte schreiben diese aus dem Gedächtnis auf, leiten sie an Alaas Familie weiter, die sie dann in seinem Namen auf Social-Media-Kanälen veröffentlicht. Es sind Beschwerden über Haftbedingungen, Analysen der politischen Situation und zuletzt auch ein Manifest der Grundsätze seiner politischen Überzeugung.

Neben der Kreativität, die solche Texte ausdrücken, beeindruckt vor allem Alaas politische Weitsicht. Ein großes Thema seiner Analyse ist die weltweite Veränderung der Arbeitswelt durch technische Innovationen und Sharing-Economy-Ansätze wie bei AirBnB und Uber. Vor allem Uber dient ihm ab 2016 immer wieder als Beispiel des Für und Wider neuer Technologien und Wirtschaftsweisen. In Alaas Augen spiegelt sich in diesem Beispiel nicht bloß die Asymmetrie der Technologieentwicklung, sondern auch die generelle Asymmetrie zwischen „Kairo und Kalifornien“.

Vor dem Hintergrund der COP27 ist bedeutsam, dass Alaa schon 2011 auf den engen Zusammenhang zwischen sozialer Gerechtigkeit und Umweltthemen hinwies. Er benannte die schamlose Ausnutzung der lokalen Ressourcen durch multinationale Unternehmen, den Zusammenhang zwischen der Ausbeutung vor Ort und globalen kapitalistischen Strukturen. 2019 baut er seine Analyse der weltweiten Klimakrise in einem Essay für Mada Masr aus und ruft dazu auf, sich nicht (nur) wegen der allgemeinen Betroffenheit durch den Klimawandel international zu organisieren, sondern an einer gemeinsamen Hoffnung festzuhalten: Gemeinsam für eine gerechtere Zukunft.

„Es ist nicht konstruktiv, sich nur darauf zu einigen, was ablehnungswürdig ist.“

Alaa ist radikaler Idealist und ein pragmatischer Aktivist, schreiben die Herausgeber:innen – was das in einem Militärstaat wie Ägypten bedeutet, macht der Text über das Maspero-Massaker im Oktober 2011 deutlich. Zahlreiche koptischen Demonstrant:innen wurden bei Protesten durch das ägyptische Militär getötet. Alaa und andere Aktivist:innen setzten gegen Proteste und große politische Widerstände eine Obduktion der Opfer durch. Ihr Idealismus verspricht ihnen, dass die Wahrheit über die Todesursache der Demonstrant:innen eine Chance für Gerechtigkeit eröffnet. Unter hohem persönlichen Einsatz schützen sie die Mediziner:innen vor einem aufgebrachten Mob. Ihr Pragmatismus lässt sie vor Ort funktionieren, das Nötige tun, um zwischen den Fronten zu vermitteln und die Obduktion zu ermöglichen.

Doch auch er kommt im Gefängnis an seine Grenzen. Was er beschreibt, sind kafkaeske Situationen: „Oft kommen die Gefangenen erst an, wenn der Richter schon gegangen ist. Es spielt keine Rolle: Du bist ein Gefangener, deine Zeit gehört nicht dir – und sie ist ohnehin wertlos.“ Es ist den Gefangenen während der Zeit in „Sicherheitsverwahrung“ oft nicht bekannt, wofür sie eigentlich angeklagt sind.

Um dieses System greifbar zu machen, seziert Alaa in einem langen Essay die Funktionsweise des Gefängnisses und die Entmenschlichung der Gefangenen: „Da du offiziell als gesellschaftsuntauglich giltst, schwindet sukzessive das Vertrauen der Gesellschaft in dich.“ Er kommt zu dem Schluss, dass das Regime an Gefangenen Rache nimmt: Rache für jede noch so kleine Infragestellung des Staates.

Neben der Person Alaa Abd el-Fattahs bietet das Buch tiefe Einblicke in die Entwicklungen nach der Revolution 2011, in Aushandlungen von Recht und Gerechtigkeit, in Verschiebungen von Solidarität, in politische Einschätzungen von Akteur:innen und Ereignissen. Dennoch bleiben es seine Person und seine Gedanken, die das Buch so packend machen. Die Texte vermitteln eine persönliche Tiefe und Intimität im Rahmen der großen Erzählung des Widerstands gegen ein allmächtig erscheinendes Regime.

Politisch prägende Momente seiner Generation wie die zweite Intifada und der Irakkrieg kommen ebenso zur Sprache wie die Bedeutung des Internets – und zwar der freien und quelloffenen Software, die dezentral und somit dem direkten Zugriff der Staaten und großer Konzerne entzogen ist. Ein Aspekt, der heute in der Diskussion um Twitter und der dezentralen Alternative, Mastodon, brandaktuell ist.

„Fix your own democracy“

Die Krönung (zumindest für das internationale Publikum) ist eine Rede, die er für die RightsCon, einer bedeutenden Konferenz zu Menschenrechten im digitalen Zeitalter, im Silicon Valley aus dem Gefängnis in Tora übermitteln ließ. Seine zentrale Aussage: Wir stehen weltweit vor großen Umbrüchen, in welche Richtung diese gehen, wird noch ausgefochten. Er appelliert: Im Gegensatz zu mir seid ihr noch nicht besiegt. Also kämpft. Konkret fordert er: „Repariert eure eigene Demokratie“; „Spielt nicht das Spiel der Nationen“; „Verteidigt Komplexität und Diversität“ und „Beharrt auf euer Recht, Gestaltende statt Konsumierende zu sein.“

Alaa stellt in seiner Analyse Grundsätzliches fest, das uns alle beschäftigen sollte:

Der politische Dissens kann laut Alaa nützlich sein – selbst in einem so hart umkämpften Kontext wie dem post-revolutionären Ägypten. Nützlich in dem Sinne, dass er gesellschaftliche Pluralität politisch abbildet. Wenn wir ihn also kanalisieren können, eine demokratische Verhandlung von Dissens möglich machen, dann ist Pluralität auch politisch positiv. Die Alternative, das „Einengen“ des Diskurses, wie Alaa es nennt, führt dagegen in die Polarisierung.

Das Buch „Ihr seid noch nicht besiegt“ bündelt Alaas Wirkkraft: Seine Intelligenz, die erlebten Umstände zu analysieren, seine lyrische Begabung, diese Analyse an die Leute zu bringen und dabei den unbedingten Willen, die eigenen Prinzipien und Forderungen nicht zu verraten – und sei es um den Preis der Haft und des Hungerstreiks.

Alaa Abd el-Fattah: Ihr seid noch nicht besiegt, Wagenbach Verlag, Berlin 2022, 240 Seiten, 22 Euro

 

 

 

Clara arbeitet in der Wissenschaftskommunikation. Zu dis:orient kam sie 2018 und seit Februar 2022 übernimmt sie die Koordination unseres Magazins. Clara hat Internationale Migration & Interkulturelle Beziehungen in Osnabrück und Politikwissenschaft in Hamburg & Istanbul studiert. Ihre Themen sind Solidarität in der postmigrantischen...
Redigiert von Sophie Romy, Rebecca Spittel