27.06.2016
Brexit-Presseschau: Palästina, Israel, Großbritannien - alle haben verloren
Die Fahnen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union - inklusive Großbritannien. Photo: Rama/Wikimedia (CC BY-SA 2.0 fr.)
Die Fahnen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union - inklusive Großbritannien. Photo: Rama/Wikimedia (CC BY-SA 2.0 fr.)

Warum hat eine Mehrheit der Briten für den Ausstieg aus der Europäischen Union gestimmt? Diese Frage beschäftigt auch die Kommentatoren und Berichterstatter in der MENA-Region. Eine Presseschau von Iran über Israel bis nach Algerien.

Nur Verlierer in Iran: Britischer Reisepass und Deutschlands Außenpolitiker

Die größte Nachrichtenagentur des iranischen Staats, IRIB, lieferte per Newsblog live-Berichterstattung zum Abstimmungstag und bildete darin auch verschiedene Meinungen aus Europa und der Welt ab. Unter der Schlagzeile „Nachbeben des Referendums“ berichtete IRIB über die Sorgen und Hoffnungen der Bürger, etwa darüber, dass das Ergebnis die Wirtschaft schwäche und dass der Reisepass Englands - der zu den „wertvollsten" der Welt gehört habe, da mit ihm die visafreie Einreise in sehr viele Länder möglich gewesen war - nun auf Platz 31 rutschte. Die Reisepassthematik spielt in Iran immer wieder eine große Rolle, da der iranische Reisepass vor der Islamischen Revolution ebenfalls sehr viel „wertvoller“ war, während er mittlerweile zu den „schlechtesten“ der Welt gehört und Iraner_innen in fast allen Ländern der Welt ein Visum beantragen müssen. Eine der beiden größten Teheraner Zeitungen, Jam-e Jam, berichtete am Tag nach dem Referendum über die starken Auswirkungen auf den weltweiten Kapitalmarkt. Allein in Europa hätten die großen Börsen etwa 10 Prozent verloren, während der Brent-Rohölpreis ebenso sank - für Iran ein wichtiges Thema.

In einem weiteren Artikel berichtet Jam-e Jam über die Reaktion Obamas auf den Brexit. Obama respektiere das Ergebnis und betone, dass die Beziehungen zwischen den USA und England weiterhin stabil blieben. Zu guter Letzt beschreibt Majid Tafrishi für die Zeitung unter der Überschrift „Unabhängigkeit oder schicksalsbestimmender Kampf“ die Reaktionen auf den Brexit. Er schildert die Unsicherheit angesichts der sich verschlechternden Wirtschaftslage und die mögliche Konsequenz, dass Schottland mit einem erneuten Referendum beschließen könnte, das Vereinigte Königreich zu verlassen und eigenständig wieder der EU beizutreten. Dies würde zu einer weiteren Schwächung Englands führen.

Die Analyse-Seite Tabnak titelt: „Domino; hat der Austritt von Ländern aus der Europäischen Union begonnen?“ Dabei bezieht sie sich auf die Deutsche Welle, die das Ergebnis als Katastrophe mit negativen Konsequenzen für alle bezeichnete. „England wird ärmer werden und es besteht sogar die Gefahr, dass die englische Königin fällt.“ Europa hätte von England profitiert und gemeinsam hätten sie auf den Weltmärkten besser bestehen können. Der Austritt Englands werde besonders für Deutschland teuer. „Beide Länder haben in der Vergangenheit, besonders in finanzieller Hinsicht, eine ähnliche Politik in der EU durchgesetzt, die viele andere Länder, insbesondere im Süden, als kritisch empfanden. Dies weiterhin durchzusetzen wird für Deutschland nun wesentlich schwieriger werden.“ Die wichtige Nachricht Englands an die anderen EU-Länder sei, dass diese nun über den politischen Druck eines Referendums ihrer Stimme mehr Gewicht verleihen könnten. Wenn dies allerdings überhand nehme, könnte die Idee Europas verblassen und es würde zu einem leeren Gebilde werden.

Vereinigte Arabische Emirate: Ein Silberstreif am Horizont

Auf der anderen Seite des Golfs untersucht Raid Barqawi, Chefredakteur der arabischsprachigen Zeitung al-Khaleej aus Sharja und Vorstandsmitglied des arabischen Journalism Award, die Auswirkungen des Brexit auf die VAE. Es sei damit zu rechnen, dass Großbritannien seinen Handel mit den Emiraten ausbauen werde, weil es seine Kontakte zu ausländischen, von Brüssel unabhängigen Märkten, stärken muss. Dabei sei das schwache Pfund ein Plus für die VAE – im Tourismus-Sektor allerdings ein Minus, Barqawi rechnet mit weniger britischen Besuchern in Zukunft. Auch das Londoner Finanzzentrum Verah werde auf andere Standorte ausweichen müssen – da böte sich doch zum Beispiel Dubai an als attraktive Alternative... Immerhin: Noch seien die Banken der VAE von den Kurs-Schwankungen nicht negativ betroffen.

Jordanien: Virus der Fragmentierung

Vom Land der Emire ins Land des Königs: In Jordanien schreibt Saleh al-Qalab für die regierungsnahe Zeitung al-Rai, letztlich habe sich in dem Referendum die Sehnsucht der Briten nach Unabhängigkeit und Souveränität und das Erbe des „Reichs, in dem die Sonne nie untergeht“ niedergeschlagen. Das Problem für Großbritannien liege dabei nicht einmal in der Wirtschaft – im Gegensatz zu seinem emiratischen Kollegen rechnet al-Qalab damit, dass Großbritannien eine Supermacht bleiben werde. Nein, das Problem liege im „Virus der Fragmentierung und Spaltung, der die ganze Welt bedroht“, angefangen bei Schottland und Nordirland und vielleicht sogar Wales. Denn, so al-Qalab: „Eine Fragmentierung der Europäischen Union in handlungsunfähige Kleinstaaten ist nicht in unserem Interesse. Wir brauchen die EU als starkes Gegengewicht gegenüber USA und Russland.“

Auch Palästina hat durch den Brexit verloren

Springen wir über den Jordan: Die Palästinensische Tageszeitung al-Hayat al-Jadida, die der Autonomiebehörde nahesteht, hat ausführlich über den Brexit berichtet. Allerdings griff sie damit vor allem auf Nachrichtenagenturen zurück. Eigene Stücke waren die Ausnahme – wie etwa der Kommentar „Der Puls des Lebens“ von Omar Halmi al-Ghul. Der Autor untersucht, wie die EU-Staaten sowie Russland und Amerika auf die Nachricht aus Großbritannien reagiert haben. Das führt ihn zu der Befürchtung: Rechte Parteien gewinnen weltweit an Boden. Der Brexit werde ganz Europa beeinflussen, so al-Ghul: „Nationalismus, kulturelle Konflikte, alte Ideologien und Konfliktlinien innerhalb Europas sowie nach außen mit Russland“ – all das werde wieder hervorbrechen. Auch werde der Rückzug Großbritanniens aus der EU einen großen Einfluss auf die Konflikte in der Region haben, schreibt er – führt das aber leider nicht weiter aus. Das übernimmt in einem Text der Agentur Maan News die ägyptische Abgeordnete Margaret Azar: Sie erwartet negative Folgen des Brexit für die Palästinenser, weil die EU ohne England an diplomatischem Gewicht verliere und damit auch an Entscheidungskraft – etwa im Nahost-Quartett.  

Außerdem darf sich noch Nabil Elaraby erklären, Generalsekretär der Arabischen Liga: „Im Gegensatz zur Arabischen Liga umfasst die EU viele unterschiedliche Länder mit verschiedenen Sprachen, die lange Zeit verfeindet waren. Die Länder der arabischen Länder sind sprachlich und kulturell homogener und haben gemeinsame Erfahrungen.“ Dennoch befürchtet er, dass der Brexit Zeichen eines internationalen Trends sein könnte, der nicht nur auf andere europäische, sondern auch auf arabische Staaten Einfluss habe. Wichtig für die arabischen Staaten sei daher mehr politischer Wille zu gemeinsamen Handeln.

Israel: „Versagen der politischen Elite“ oder „Sieg des gesunden Patriotismus“?

Auf der anderen Seite der Checkpoints ist die israelische Presse am Wochenende nach dem Brexit vor allem mit der anstehenden politischen Annäherung und Versöhnung zwischen Türkei und Israel beschäftigt. Aber auch der Brexit ist in den Nachrichten- und Kommentarspalten präsent und wird von den unterschiedlichen Medien in Israel durchaus kontrovers aufgenommen. Während viele zunächst die Krise der EU konstatieren und die Entfremdung Englands vom europäischen Festland als einen Hauptgrund für das Abstimmungsergebnis zugunsten des Brexit sehen, gibt es auch einige Stimmen, die in dem Votum nun den Beginn eines größeren Trends sehen: Der Brexit sei Ausdruck einer  Identitätskrise Europas, schreibt Carlo Strenger in der links-liberalen Tageszeitung Haaretz.

Die politische Elite in Europa habe es verpasst, einen gemeinsamen Narrativ zu entwickeln, der für eine Mehrheit in Europa hätte sinnstiftend werden können. Millionen von Briten hätten wegen eines zunehmenden Gefühls der Entfremdung und der Wut gegenüber der politischen Elite abgestimmt, die keine tragfähigen Visionen  für die Zukunft übrig habe, so auch Anshel Pfeffer für Haaretz.

Interessanterweise ziehen viele Kommentatoren dabei auch eine Analogie zur politischen Situation in Israel: Auch die israelische Rechte habe es verpasst, ähnlich wie die führenden EU-Politiker_innen, einen sinnstiftenden und inklusiven israelischen Narrativ zu entwickeln, der über Israels Existenzbedrohung und das daraus resultierende Sicherheitsprimat hinausgehe. Weder der Iran noch die BDS Bewegung  seien für die Entwicklung einer israelischen Identität ausreichend. Ähnlich wie Großbritannien sich durch den Brexit nun in die europäische Isolation treibe, werde auch Israel weiterhin seine Entfremdung von der Welt munter vorantreiben – durch eine Politik der Angst und ohne Vision für die Zukunft, so Strenger.

Amir Oren setzt dabei, ebenfalls in Haaretz, in einer deutlichen Kritik an der israelischen Politik noch einen drauf: Es sei Zeit für die Regierung Netanyahu, einen Israexit aus den besetzen palästinensischen Gebieten sofort zu veranlassen, um endlich die staatlichen Grenzen klar zu definieren und den Konflikt mit den Palästinensern zu beenden. Ganz anders sieht das Dror Eydar von der regierungsnahen und rechtsnationalen Tageszeitung „Israel Hayom“: Die Briten hätten einfach nur dem totalitären und universalistischen Gedankengut der europäischen Linken eine klare Absage geteilt. Er sieht darin keinen Ausdruck von Xenophobie, auch wenn der Brexit die Angst vieler Briten vor Überfremdung widerspiegle, so Eydar. In Großbritannien habe lediglich der gesunde Patriotismus – zu Recht! – über die links-liberalen Eliten gesiegt, die permanent das Ende des souveränen Nationalstaates konstatieren würden. Gleichzeitig sieht Eydar einen großen Vorteil in der politischen Schwächung einer Europäischen Union, die, wie er befindet, Israel zunehmend feindlich gesinnt sei: Eine schwache EU sei weniger bedrohlich für Israel.

Damit steht er im Widerspruch zu Barak Ravid, wiederum bei Haaretz: Mit dem möglichen Austritt Großbritanniens könnte Israel einen wichtigen Freund und Partner in der EU verlieren. Der politische Kurs der EU könnte sich – ohne den Ausgleich der Israel-freundlichen Regierung in London – in Zukunft zunehmend gegen die politische Führung in Israel wenden.

Die Jerusalem Post indes berichtete am Sonntag von einem Interview mit dem Vorsitzenden der politischen Opposition, Isaac Herzog, der im Zuge der Brexit-Abstimmung für eine landesweite Abstimmung in Israel plädiert hätte. In dieser Abstimmung müsse es darum gehen, dass die israelischen Bürger_innen frei darüber entscheiden könnten, ob sie einen gemeinsamen israelisch-palästinensischen Staat oder nur einen israelischen Staat befürworten würden. Zu den Fragen, was das Referendum genau beinhalten solle und wann und wie dieses durchgeführt werden könnte, darüber blieb Herzog offenbar sehr vage. Dennoch wird deutlich: Der Brexit beschäftigt Israel und wird dabei sehr unterschiedlich als positives oder negatives Signal der Briten an die Welt gewertet. Wäre Israel ein EU-Mitglied – es wäre vermutlich auch gerade dabei, aus der EU auszutreten. Dies zumindest scheinen viele Beobachter_innen der politischen Landschaft in Israel so zu antizipieren.

Ägypten: Alles auf null

Konzentrieren wir uns beim Blick der Ägypter auf den Brexit mal auf den wirtschaftlichen Aspekt. Immerhin ist Großbritannien der drittwichtigste Handelspartner Ägyptens, nach China und Italien. Lamya Nabil betrachtet in al-Masry al-Youm die Entwicklung. Kurzfristig habe das Referendum auch auf den ägyptischen Kapitalmarkt negative Auswirkungen gehabt – die langfristigen Folgen sind laut Mohammed Omran, dem Vorsitzenden der ägyptischen Börse, noch nicht absehbar. Auch Mohammed al-Masry, Vorsitzende des Verbunds der Industrie- und Handelskammern, macht sich Sorgen um den Handel, insbesondere den Export, der durch das schwache Britische Pfund wohl zurückgehen dürfte. Im Jahr 2015 hatte Ägypten nach Ministeriumsangaben noch Waren im Wert von etwa 777 Millionen Dollar nach Großbritannien exportiert, umgekehrt war es sogar ein Warenwert von rund 1,3 Milliarden Dollar. Dadurch, und durch den ohnehin mauen Tourismus, sei Ägypten besonders stark von der wirtschaftlichen Situation Großbritanniens abhängig. Unklar sei auch, wie sich der Brexit auf die Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen EU und Ägypten auswirken werde. Neue Abkommen, eigens zwischen Großbritannien und Ägypten, seien nötig.

Ausführlich widmet sich dieser Frage Marwa as-Sawaf: Großbritannien als der größte europäische Inverstor in Ägypten habe in den enorm instabilen fünf Jahren seit der Revolution rund 20 Milliarden Dollar direkt investiert, in Finanzen, Energie, Tourismus, Bau und vielen weiteren Sektoren. Mehr als 1000 britische Unternehmen seien in Ägypten tätig, große Firmen wie BP, BG und Shell, aber auch kleine Start-Ups. Seit Juni 2013 verhandeln EU und Ägypten darüber, die Handels- und Investmentbeziehungen zu vertiefen, unter anderem durch das Freihandelsabkommen DCFTA. Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU verliere aber Ägypten einen wichtigen Zugang zum europäischen Markt. Jetzt müssen die bilateralen Investment- und Handelsverträge zwischen Ägypten und GB, die seit 2004 nicht weiter verfolgt werden, neu verhandelt werden.

Libanon: Schlag oder Erwachen?

Für die libanesische, der Hisbollah nahestehende Zeitung as-Safir kommentiert Nasri as-Sayegh unter der Überschrift „Schlag oder Erwachen?“ den Brexit. Er erinnert an die Anfänge Europas als Friedensprojekt. „Doch Europa konnte diesem Anspruch nicht genügen und hat sich immer mehr zu einem neoliberalen Zusammenschluss gewandelt, in dem die starken Staaten mehr profitieren, die lokalen Märkte zusammenbrechen und die Banken das Sagen haben.“ So komme die soziale Gerechtigkeit zu kurz, die innere Stabilität fehle und zwei Krisen – Griechenland und Flüchtlinge – hätten letztlich zum Bruch geführt. „Ist es das Ende von Europa? Ungewiss. Die Europäische Sonne scheint nicht mehr so hell. Vielleicht ist es der Sonnenuntergang zugunsten der starken Länder innerhalb der Union – und zugunsten Russlands und Amerikas.“

Sein Redaktionskollege Samir al-´Ita schreibt von einem „Verrat am Europäischen Traum“ – doch dieser Verrat sei eben nicht der Brexit. Europa sei mehr als ein Wirtschaftsprojekt. „Es war der Traum einer gemeinsamen Identität, die über den engen nationalen Identitäten steht. Ein Traum von mehr Demokratie und Freiheit.“ Doch Europas Institutionen seien zu schnell gewachsen, der Kontakt zur Bevölkerung ging verloren. Gerade das Scheitern Griechenlands habe symbolische Bedeutung für die europäische Identität gehabt, zumal ausgerechnet ebendiese europäischen Institutionen, nämlich die Banken, dafür verantwortlich gewesen seien. Vor diesem Hintergrund sei die Entscheidung der Briten zu verstehen, gegen rationale finanzielle, politische und wirtschaftliche Erwägungen „ihre Demokratie zurückzufordern, die zu einem Titel für ‚Unabhängigkeit‘ geworden ist“. Doch eine Frage bleibe: „Wie steht es mit dem Traum des Zusammenschlusses der Arabischen Völker, heutzutage verkörpert in der Arabischen Liga? Ist der Verbund den Herausforderungen gewachsen, die seine Völker erleben? Welche Meinung haben die arabischen Völker selbst zu diesem Bund? Und hat die Gesellschaft den Traum verraten, der einst ein arabischer war?“

„Ist eine gute Scheidung wirklich immer besser als eine wacklige Ehe?“, fragt sich dagegen Issa Goraieb, Leitartikler im libanesischen Orient le Jour. Bestehe nicht das Risiko, dass sich die „Versuchung des Bruchs“ ausweitet in einer Gemeinschaft, die über sechs Jahrzehnte geduldig und mit viel Arbeit zusammengebracht wurde? David Cameron wird als Glücksspieler und als Zauberlehrling bezeichnet, aber immerhin habe er die Konsequenzen gezogen aus der „gewagten, unglücklichen Wette“, die er mit dem Referendum einging. Ein „ziemlich unvereinigtes Königreich“, über Generationen und geografisch gespalten, hinterlasse der scheidende britische Premier. Zahlreiche nationalistische und populistische Strömungen folgten auf das Referendum, nicht nur in Schottland und Irland; auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan drohe damit, sich „dem Urteil seines Volkes auszusetzen, was die alte – und sterile – Schatzsuche nach der EU-Mitgliedschaft betrifft“. Dennoch: Die EU sei noch nicht „am Ende und tot“, wenn es gelinge, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Und wer soll die ziehen? Na klar: Der vom Orient le Jour stets hochgeschätzte Francois Hollande natürlich, und Angela Merkel. „Die unmittelbarste Gefahr für die EU besteht im Inselbewohner-Reflex: Im Cocooning, wie die Engländer sagen.“

Algerien: Die Partisanen des Brexit haben einen alarmierenden Diskurs entwickelt

Mohammed Larbi geht im algerischen el Watan der Frage nach, warum die EU in vielen europäischen Ländern so schlecht angesehen ist. „Eins der ersten Argumente, in Großbritannien wie in Frankreich, ist die Furcht, im Namen eines föderalen Europa die nationale Souveränität zu verlieren.“ Neben dem eher technischen Argument, die EU-Kommission habe zu viel Macht im Verhältnis zum Parlament, „haben die Partisanen des Brexit einen noch alarmierenderen Diskurs entwickelt: das Risiko, ihr Land werde unter europäischem Zwang seine Grenzen für Migranten öffnen, was die andere Seite mit aller Macht dementiert hat“. Die EU, so Larbi, sei eben doch nur „ein paar Staaten“, das zeige sich insbesondere in ihrer Außenpolitik, die oft streng den Interessen einzelner Mitglieder folge. „Denen geht es darum, sich auf halbem Weg mit sich selbst zu treffen, in ihrer Zugehörigkeit zu Europa und gleichzeitig ihrer Opposition zur EU. Damit stellen sie das Funktionieren der EU in Frage. Gehen sie so weit, sich ganz raus zu ziehen?“

Karl Sharro: Die Arabische Liga sollte beide Seiten dazu aufrufen, das Ergebnis des demokratischen Prozesses zu respektieren

Und zu guter Letzt: Der libanesische Satiriker Karl Sharro, der in Großbritannien lebt und unter „KarlRemarks“ bloggt und twittert, wurde nicht müde, die Parallelen zwischen dem Referendum und ähnlichen Situationen im Nahen Osten herauszuarbeiten – in seiner Funktion als „Lawrence von Arabien-Figur, der lange Zeit mit den Engländern gelebt hat und ihre Verhaltensweisen erlernt hat“. Am Tag der Abstimmung erschien sein Text „A Tale of Ancient Ethnic Hatred“ (Eine Erzählung von altem, ethnischen Hass) beim Atlantic, in dem er eine fiktive Reportage über den Brexit schreibt, wie sie ein stereotyper westlicher Journalist im Nahen Osten verfassen könnte. Absolut lesenswert!

Und auch seine Tweets nach Bekanntwerden des Ergebnisses waren höchst unterhaltsam – eine Auswahl: „Ich freue mich, dass wir Menschen so viel gemeinsam haben. Westler, die sich genauso anhören wie arabische Liberale, wenn sie ungebildeten Wählern die Schuld geben.“ „Die arabischen Kommentare über den Brexit Spring sind genauso dumm wie die Kommentare des Westens über den Nahen Osten. Payback time.“ „Über Nacht wurden tausende Araber zu WENA (Western Europa and Northern America)-Experten. Das kann nur eine koordinierte ironische Kampagne sein, um das Karma-Thema zu erforschen.“ „Wäre großartig, wenn die Arabische Liga jetzt alle Seiten in Großbritannien aufrufen würde, das Ergebnis des demokratischen Prozesses zu respektieren und zum Dialog ermutigen.“ „Falls Europa eine Nation braucht mit Handel, maritimem Hintergrund und Erfahrung in Finanzangelegenheiten um England zu ersetzen, der Libanon meldet sich freiwillig.“ „Die britische Tamarod-Bewegung“ (zur Nachricht, dass mehr als eine Million Briten ein zweites Referendum verlangen). „John Kerry ist für Gespräche in der Region, das hebt die Nahost-Analogie noch weiter an.“ „Innerhalb von ein paar Tagen hat das Vereinigte Königreich ein Level der politischen Disfunktionalität erreicht, für das der Libanon Jahrzehnte gebraucht hat.“

Sein Journalistik-Studium führte Bodo vor einigen Jahren in den Libanon. Es folgten viele weitere Aufenthalte im Libanon und in anderen Ländern der Levante, auch als Reiseleiter für Alsharq REISE. Bodo hat einen Master in Politik und Wirtschaft des Nahen und Mittleren Ostens in Marburg und arbeitet heute als Journalist, meist für die Badischen...
Artikel von Sören Faika, Amina Nolte, Laura Overmeyer