20.08.2018
Der Krieg in den Büchern – Wie Iran das Gedenken an den Ersten Golfkrieg literarisch inszeniert
Grafik: Mohammed Aouda
Grafik: Mohammed Aouda

Heute vor 30 Jahren endete der Iran-Irak-Krieg, auch als Erster Golfkrieg bekannt. In Iran ist dieser achtjährige Krieg mit dem Nachbarland Irak noch immer sehr präsent. Neben Friedhöfen, Filmen und Märtyererbildern im öffentlichen Raum zählen literarische Memoiren zu einer von staatlichen Stellen wie am Fließband produzierten Form der Erinnerungskultur. In ihnen erzählen Soldaten, Generäle, Gefangene und Witwen von ihren Erlebnissen während des Krieges.

Dieser Text ist Teil unserer Serie „Erinnerungskultur und Kontinuitäten – 30 Jahre Ende des Iran-Irak-Kriegs“, in der wir der Geschichte und den Nachwirkungen dieses achtjährigen Krieges nachspüren wollen. Alle Texte der Serie findest du hier.

Die Erinnerung an einen Krieg, der vor 30 Jahren zu Ende ging, wird mit Macht am Leben gehalten. Seine vielen Toten blicken überlebensgroß von den Hauswänden iranischer Städte. Die Farben der Märytrerporträts sind kaum verblasst und das Rot des Stirnbandes, welches die Köpfe der gefallenen iranischen Soldaten ziert, strahlt weit. Die Bilder dieser Märtyrer sind auch außerhalb Irans bekannt. Es wurde viel geschrieben über diesen sogenannten Kult, der bereits in den Vorwehen der Islamischen Revolution seine sprachlichen und symbolischen Formen erprobte und sich in den acht Jahren des Kriegs mit dem Nachbarland Irak vollends entfaltete.

Am 22. September 1980 griffen irakische Truppen den Iran an. Über die Motive hinter diesem Angriff, den der damalige Präsident des Irak, Saddam Hussein, angeblich als Blitzkrieg geplant hatte, wurde viel spekuliert: War es die Schwäche des noch in den Revolutionswirren steckenden Irans, die Saddam Hussain die Gelegenheit wittern ließ, einen alten Konflikt um den Grenzfluss Shatt al-Arab (persisch Arvandrud) in seinem Interesse zu lösen? Oder befeuerte Khomeinis Revolutionsrhetorik die Angst vor einem Überschwappen des revolutionären Eifers auf die Schiiten im Irak?

Mit welchem Ansinnen Saddam Hussein den Krieg auch begonnen hatte, siegreich war er nicht. Am 20. August 1988 traten die UN-Resolutionen 598 und 582 in Kraft, die einen Waffenstillstand in jenen Grenzen einläuteten, die vor dem Krieg bestanden. Ein Friedensvertrag wurde bis heute nicht geschlossen. Ebenso wenig existieren genauen Zahlen über die Opfer. Je nach Quelle schwankt die Zahl der Menschen, die an der Front, bei Giftgasangriffen oder Bombardierungen starben zwischen 300 000 und bis zu 1,5 Millionen.

Doch es sind nicht nur die Toten, in deren Bildern an den Hauswänden und auf den Friedhöfen der Krieg fortwirkt. Auch die Überlebenden halten ihn in ihren Erzählungen lebendig. Neben den Märtyrerbildern sind Memoiren zur einer wichtigen Stütze staatlich geförderten Kriegsgedenkens in Iran geworden. Seit Jahrzehnten drängen sie auf den Buchmarkt und sind in ihrer Anzahl nicht mehr zu überschauen – obwohl ihre Leserschaft, insbesondere den vielen jungen Menschen im Land, mehr als überschaubar ist. Im Persischen tragen sie den Titel Khaterat – Erinnerungen, deren Erzähler*innen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven auf den Krieg blicken.

Eine gut geschmierte Gedenkmaschinerie

Eine die erzählt, ist Farangis Haidarpour. Als sie 18 Jahre alt war, fiel die irakische Armee von Westen in den Iran ein. Sie war mit ihrer Familie vor dem Krieg ins Umland ihres Dorfs geflohen, wo sie sich versteckt hielten.  Auf der Suche nach etwas Essbarem traf sie auf zwei irakische Soldaten. Mit der Axt ihres Vaters tötete sie den einen, den anderen übergab sie der iranischen Armee, die ihn in Kriegsgefangenschaft nahm. Die Axt auf den toten Leib des irakischen Soldaten gestützt, die Hand in der Hüfte, blickt sie heute furchtlos und stolz auf die Besucher*innen Kermanshahs. Ihr zu Ehren wurde dort eine Statue errichtet, die ihre Heldinnentat ins kollektive Gedächtnis eingehen lassen soll.

Eine Kriegsheldin anderer Art ist Qadam Kheyr Mohammadi. Sie war gerade 24 Jahre alt, als der Krieg sie zur Witwe machte. Ihr Mann war Kommandeur der Revolutionsgarden. Die fünf gemeinsamen Kinder zog sie nach seinem Tod allein groß. In ihren Memoiren erzählt sie die Geschichte vieler junger Frauen, deren Männer von der Front nicht mehr nach Hause kamen.

Mehdi Tahanian hingegen überschritt zuerst die Frontlinie, bevor er nach vielen Jahren der Kriegsgefangenschaft nach Iran zurückkehrte. Noch als Kind wurde er Mitglied einer Basidschgruppe[1] seiner Heimatstadt und brach mit dieser nach Kriegsbeginn zur Front auf. Diese überlebte er, ebenso die Kriegsgefangenschaft im Irak. Heute liegen die Erinnerungen des „Kleinen Soldaten des Imam“[2] in mehreren Auflagen vor. Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei lobt den Mut und die Widerstandskraft dieses Jungen, dessen Geschichte für ihn eines der „Wunder der Heiligen Verteidigung“[3] ist, wie der Krieg in Iran häufig genannt wird.

Das sind drei Stimmen unter vielen. Politiker erzählen, Generäle erzählen, Soldaten und Kriegsgefangene erzählen ebenso wie Freunde, Witwen und Familienangehörige der Märtyrer. Gemeinsam mit ihren Porträts halten sie die Erinnerungen an den Krieg lebendig, sorgen als Teil einer gut geschmierten Gedenkmaschinerie dafür, dass der Krieg seinen Schrecken und seine Gesichter nicht verliert.

Texte, die sich wie Autobiographien lesen – aber keine sind

Ein wichtiger Motor dieser Industrie des Kriegsgedenkens ist die Houze Honari, eine Institution, die von einer Gruppe junger islamischer Künstler während der Revolution gegründet und von wichtigen politischen Persönlichkeiten dieser Zeit beaufsichtigt wurde. Sie hat sich im Laufe der Jahre zu einem Imperium der künstlerischen Produktion entwickelt, das vor allem islamische Kunst oder besser Kunst im Sinne der Islamischen Republik fördert. Der gegenwärtige Leiter der Houze, Mohsen Momeni Sharif, scheint dem derzeitigen Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei so nah zu stehen, sodass die Houze ohne Kontrolle durch die Zensurbehörde des Ministeriums für Kultur und islamische Führung publizieren kann, schreibt Asad Seif, Autor und Mitglied der Vereinigung iranischer Schriftsteller im Exil.[4]

Zusammen mit anderen Stiftungen und Instituten, die häufig die Namen von Märtyrern tragen, veröffentlicht die Houze Memoirenwerke am Fließband. Die Bücher, die entstehen, erscheinen trotz der Vielzahl der erzählten Geschichten und Erzählperspektiven merkwürdig monoton. Das mag zum einen daran liegen, dass die Sprache, in der der Krieg erzählt wird, über die Jahre erstarrt ist und nur ein lebloser Wort- und Metaphernschatz zur Auswahl steht. Ein weiterer Grund für die schematische Gestalt der Erinnerungsliteratur liegt aber auch in der Tatsache, dass jene die den Krieg erlebten und erzählen, nicht diejenigen sind, die ihn niederschreiben.

Vor einigen Jahren ist eine ungewöhnliche Form der Kriegserzählung in Iran aufgetaucht, die sich jedoch zunehmend zum neuen Standard entwickelt. Mehdi, der kleine Soldat des Imams, Qaddam Kheir, die Kriegswitwe mit ihren fünf Kindern und Farangis, die Frau, die mit der Axt ihres Vaters den irakischen Soldaten entgegentrat: Sie alle fungieren als Erzähler*innen ihrer Geschichten, aufgeschrieben wurde diese jedoch von professionellen Autor*innen und Historiker*innen der Houze Honari und anderer Institutionen. So entstehen Texte, die sich wie Autobiografien lesen, jedoch keine sind.

Die Verlage sind sehr bemüht klarzustellen, dass es sich bei dieser Form nicht um fingierte oder gar fiktive Schriften handelt. In den Vorworten wie auch in den Besprechungen, die das Erscheinen der Bücher begleiten, wird mit viel Liebe zum Detail der Entstehungsprozess der Texte geschildert. Sie basieren häufig auf mehreren hundert Stunden Interviews, in denen die Protagonisten ihr Leben erzählen. Zusammen mit verschiedenen anderen Quellen und Dokumente bilden diese Interviews die Grundlage der Ich-Erzählungen vom Krieg – geschrieben von der Hand des Historikers.

„Ich will, dass unsere Jugend die Geschichten des aufgezwungenen 8-jährigen Krieges kennt.“<[5] Die Worte des Revolutionsführers zeigen jene Richtung an, in der die Memoiren wie auch diverse andere künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Krieg ihre Wirkung entfalten sollen. Die Ältesten jener Generationen, die den Krieg nicht erlebt haben, werden in diesem Jahr 30 Jahre alt. Es sind junge Menschen, bei denen das Gedenken an den Krieg auf Teilnahmslosigkeit und Desinteresse trifft, die jedoch frustriert sind, wenn Angehörige eines Märtyrers bei der Studienplatzvergabe ungeachtet ihrer Leistungen bevorteilt werden.

Das Regime will den Krieg unbedingt in Erinnerung – er war dessen Urerfahrung

Auch wenn mit all den tragisch-heroischen Erzählungen, den Filmen und Theaterstücken, Büsten und Porträts scheinbar die Empathie der vom Krieg Verschonten geweckt werden soll, damit auch sie Bewahrer*innen jenes kollektiven Kriegstraumas werden, so geht es doch um einiges mehr. Der Krieg ist so präsent und so wichtig, weil er eine politische Urerfahrung für das post-revolutionäre Regime darstellt, die bis heute bestimmend ist für das Verhalten Irans in seinen regionalen und internationalen Beziehungen. Auch wenn der Krieg von vielen als ein Glücksfall für die Führungsriege um Khomeini beschrieben wurde, der es ihnen ermöglichte, sich mit aller Härte ihrer politischen Konkurrenten und Gegner zu entledigen und die eigene Macht zu festigen, hat er in außenpolitischer Hinsicht jedoch eine ganz andere Wirkung erzielt.

Das Gefühl, von Feinden umringt zu sein, die der nationalen Unabhängigkeit und politischen Selbstbestimmung an den Kragen wollen, ist bis heute geblieben und ein wichtiger Bestandteil der politischen Rhetorik - wenngleich es einer näheren Betrachtung nur bedingt standhält, da beide Länder verdeckte wie offizielle Waffenlieferungen aus vielen Ländern der Welt erhielten. Es entspringt jenen Erfahrungen, die das junge Regime während des Krieges sammelte und hat an Aktualität nicht verloren. Viele der Feinde von damals sind geblieben, die irakische Führungsriege zählt jedoch nicht mehr dazu. Die Angst um das eigene Überleben hat die iranischen Machthaber politische und militärische Bündnisse schließen lassen, durch die sich der iranischen Verteidigungswall bis in fremdes Territorium hat ausdehnen können.

Die zahlreichen Bücher, die den Krieg als erstes großes Trauma des neuen iranischen Staates erzählen, sind ein Kampf gegen das Vergessenwerden dieses Krieges innerhalb der eigenen Bevölkerung. In der gebetsmühlenartigen Nacherzählung der kleinen und großen Schrecken dieses Krieges liegt auch die Hoffnung, das all die jungen Iraner*innen, die mit dem Ausland liebäugeln, verstehen mögen, dass dort draußen noch immer viele lauern, denen die Unabhängigkeit Irans ein Dorn im Auge ist. Die Erinnerung an den Krieg wird so lang lebendig gehalten werden, wie er seine mahnende symbolische Funktion erfüllen muss. Nur diese lässt verstehen, warum dem Kriegsbeginn in Iran jährlich mit viel größerem Aufwand gedacht wird als seinem Ende.[6] So wird auch der 30. Jahrestag des Inkrafttretens jenes Waffenstillstandes, der das Ende des Krieges markierte, wohl ohne großes Getöse vergehen.

 

[1] Die Basidsch (lang: Basidsch-e Mostazafin = Mobilisierte der Unterdrückten) sind eine als Freiwilligenmiliz gegründete Organisation, die heute einen paramilitärischen sowie diverse sozialstaatliche Flügel hat. Sie gilt als dem Revolutionsführer sehr nahestehend.

[2] So der persische Titel: „sarbaz-e kuchek-e emam“

[6] Die Woche der Heiligen Verteidigung findet jedes Jahr vom 22., also dem Tag des irakischen Angriffs, bis zum 29. September statt.

Artikel von Anne-Marie Brack
Redigiert von Daniel Walter, Sören Faika