26.11.2021
Ermittlungen eingestellt
So erdrückend die Beweislast auch scheinen mag: Nur selten landen Polizist:innen nach einer Strafanzeige tatsächlich hinter Gittern. Illustration: Kat Dems
So erdrückend die Beweislast auch scheinen mag: Nur selten landen Polizist:innen nach einer Strafanzeige tatsächlich hinter Gittern. Illustration: Kat Dems

Strafanzeigen gegen Polizist:innen bleiben fast immer erfolglos. Besonders schlecht stehen die Chancen für Geflüchtete. Das erschüttert das Vertrauen in den Rechtstaat, findet Hannah El-Hitami.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Das Video zeigt einen fast nackten Mann, der auf einer Liege fixiert ist. Ein Sanitäter geht schnell auf ihn zu, holt aus und verpasst ihm, so scheint es, einen Schlag ins Gesicht. Der Angriff gegen einen syrischen Geflüchteten ereignete sich vor etwa einem Jahr in einer Kasseler Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete. Eine Überwachungskamera zeichnete die Szene auf, die Bilder sorgten bundesweit für Empörung.

Besonders skandalös: In dem Video sind zwei Polizisten zu sehen, die keine Anstalten machen einzugreifen. Vergangene Woche wurden die Ermittlungen gegen den inzwischen entlassenen Mitarbeiter des Arbeiter-Samariter-Bunds (ASB) jedoch überraschend eingestellt. Auch die Strafverfahren gegen die beiden Polizisten, die tatenlos zusahen, sind damit beendet.

Die Unschuldsvermutung ist eines der wichtigsten Prinzipien im deutschen Strafverfahren: Ein Beschuldigter gilt als unschuldig, bis der Staat das Gegenteil beweisen kann. Wer in einem Rechtstaat lebt, muss akzeptieren, wenn sich der Verdacht gegen einen Beschuldigten nicht erhärtet; wenn er freikommt, weil einfach nicht genügend Beweise da sind. Recht ist dann nicht immer gleichbedeutend mit Gerechtigkeit, doch ich sehe es ähnlich wie der Autor und Jurist Robert Dugoni: „Es ist besser, wenn zehn Schuldige davonkommen, als dass ein Unschuldiger verfolgt wird.“

Problematischer wird die Sache aber, wenn vor allem Taten gegen Mitglieder einer bestimmten Gesellschaftsgruppe unaufgeklärt bleiben – wenn es den Anschein hat, dass der Staat bei gewissen Verbrechen besonders wenig bemüht ist, diese nachzuweisen. Oder ganz konkret: wenn immer wieder Ermittlungen gegen Personen eingestellt werden, die Gewalt gegen Geflüchtete angewandt haben – nein, angewandt haben sollen natürlich. Bei einigen der prominentesten Fälle sind Polizeibeamte in die Taten verwickelt, ein Umstand, der die Aufklärung noch zusätzlich erschwert.

Keine Folgen für die Polizisten

Seit ich das Video des Vorfalls entdeckt habe, habe ich es mir immer wieder genau angeschaut, in Zeitlupe, ganz nah. Es ist kaum zu glauben, dass irgendjemand aus diesen Aufnahmen etwas anderes herauslesen kann als einen Schlag eines Sanitäters gegen eine gefesselte Person. Doch die Staatsanwaltschaft Kassel tut genau das: Sie sieht nach einer Auswertung des Videos durch das Bundeskriminalamt nicht bestätigt, dass der Syrer überhaupt getroffen wurde.

Der Sanitäter selbst hatte beteuert, nur gegen die Kopfstütze geschlagen zu haben. Warum Polizisten einen Mann, der ausholt und mit voller Wucht neben den Kopf eines Gefesselten schlägt, nicht zumindest versuchen zu beruhigen, sei mal dahingestellt. Auch der Umstand, dass der Syrer einen Jochbeinbruch erlitt, an der Stelle seines Gesichts, wo der Schlag ihn getroffen hätte, stimmte die Ermittler nicht um. Der Bruch sei nicht durch den Schlag entstanden, urteilte ein Rechtsmediziner.

Solange die Schuld nicht bewiesen wurde, ist nicht nur der Sanitäter unschuldig, sondern auch die beiden Polizisten. Doch bei gewissen Tatumständen fällt es mir inzwischen zugegebenermaßen oft schwer, dem Rechtstaat zu trauen. Im Kasseler Fall waren die Polizisten nur indirekt beteiligt, eine Verurteilung des Sanitäters hätte aber auch für sie schwerwiegende Folgen haben können. Und wenn in Deutschland Polizisten einer Tat beschuldigt werden, heißt es leider viel zu oft: Ermittlungen eingestellt.

Weißer Polizist kniet auf nicht-weißem Mann

Einer der wohl schockierendsten Fälle dieser Art spielte sich im März in Delmenhorst ab. Dort wurde der irakische Jugendliche Qosay Khalaf zusammen mit einem Kumpel beim Kiffen im Park von zwei Polizisten kontrolliert, sie wandten Pfefferspray an und drückten ihn zu Boden. Nach dem Einsatz von Pfefferspray muss die Polizei routinemäßig einen Krankenwagen rufen. Laut dem Freund des Opfers ignorierten die eintreffenden Sanitäter aber, dass der 19-jährige um Wasser bat und mitteilte, dass er schlecht Luft bekomme.
Die Sanitäter unterstellten ihm zu simulieren, und entließen ihn in die Obhut der Polizisten, die ihn mit auf die Wache nahmen. Dort fiel Qosay Khalaf ins Koma und starb kurz darauf im Krankenhaus. Dass ein Jugendlicher, der ein paar Jahre zuvor als unbegleiteter Minderjähriger vor dem IS geflüchtet war, schließlich in den Händen der deutschen Polizei stirbt, ist kaum zu ertragen.

Anders als das Ereignis in Kassel hat den Vorfall in Delmenhorst niemand gefilmt. Ich dachte mir öfter, dass dieser Fall, wenn es ein Video davon gäbe, ähnlich große Aufmerksamkeit bekommen hätte wie der von George Floyd in den USA. Ein weißer Polizist kniet auf einem nicht-weißen Mann, der sagt, dass er nicht atmen kann. Doch es gab kein Video, und wie der Fall des Sanitäters in Kassel zeigt, hätte vielleicht nicht einmal das einen Unterschied gemacht. Stattdessen hieß es auch hier trotz erdrückender Beweislast und zahlreicher Widersprüche in der Argumentation der Staatsanwaltschaft: Ermittlungen eingestellt.

Unrecht trotz Rechtsprechung

Einer Studie der Ruhr-Universität Bochum aus dem Jahr 2019 zufolge werden etwa 93 Prozent der Ermittlungen gegen Polizist:innen eingestellt. In der untersuchten Stichprobe von knapp 3400 Fällen endeten nur sieben damit, dass ein:e Polizist:in verurteilt wurde. Opferverbände betonen die besonders verzwickte Situation Geflüchteter, die noch seltener gegen den Staat vorgehen, weil sie ihre Rechte nicht kennen und nicht wissen, an wen sie sich wenden können. Vor allem aber befürchten sie ihr Asylverfahren dadurch zu gefährden. Zurecht, denn wer die Polizei anzeigt, muss regelmäßig mit einer Gegenanzeige rechnen – zum Beispiel wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt.

Was also tun, wenn die Rechtsprechung des Staates sich wie schreiendes Unrecht anfühlt? Zivilgesellschaftliche Gruppen wie die „Initiative in Gedenken an Oury Jalloh“ haben gezeigt, dass es sich lohnt dranzubleiben. Auch 17 Jahre nach dem Tod des Asylbewerbers in einer Dessauer Polizeizelle kämpfen sie für die Aufklärung des Falles, in dem die Ermittlungen wie so häufig eingestellt wurden.

Anfang des Monats ergab ein neues Gutachten, dass der 36-Jährige aus Sierra Leone im Jahr 2005 mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Benzin übergossen und angezündet wurde, während er sich in Polizeigewahrsam befand. Seine Familie will den Fall nun neu aufrollen und fordert die Bundesanwaltschaft auf zu ermitteln – nicht nur gegen die Dessauer Polizisten, sondern auch gegen die Generalstaatsanwaltschaft von Sachsen-Anhalt.

Von einem Staat, der schon ungern gegen seine Polizei ermittelt, auch noch eine Anklage gegen die eigenen Staatsanwält:innen zu fordern, ist mutig. Wenn der Versuch jedoch endlich gelingt, wäre das ein Hoffnungsschimmer – für Delmenhorst, für Kassel und für alle, die sich einen gerechteren Rechtstaat und eine unabhängigere Kontrolle seiner Gewalt wünschen.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Kat Dems finden sich auf ihrem Instagram-Account oder auf ihrer Webseite.

 

 

Hannah El-Hitami, Jahrgang 1991, ist freie Journalistin in Berlin und schreibt vor allem über arabische Länder, Migration und koloniales Unrecht. Sie studierte Arabische Literatur und Kultur in Marburg und war Volontärin des Amnesty Journals. www.hannahelhitami.com/  
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Johanna Luther