24.01.2024
Gaza – für Journalist:innen der gefährlichste Ort der Welt
Das Bild zeigt einen Reporter von hinten. Foto: Engin Akyurt, Unsplash.
Das Bild zeigt einen Reporter von hinten. Foto: Engin Akyurt, Unsplash.

Im Gazastreifen werden so viele Journalist:innen getötet wie in keinem anderen Krieg des 21. Jahrhunderts. Reporter ohne Grenzen versucht, Schutz und Sicherheit zu bieten und klagt vor dem Internationalen Strafgerichtshof.

Kein anderer Krieg des 21. Jahrhunderts ist für Journalist:innen so tödlich wie der in Gaza. Es fällt schwer, angesichts der Tragödien im Gazastreifen, aber auch in Israel, im Westjordanland und im Libanon, eine Einzelperson in den Vordergrund zu stellen – aber die Geschichte der Familie Dahdouh hat eine ganz besondere Tragik. Wael al-Dahdouh arbeitet seit knapp 20 Jahren für den katarischen TV-Sender al-Dschasira, er leitet dessen Gaza-Büro. Im Oktober 2023 verlor er seine Frau und zwei seiner Kinder bei einem israelischen Luftangriff auf das Geflüchtetenlager Nuseirat. Wael al-Dahdouh war live auf Sendung, als er davon erfuhr. Weitere Verwandte kamen ebenfalls ums Leben. Am 7. Januar dann traf ein israelischer Drohnenangriff das Auto, in dem Waels Sohn Hamza saß. Hamza und sein Kollege Mustafa Thuraya wurden getötet. Wael al-Dahdouh wurde vor einigen Wochen selbst verletzt, berichtet aber weiter, oft unter Lebensgefahr. Durch die Videos von ihm und seiner trauernden Familie wurde er für viele zu einer Art Held. Mittlerweile hat er Gaza verlassen.

Seit dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober kamen 89[1] Medienschaffende ums Leben. Vier in Israel, drei im Libanon – und 82 im Gazastreifen. In 24 Fällen konnten wir von Reporter ohne Grenzen (RSF) mit hinreichender Sicherheit feststellen, dass ihr Tod direkt mit ihrer journalistischen Arbeit zusammenhing. Wir versuchen zu belegen, dass der oder die Journalist:in während oder wegen seiner oder ihrer Arbeit getroffen wurde. Dazu sichten wir Videomaterial, prüfen Quellen und sprechen mit Kolleg:innen vor Ort, unter anderem mit unserer Korrespondentin Ola Zaanoun, die selbst bei einem israelischen Bombardement verletzt wurde. Die Verifizierung kann angesichts der Lage dauern, aber vorschnelle Schlüsse helfen dem Kampf um Gerechtigkeit nicht.

Der gesamte Gazastreifen ist ein lebensgefährlicher Ort

Trotz der Lebensgefahr gibt es noch immer Journalistinnen und Reporter vor Ort, die berichten. Ihre Arbeit wird jedoch von mehreren Aspekten erschwert: Von den zahlreichen israelischen Luftangriffen, den immer wieder blockierten Telefon- und Internetverbindungen und der Angst, die ein Leben im Krieg mit sich bringt. Häufige Strom- und Internetausfälle erschweren es den Medienschaffenden zu telefonieren, ihre Telefone und Kameras zu laden, Auto zu fahren und mit Quellen oder ihren Redaktionen zu sprechen.

Um an Strom zu kommen, haben viele Medienschaffende Zelte in der Nähe der Krankenhäuser im Süden des Gazastreifens errichtet. Doch auch der Süden und andere Gebiete, die von den israelischen Streitkräften ursprünglich als Zufluchtsorte benannt wurden, werden bombardiert. Auch im Süden Gazas leben Medienleute also mit der Angst, ums Leben zu kommen oder geliebte Menschen zu verlieren, wie im Fall von Wael al-Dahdouh geschehen.

Die Arbeit von unabhängigen und kritischen Medien war bereits vor dem 7. Oktober durch die Hamas stark eingeschränkt. Diese behinderte die Arbeit der Journalist:innen immer wieder, auch gewaltsam, und verbreitete gezielt Propaganda. Ähnliches gilt für den sogenannten Islamischen Dschihad, ebenfalls eine Terrororganisation. Dennoch gab es im Gazastreifen zumindest bis zum 7. Oktober eine durchaus lebhafte Zivilgesellschaft. Pauschale Urteile, sämtliche Medien stünden unter Kontrolle der Hamas oder arbeiteten sogar mit ihr zusammen, halten wir von RSF für unzutreffend und gefährlich. Diverse Anschuldigungen in diese Richtung haben sich bislang nicht erhärtet. Dennoch verbreiteten mehrere hochrangige israelische Politiker:innen, diese Leute seien Terroristen und deshalb zu töten – auf den Social-Media-Accounts der betroffenen Journalist:innen laufen im Minutentakt Morddrohungen ein. Solche Aufrufe sind auch in Kriegszeiten nicht zu rechtfertigen: Journalist:innen sind kein Freiwild.

Drohungen und Angriffe in der ganzen Konfliktregion

Auch in Israel häufen sich Drohungen und Gewalttaten gegen Medienschaffende, die von dort aus über den Krieg berichten. Betroffen sind vor allem arabische und palästinensische Medienschaffende, aber auch Reporter:innen ausländischer Medien und von Zeitungen, die in der israelischen Öffentlichkeit kriegskritische Positionen vertreten, wie die linke israelische Tageszeitung Haaretz. Zudem kam es vermehrt zu Schikanen internationaler und lokaler Medienteams, mutmaßlich durch radikale, bewaffnete Siedler:innen. Anfang November waren zum Beispiel mehrfach ein Team der ARD, aber auch Medienschaffende von CNN und ORF betroffen. Derzeit halten die israelischen Sicherheitskräfte 31 palästinensische Medienschaffende fest, die meisten von ihnen in Administrativhaft ohne konkrete Anklage.

Auch vor dem 7. Oktober standen Medienschaffende im Westjordanland Einschränkungen sowohl durch die Palästinensische Autonomiebehörde als auch durch die israelischen Besatzungstruppen gegenüber. In Israel selbst konnten Journalistinnen und Reporter bislang weitgehend frei berichten; ein zwischenzeitlich bis in höchste Regierungskreise diskutiertes Verbot von al-Dschasira ist offensichtlich vom Tisch.

Angesichts der Tragödie vor allem in Gaza müssen wir etwas tun. Ein erster Schritt, immerhin: Karim Khan, der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag[2], wird Verbrechen an Journalist:innen in seine Ermittlungen zur Situation in Palästina aufnehmen. Israel ist kein Vertragsstaat des IStGH, aber weil die Palästinensischen Gebiete Vertragspartei sind, konnte der Konflikt dem IStGH als „Situation“ schon unterbreitet werden und die Gerichtsbarkeit ist gegeben. Diese Ermittlungen sind auch eine direkte Folge der beiden Strafanzeigen, die RSF wegen möglicher Kriegsverbrechen seitens der israelischen Streitkräfte und der Hamas beim IStGH eingereicht hat.

Das Humanitäre Völkerrecht legt Regeln für bewaffnete Konflikte fest. Die Angriffe, denen palästinensische Medienschaffende in Gaza ausgesetzt waren und sind, entsprechen der völkerrechtlichen Definition für sogenannte unterschiedslose Angriffe. Selbst wenn die Angriffe auf legitime militärische Ziele gerichtet sind, wie die israelischen Behörden angeben, verursachten sie dennoch einen unverhältnismäßigen Schaden für die Zivilbevölkerung und sind gemäß diesem Artikel somit Kriegsverbrechen. Journalist:innen sind nach dem Humanitären Völkerrecht zwar in erster Linie Zivilist:innen, sind aber wegen der Nähe zum Geschehen – und weil sie manchmal ganz konkret an ihrer Arbeit gehindert werden – noch einmal ganz besonders gefährdet.

Schutzzonen, Öffnung der Grenzübergänge, humanitäre und technische Hilfe

Wir als Reporter ohne Grenzen fordern deshalb die Einrichtung von Schutzzonen für Journalist:innen, in denen sie materielle, medizinische und psychologische Hilfe bekommen. Die Kriegsparteien, allen voran das israelische Militär, müssen sich verpflichten, diese Zonen nicht zu beschießen oder zu bombardieren.

Es müssen außerdem mehr internationale Medienschaffende nach Gaza gelangen können, wie immer wieder einige von ihnen fordern. Das wäre ein Gegenmittel gegen die grassierende Desinformation, die den weltweiten öffentlichen Diskurs so stark vergiftet. Israel lässt wenige ausgewählte Medienschaffende „embedded“ ins Land, was bedeutet, sie dürfen das israelische Militär begleiten, aber nicht unabhängig arbeiten. Zusätzlich behält sich Israel vor, dass die Streitkräfte sämtliches Material prüfen können. Das ist nicht ungewöhnlich, ermöglicht aber nur eine sehr eingeschränkte Perspektive. Israel und Ägypten sollten sich deshalb darüber verständigen, den Grenzübergang Rafah für Journalist:innen zu öffnen – auch für die Versorgung von verletzten oder gefährdeten Medienschaffenden.

Die gesamte Zivilbevölkerung in Gaza braucht mehr humanitäre Hilfe. Journalist:innen, die über den Krieg berichten, brauchen zusätzlich schusssichere Westen und Helme, Erste-Hilfe-Kits sowie technische Unterstützung in Form von Akkus oder Stromgeneratoren. Denn Journalist:innen vor Ort sind unser Fenster nach Gaza. Wir brauchen sie – auch, um mögliche Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Gaza darf kein mediales schwarzes Loch werden.

 


[1] Stand der Zahlen: 22. Januar 2024, Quelle: Reporter ohne Grenzen.

 

[2] Zu beachten: Der Internationale Gerichtshof (dort läuft die Klage von Südafrika) und der Internationale Strafgerichtshof sind zwei verschiedene Gerichte (allerdings beide in Den Haag). Sie unterscheiden sich, denn „vor dem Internationalen Gerichtshof werden Konflikte zwischen verschiedenen Staaten verhandelt. Vor dem Internationalen Strafgerichtshof wird gegen einzelne Verantwortliche dieser schweren Verbrechen verhandelt und geurteilt.“ (Quelle: Bpb)

 

 

 

Christopher Resch ist Pressereferent im Berliner Team der internationalen Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen (RSF) mit Fokus auf den Nahen Osten (MENA) und Südosteuropa. Er hat in Leipzig und Istanbul Journalistik und Arabistik studiert und anschließend für das Goethe-Institut in Ägypten und Saudi-Arabien gearbeitet. Er ist...
Redigiert von Clara Taxis, Regina Gennrich