27.10.2023
Was ist das für eine Debatte?
In der deutschen Medienlandschaft wird oft einseitig über Israel und Palästina berichtet - das schadet auch der Demokratie. Grafik: Zaide Kutay
In der deutschen Medienlandschaft wird oft einseitig über Israel und Palästina berichtet - das schadet auch der Demokratie. Grafik: Zaide Kutay

Die Ereignisse in Israel und Gaza werden in Deutschland oft einseitig dargestellt. Dabei werden demokratische Grundsätze über Bord geworfen, die sonst unverhandelbar wären, beobachtet Hannah El-Hitami.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Seit dem 7. Oktober ist jeder Tag überschattet von den unerträglichen Nachrichten aus Palästina und Israel. Mich beschäftigt der Krieg auf verschiedenen Ebenen: Da ist das persönliche Mitgefühl mit den Angehörigen der palästinensischen und israelischen Opfer, gepaart mit der Wut über das strukturelle Unrecht, dem Palästinenser:innen seit Jahrzehnten ausgesetzt sind. Da ist die Angst vor wachsendem Antisemitismus und Islamhass, die beide durch die Kämpfe in Gaza geschürt werden und die bereits jetzt Todesopfer gefordert haben. Und da ist diese erdrückende Ohnmacht, das Gefühl nichts tun zu können angesichts eines Massenmordes von historischem Ausmaß.

Ein roter Faden, der sich durch all diese Gefühle zieht, ist die Verzweiflung darüber, dass das Leid und die Entrechtung der Palästinenser:innen für so viele Menschen im Globalen Norden, vor allem in Deutschland, überhaupt gar keine Rolle zu spielen scheinen. Palästina-Demos werden reihenweise verboten und verschiedene Medien und Institutionen bedauerten ausschließlich die katastrophalen Verluste auf israelischer Seite.

Ich möchte aber gar nicht darüber schreiben, warum das inhaltlich so unmenschlich und falsch ist. Das haben viele Menschen mit mehr Expertise bereits getan. Ich möchte stattdessen an deutsche Medien, Politiker:innen, Institutionen und Individuen appellieren, zu hinterfragen, wie diese Gleichgültigkeit gegenüber Palästinenser:innen zustande kommt. Wenn eine Position nur durch das Ausblenden von Fakten, die Einschränkung von Grundrechten und die Missachtung verbindlicher Regelwerke haltbar ist, dann ist an dieser Position wahrscheinlich irgendetwas faul.

Deutschland klagt nicht an

Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass die Grundsätze des Völkerstrafrechts angesichts der Angriffe auf Gaza plötzlich nicht mehr so wichtig zu sein scheinen. Israel hat den Gazastreifen einer Blockade unterworfen und fast vollständig von Wasser, Strom, Medikamenten und Nahrungsmitteln abgeschnitten. Es hat ganze Familien ausgelöscht, eine Kirche bombardiert, die als Zufluchtsort diente, und möglicherweise auch ein Krankenhaus. All diese Taten richten unverhältnismäßigen Schaden in der Zivilbevölkerung an und müssen als Kriegsverbrechen untersucht werden. Die Angriffe der Hamas auf israelische Zivilist:innen genauso.

Der deutsche Staat aber, der sonst so stolz auf seine Rolle als Vorreiter in der Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist, hat bislang keine juristischen Konsequenzen für die israelische Armee gefordert. Es ist nicht bekannt, dass er ein Strukturermittlungsverfahren eingeleitet hat – eine Sammlung von Beweisen, die für spätere Strafverfolgung von Nutzen sein könnten – wie zuletzt in den Kriegen in Syrien und der Ukraine. Außenministerin Annalena Baerbock hat sich sogar gegen einen Waffenstillstand gestellt, der potentielle Verbrechen gegen die israelische und palästinensische Zivilbevölkerung zumindest vorübergehend stoppen würde.

Dass das Völkerstrafrecht selektiv angewendet wird, um die Verbrechen von Menschen aus dem Globalen Süden zu verfolgen, ist leider nichts Neues. Trotzdem ist es schockierend, dass Regierungen wie die deutsche nicht einmal eingreifen, um weitere Verbrechen zu verhindern. Das wird dem Völkerstrafrecht nachhaltig schaden und die Rolle Deutschlands als aktiven Ankläger-Staat massiv diskreditieren. Oder wie Andrew Stroehlein von Human Rights Watch (HRW) es in einem Tweet formulierte: „Wenn du nur etwas gegen die Kriegsverbrechen deiner Feinde hast, dann hast du nicht wirklich etwas gegen Kriegsverbrechen.“

Die einen werden getötet, die anderen sterben

Problematisch ist in diesem Zusammenhang auch das Ausblenden bestimmter Fakten. Gerade bei andauernden gewaltsamen Konflikten ist ein ausgewogener Blick auf die Lage unglaublich wichtig. Durch Missinformation und Emotionalisierung geht dieser gerade auf beiden Seiten verloren. Im öffentlichen Raum in Deutschland fehlt mir an entscheidenden Stellen vor allem der Blick auf das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung. Wenn beispielsweise ein Newsletter der Bundeszentrale für politische Bildung ausschließlich von den Hamas-Angriffen auf Israel berichtet und mit keinem Wort die Toten in Gaza erwähnt, dann ist das unprofessionell.

Auch die Berliner Universitäten bekundeten ihre Solidarität anfangs nur mit israelischen, nicht aber palästinensischen Betroffenen. Dieses Vorgehen findet sich in bestimmten Medien und Statements wieder. Mal wird die palästinensische Realität ausgeblendet, mal werden zwar Tote erwähnt, aber nicht, wer für diese verantwortlich ist. Oft liegen die Details in der Sprache: Die einen werden getötet, die anderen sterben. Unabhängig davon, wo die Sympathien von einzelnen Personen und Institutionen liegen, ist das eine skrupellose Verzerrung der Realität. Demgegenüber steht im Globalen Norden eine Medienlandschaft, die palästinensische Interviewpartner:innen ad absurdum dazu auffordert, sich von der Hamas zu distanzieren, bevor sie ein Wort über die Lage der Zivilbevölkerung in Gaza äußern können.

Die einseitige Berichterstattung zeigt sich auch darin, dass Expertisen ignoriert werden, denen man sonst vertrauen würde: zum Beispiel von international anerkannten Organisationen wie der UN, HRW und Amnesty International (Amnesty). Deren Recherchen gelten normalerweise als professionell und sachlich, Journalist:innen zitieren die Organisationen als vertrauenswürdige Quelle zu allen möglichen Themen. Anders, wenn es um israelische Staatsverbrechen geht, zu denen UN, HRW als auch Amnesty eindeutig Position bezogen haben. Sie dokumentieren und kritisieren aktuell nicht nur die Verbrechen der Hamas gegen israelische Zivilist:innen, sondern auch die der israelischen Armee gegen die Zivilbevölkerung in Gaza. Doch die bedingungslosen Unterstützer:innen der israelischen Regierung schenken ihnen keine Aufmerksamkeit. Sogar die deutschen Sektionen der beiden Menschenrechts-NGOs verhalten sich auffallend still.

Eigene Demokratie reparieren!

Am unerträglichsten an der ganzen Debatte finde ich aber, mit welcher Leichtigkeit der deutsche Staat und seine Behörden in den letzten Wochen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Deutschland eingeschränkt haben. Eine Demonstration nach der anderen wurde verboten, egal ob „in Solidarität mit Palästina“, zum „Andenken an die Opfer im Gazastreifen“ oder gar für „Frieden in Nahost“. Auch die Demo einer jüdischen Gruppe durfte nicht stattfinden. Angeblich stellten diese Demos eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Die Voraussetzungen für ein Demonstrationsverbot sind in Deutschland sehr hoch, doch beim Thema Palästina ist anscheinend keine Differenzierung nötig. Kein Wunder eigentlich in einem Land, dessen größte Fraktion im Bundestag einen Vorsitzenden hat, der ohne jegliche Konsequenzen gegen Muslime und Araber:innen hetzt.

Selbstverständlich gibt es Personen, die ihre Wut über die Unterdrückung der Palästinenser:innen in blinden Judenhass übersetzen. Menschen, die die Taten radikaler Gruppen oder Regime zur Verteufelung einer ganzen Bevölkerungsgruppe nutzen, gibt es in allen Konflikten und auf allen Seiten. Diese müssen von Demos ausgeschlossen werden und, wenn sie Straftaten begehen, zur Rechenschaft gezogen werden. Das präventive Verbot sämtlicher Demos ist dadurch aber nicht zu rechtfertigen und zudem verfassungswidrig. Es ist undemokratisch, einer Meinung jeden öffentlichen Raum zu entziehen, zumal es sich hier gar nicht um eine Meinung handelt, sondern um die Forderung eine Zivilbevölkerung zu schützen und die Trauer um Tausende Tote.

Dass Berlin Kufiyas und den Satz „Free Palestine“ an Schulen verbietet, obwohl diese in Deutschland nicht verboten sind, dass eine Staatssekretärin in Schleswig-Holstein ihren Job verliert, weil sie die Gewalt von Seiten Israels kritisiert, all das verstärkt den Eindruck, dass Regierungen hier mangels Argumenten um sich schlagen und dabei die Falschen treffen. Wichtiger wäre ein konsequentes Vorgehen gegen Antisemitismus und rassistische Hetze an den Spitzen der deutschen Parteien. Sie sind es, die den deutschen Antisemitismus auf Araber:innen und Muslim:innen abwälzen wollen, um ihr eigenes Fehlverhalten zu vertuschen und ihren Nationalismus der historischen Schuld zu entledigen. So schaffen sie letztlich eine Gesellschaft, in der keine Minderheit wirklich sicher ist.

In den letzten zwei Wochen musste ich immer wieder an die Worte des ägyptischen Aktivisten Alaa Abdel Fattah denken, der seit Jahren unrechtmäßig inhaftiert ist. Auf die Frage, wie Menschen aus aller Welt ihn und andere politische Gefangene in Ägypten unterstützen könnten, antwortet er in seinem Buch: „Repariert eure eigenen Demokratien.“ Wenn Menschen in anderen Teilen der Welt Gewalt und Unrecht erfahren, können wir das heutzutage live auf unseren Bildschirmen verfolgen. Die herzzerreißende Bilderflut verstärkt das Gefühl der Ohnmacht, weil wir vor Ort kaum helfen können. Was wir aber tun können ist die Missstände in unseren eigenen Umgebungen zu bekämpfen – vor allem wenn wir selbst nicht unmittelbar von der Gewalt betroffen sind. In Deutschland bedeutet das aktuell: die Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht zu akzeptieren, einseitige Berichterstattung zu hinterfragen und die Einhaltung des internationalen Rechts und der Menschenrechte einzufordern. Egal, wo unsere Sympathien liegen.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

Hannah El-Hitami, Jahrgang 1991, ist freie Journalistin in Berlin und schreibt vor allem über arabische Länder, Migration und koloniales Unrecht. Sie studierte Arabische Literatur und Kultur in Marburg und war Volontärin des Amnesty Journals. www.hannahelhitami.com/  
Redigiert von Sophie Romy, Eva