29.10.2021
Immer noch unbekannt
Rührselige Erzählungen über „Gastarbeiter:innen“ und bloß dekorative Erinnerungskultur verschleiern den andauernden Rassismus in der Gesellschaft. Illustration: Kat Dems
Rührselige Erzählungen über „Gastarbeiter:innen“ und bloß dekorative Erinnerungskultur verschleiern den andauernden Rassismus in der Gesellschaft. Illustration: Kat Dems

Vor 60 Jahren kamen sogenannte „Gastarbeiter:innen“ aus der Türkei nach Deutschland. Angesichts des kontinuierlichen Rassismus in Deutschland sollten wir aber nicht feiern, sondern alarmiert sein, kritisiert Cem Bozdoğan.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Am 30. Oktober 1961 unterzeichnete Deutschland in einem schnellen und unbürokratischen Verfahren ein Anwerbeabkommen, welches die Einwanderung von Arbeitskräften aus der Türkei nach Deutschland ermöglichte. Bis zum Anwerbestopp 1973 kamen fast 900.000 Menschen hierhin, holten ihre Familien nach und zeugten weitere Generationen. Mich zum Beispiel.

Viele Menschen in meinem Alter romantisieren die „Gastarbeiter:innengeschichten“ ihrer Großeltern, es gibt mittlerweile Bücher, Ausstellungen und Denkmäler, die das Ankommen junger Menschen in den 1960er und 70er Jahren porträtieren. Ich sage ehrlich: Mir geht das auf die Nerven.

Denn sie wurden nicht gerufen, weil man sie wollte, sondern, weil man sie brauchte: als Hilfskräfte oder Zuarbeiter:innen in körperlich anspruchsvollen Berufen, zum Beispiel in der Bauwirtschaft oder im Dienstleistungsgewerbe. Bauen oder Putzen – das waren Berufe, die die Deutschen nicht wollten, die sie lieber für ihre „Gäst:innen“ aufsparten. Wie wirkliche „Gäst:innen“ wurden die Arbeitskräfte aber nicht behandelt: Sie bekamen oft nur sanierungsbedürftige Wohnungen, erlebten Rassismus und auch strukturelle Diskriminierung. Das deutsche All inclusive-Paket.

Eine der „Gäst:innen“ war meine Oma. Als 30-Jährige ist sie 1970 aus unserem armen kurdisch-alevitischen Dorf nach Istanbul gefahren, um sich dort von einer für das Anwerbeabkommen extra eingerichteten Koordinierungsstelle medizinisch durchchecken zu lassen. Dann kam die „frohe Botschaft“: Sie durfte nach Deutschland, erst mit dem Flieger nach München, dann mit dem Zug ins Münsterland, wo sie sich als Mitarbeiterin in der Wäscherei eines Hotels 27 Jahre lang krank schuftete – so sehr, dass sie aus gesundheitlichen Gründen Frührentnerin wurde.

Für die Möglichkeit, nach Deutschland zu fahren, verließ sie meinen Opa und ihre drei Töchter, von denen eine noch im Säuglingsalter gestorben ist, weil sich im Dorf niemand mehr um sie gekümmert hat. Noch heute, wenn sie betet, entschuldigt meine Oma sich bei ihrer verstorbenen Tochter.

Aufklärung statt symbolischer Würdigung

Man kann sagen: Menschen wie meine Oma haben sich für Deutschland aufgeopfert. Und was bekamen sie zurück? 1980 wurde der Gastarbeiter Sydi Koparan aus Ludwigsburg von Nazis totgeprügelt, in Duisburg verübte eine Frau 1984 einen Brandanschlag auf ein Haus, das von einer Gastarbeiter:innenfamilie bewohnt war, in Hamburg wurden 1985 Ramazan Avcı und Mehmet Kaymakçı von Neonazis ermordet. Es folgten die NSU-Morde, der Brandanschlag in Solingen und Hanau. Die Liste der Anschläge ist lang und für die meisten Menschen der Mehrheitsgesellschaft immer noch unbekannt.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte Anfang Oktober bei einer Festrede zum 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens, dass die Geschichten der Gastarbeiter:innen gewürdigt werden sollten, zum Beispiel in den Schulbüchern und in unserer Erinnerungskultur. Leider bekamen Menschen wie meine Oma bis heute nichts zurück, was ihre Leistungen würdigte.

Wofür sich der Bundespräsident, aber vor allem auch die Regierung bedingungslos einsetzen könnten – anstelle von Lippenbekenntnissen und Schulbucheinträgen: rechte Strukturen aufdecken, wie es zum Beispiel eine Recherche der taz gemacht hat oder sich um die vollständige Aufklärung des NSU oder des Terroranschlags in Hanau kümmern. Aber das passiert nicht. Stattdessen werden weiterhin die klassischen „Vom Arbeiter zum Freund“-Geschichten erzählt. Und das Bundesverdienstkreuz verdient ein Sohn türkischer Gastarbeiter:innen auch erst, wenn er einen Impfstoff erfindet, der die Welt rettet.

Es hat einen Grund, warum Menschen wie meine Oma heute wieder in das Land zurückgehen, wo sie damals von Armut und vom Faschismus bedroht wurden. Heute, im Oktober 2021 lese ich auf Twitter erneut: „Unbekannte werfen in Solingen Brandsatz auf Balkon“. Eine Userin, die vor Ort ist, schreibt, dass es sich um eine deutsch-türkische Familie handelt – nicht auszuschließen also, dass es sich auch hier um einen rechtsmotivierten Anschlag handelt. In den Medien aber bleibt der Vorfall größtenteils unerwähnt. Sie sind wahrscheinlich damit beschäftigt, die nächste herzzerreißende Gastarbeiter-Story zu schreiben.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Kat Dems finden sich auf ihrem Instagram-Account oder auf ihrer Webseite.

 

 

Cem Bozdoğan studierte Sozialwissenschaften in Düsseldorf und Gewalt- und Konfliktforschung in London. Heute arbeitet er als Redakteur für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und schreibt als freier Autor, vor allem über Themen aus Kurdistan und der Türkei.
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Johanna Luther