12.04.2024
„Ihre Strategien sind Bullshit“
Vielleicht wäre es eine gute Idee, sie miteinander für ein paar Wochen einzusperren, wie bei „Love Is Blind”, wo sie sich nach intensiven Gesprächen ineinander verlieben. Grafik: Zaide Kutay.
Vielleicht wäre es eine gute Idee, sie miteinander für ein paar Wochen einzusperren, wie bei „Love Is Blind”, wo sie sich nach intensiven Gesprächen ineinander verlieben. Grafik: Zaide Kutay.

Unsere Kolumnistin gerät zwischen zwei Demos: die einen tun so, als ob es Gaza nicht gäbe, die anderen wollen Israel zu Palästina machen. Warum nicht alle zusammen einsperren, damit sie einander endlich zuhören - wie bei „Love is Blind”.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Der 180. Tag des Krieges ist der, an dem ich zwischen die Fronten gerate. Zufällig entdecke ich auf dem Campus der US-Universität Duke, wo ich in der Bibliothek arbeite, dass eine Solidaritätsbekundung mit den in Gaza verschleppten Geiseln angemeldet ist.

Schon von weitem sehe ich eine in blau-weiße-Fahnen gehüllte Menschentraube, etwa 40 Leute, ein paar auch mit USA-Fahnen. Ein israelischer Student verteilt Poster mit Fotos und Namen der Geiseln, mir streckt er das von Hadar Goldin entgegen. “He was in my unit”, sagt er über den jungen Mann auf meinem Poster. Ich stecke es ein. Etwa hundert Meter weiter die Konkurrenzveranstaltung: ein Grüppchen mit Palästinaflaggen und Ceasefire Now-Bannern.

Die jüdischen Organisator:innen bedanken sich bei der Universitätsleitung für deren Unterstützung in den vergangenen Monaten, dann übergeben sie das Mikrofon an die Schwester von Keith Siegel, einem in Geiselhaft gehaltenen aus North Carolina stammenden Israeli. Sie erzählt die Geschichte seiner Verschleppung. Erzählt, wie sie seit dem 7.Oktober nicht mehr schläft.

Das Mitgefühl wird von zweifelnden Fragen überschattet

Mich plagen in diesem Moment zwei Gefühle: Mitgefühl für das Leiden dieser Frau, die nichts unversucht lässt, um ihren Bruder aus der Hölle zu holen. Und ein Unwohlsein, als ob dieses Mitgefühl von einem anderen, hässlichen Gefühl überschattet wird. Einem, dass es gar nicht geben dürfte. Als ob ich dieser Frau gegenüber wegen dem politisierten Setting, indem wir uns hier befinden, gar nicht die echte Empathie entgegenbringen könnte, die ihr gebührt.

Weil die Demonstrierenden die palästinensischen Opfer in Gaza unerwähnt lassen, als würden sie gar nicht existieren. Sie fordern „Solidarität mit Israel” und bedanken sich bei Amerika. Ja, wofür denn? Spinnt ihr eigentlich, will ich sie fragen. Was meint ihr mit „Solidarität”, wo Israel dank KI-Technologie jeden Tag unschuldige Zivilist:innen umbringt? Habt ihr die neue Recherche von Yuval Abraham im +972mag nicht gelesen, die an genau diesem Tag veröffentlicht wurde?

Stattdessen sage ich nichts. Das hier ist offensichtlich kein Event, bei dem irgendjemand ein Gespräch sucht. Ich weiß, dass die meisten hier Anwesenden in ihrer Kindheit und Jugend wahrscheinlich von Seiten jüdischer Institutionen indoktriniert wurden. Ich weiß das, weil ich dieser Indoktrination selbst zum Opfer gefallen bin.

Welche Funktion haben Demonstrant:innen?

Ich laufe auf die andere Seite, zu der Palästina-Solidaritätsbekundung und stelle mich zu den Studierenden dazu, von denen viele Poster mit Kinderleichen in die Höhe halten. Bunter sieht es hier aus, gemischter, einige sprechen Arabisch, aber nicht nur. Eine Joggerin sprintet vorbei und streckt „Free Palestine” rufend ihre Faust in den Himmel, , als ob sie ein Fußballspiel anfeuert. Die Demonstrierenden jubeln und jauchzen ihr hinterher. Auf einem Plakat steht „Make Israel Palestine again“. Auf einem anderen: „Accusing Hamas of terrorism is like accusing a woman of punching her rapist.“ Die Hamas soll also die Frau sein…und Israel der Vergewaltiger?

Habt ihr sie eigentlich noch alle, will ich fragen. Ein zynischer Vergleich, vor allem, weil die Vergewaltigungen der Hamas am 7.Oktober mittlerweile durch mehrere Quellen dokumentiert wurden. Auch israelischen Soldaten in Gaza werden Sexualstraftaten vorgeworfen. 

Die Studierenden schreien Slogans wie ‚„From the river to the sea, Palestine will be free“ und „ Biden Biden you can‘t hide, you’re committing genocide“, jemand setzt zu ‚„Resistance is no crime an‘. Ich schreie nicht mit, sehe nur zu. Sehe, wie eine junge Teilnehmende mit Springerstiefeln und Spikes mich beobachtet und registriert, dass ich nicht mitrufe. Kurz darauf spaziert sie zu mir herüber und stellt sich mit ihrem tote Kinder abbildenden Plakat vor mich. Sie hält das Plakat direkt in mein Gesicht, mir den Weg versperrend.

Ich versuche, der Situation zu entfliehen, indem ich auf mein Telefon starre. Dann blicke ich sie an, ein Lächeln versuchend. Sie weicht meinem Blick aus. So stehen wir einige Minuten, bis ich mich umdrehe und weggehe, um eine Sprachnachricht anzuhören. Sie folgt mir und stellt sich wieder vor mich. Kurz darauf verlasse ich die Demo, zitternd. Immer wieder schaue ich mich um, ob sie mir folgt.

Was in Gaza geschieht, ist eine Tragödie. Ob Israel in diesen Tagen einen Völkermord begeht, wird sich in den kommenden Jahren hoffentlich aufklären. Aber welche Funktion haben Demonstrant:innen in dieser Situation?

Beide Seiten sehen nur sich selbst

Als linke Studentin habe ich von einer Revolution geträumt, von einer gerechteren Welt. Diese jungen Menschen mit ihren Flaggen träumen auch davon, daran habe ich keine Zweifel, wozu sonst ist man jung. Aber wäre die Welt wirklich besser, wenn sie tatsächlich an die Macht gelängen? Unklar.

Lange bevor radikale Linke Aussagen des Philosophen und Psychiaters Franz Fanon dazu missbrauchten, um auf Instagram das Massaker am 7.Oktober als Akt der Dekolonialisierung zu rechtfertigen, haderte ich mit meinen Gedanken zu Gewalt als Strategie für Befreiung und gegen Unterdrückung. Meine Haltung dazu bleibt ambivalent, weder leichtfertig noch abgeschlossen. Bevor ich in diese Demos geriet, hätte ich möglicherweise damit argumentiert, dass Menschen, deren Familien gerade zu Tausenden getötet werden, nicht auch noch in die Lage gezwungen werden sollten, das eigene Leiden vermarkten zu müssen.

Aber den Gedanken daran, die Studierenden mit ihren Plakaten auf dem Campus einer der teuersten amerikanischen Universitäten als Unterdrückte in einem Freiheitskampf wahrzunehmen, finde ich realitätsfern. Diese Menschen sind eine Art Interessenvertretung, Botschafter:innen am anderen Ende der Welt. Ihr Job ist, effektive Strategien des Widerstandes oder des zivilen Ungehorsams zu erarbeiten, die den langfristigen Zweck haben sollten, die Betroffenen zu unterstützen.

Nur ist das Problem: ihre Strategien sind Bullshit. Einerseits, weil sie gleichgültig oder feindselig gegenüber Menschen sind, die anders ticken als man selbst. Sie sind Bullshit, weil die Botschafter:innen einander ausspielen und ihre Botschaften dadurch unwirksam werden. Aber auch, weil sie selbstreferentiell sind. Sowohl die Ignoranz gegenüber Gaza als auch die Romantisierung des Hamas-Massakers sind letztendlich eine Provokation. Diese Art der öffentlichen Kommunikation lenkt vom eigentlichen Thema ab, denn es geht eigentlich nur noch um sie selbst. In der dramatischen Situation dieses grausamen Krieges hat die eigene Wichtigkeit etwas Widerwärtiges.

Warum scheinen sie unfähig, einander zuzuhören, obwohl sie nur ein paar Meter entfernt voneinander stehen? Was müsste passieren, damit sie es tun? Ich überlege, ob es eine gute Idee wäre, sie alle miteinander für ein paar Wochen einzusperren, wie bei „Love Is Blind”, wo sie sich nach intensiven Gesprächen ineinander verlieben, ohne sich je begegnet zu sein. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr gefällt mir das Konzept.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

Marina ist in der Ukraine geboren und als Kind nach Deutschland eingewandert. Sie ist freie Journalistin, leitete bis zur Corona-Pandemie politische Studienreisen in Israel und Palästina und führte Gruppen durch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Im Moment besucht sie die Reportageschule in Reutlingen.
Redigiert von Sophie Romy, Regina Gennrich