12.03.2013
Jerusalem: Zehnspurig gen Osten

Auf Beschluss des Jerusalemer Stadtrates begann im Dezember 2012 der Bau an Highway 50 quer durch das arabisch-palästinensische Viertel Beit Safafa. Die Autobahn wird das Dorf zweiteilen und jüdische Siedlungen mit der Innenstadt verbinden. Die Dorfbewohner protestieren. Lea Frehse und Johanna Wagmann über die politischen Hintergründe eines brisanten Projekts.

Khalil Alian ist Mitglied des Gemeinderats von Beit Safafa, gewählt, um die Beziehungen der arabisch-palästinensischen Dorfgemeinschaft mit der Jerusalemer Stadtverwaltung zu regeln. Seine Gäste heißt er in seinem Haus in Beit Safafa mit einer Geschichte willkommen, die ihm sein Großvater erzählte: „Die Katze jagte die Maus und die Maus verkroch sich in ihr Loch. Die Maus hörte die Katze vor dem Loch miauen und wagte sich nicht hinaus. Dann hörte das miauen auf, die Maus hörte das Bellen eines Hundes und fühlte sich sicher. Die Maus trat hinaus und wurde von der Katze gepackt. ,Aber wie konntest Du hier sitzen während der Hund bellte?', fragte die Maus. Die Katze antwortete verschmitzt: ,Wenn Du in diesem Land keine zwei Sprachen sprichst, wirst Du hungern.'“

Die Muttersprache der Menschen in Beit Safafa ist palästinensisches Arabisch. Doch um Arbeit zu finden, für den Umgang mit den Behörden oder den Kontakt mit Menschen in angrenzenden Stadtvierteln, brauchen und beherrschen alle hier Hebräisch. Denn Beit Safafa liegt heute inmitten des Bezirks Jerusalem; rechtlich aber ist es durch die Grüne Linie geteilt: Zwischen 1949 und 1967 stand ein Großteil des Dorfes unter jordanischer Besatzung, während einige Straßenzüge im Norden zum von Israel besetzten Teil Jerusalems gehörten. Seit 1967 ist das Dorf wieder vereint, doch die Bewohner sehen sich von einer neuen Teilung bedroht: Eine Fernstraße wird quer durch Beit Safafa gebaut, um die Begin Stadtautobahn gen Süden zu vollenden.

Beit Safafa fürchtet um den Zusammenhalt

Die Anwohner sorgen sich um Lärm- und Umweltbelastung, doch fürchten sie vor allem um den sozialen Zusammenhalt in Beit Safafa: Die Straße wird das Viertel teilen und die Menschen hier werden ihre Schulen, Moscheen und Verwandten nur noch über lange Umwege erreichen können.

Die israelischen Behörden begreifen Beit Safafa als ein Wohngebiet, Teil der Masterpläne für „Groß-Jerusalem“ inklusive des annektierten Ostens der Stadt. Die Anwohner dagegen sehen sich als Dorfgemeinschaft. Obgleich das jahrhundertealte Dorf Beit Safafa in den Jahrzehnten seit 1967 von den sich ausbreitenden jüdisch-israelischen Stadtvierteln und Siedlungen eingeschlossen wurde, hat es sich einen ländlichen Charakter bewahrt. Noch treiben hier alte Bauern ihre Schafherden durch die Straßen.

Die Pläne sind alt, die Umsetzung ist Teil eines größeren politischen Plans

Der Bau der Straße basiert auf Plänen von vor rund 23 Jahren. Das Teilstück durch Beit Safafa vollendet ein Netz von Schnellstraßen, welche die Siedlungen rund um Ost-Jerusalem mit dem israelischen Kernland verbinden. Gen Süden wird Highway 50 - auch Straße Nr. 4 genannt - Verkehr in den Siedlungsblock Gush Etzion um Bethlehem leiten. Gen Norden führt die Straße auf die umstrittene Road 443, die eine Abkürzung nach Tel Aviv mitten durch palästinensisches Gebiet bildet. Palästinensische Autos können die Straße jedoch größtenteils nicht befahren.

Die Jerusalemer Stadtverwaltung gibt an, dass Anwohner die Pläne für die Straße im Jahr 1990 billigten und finanziell für Verluste entschädigt worden seien. Damals habe es keine Proteste gegeben. Die Anwohner dagegen behaupten, in der Planung zu keiner Zeit angemessen informiert oder befragt worden zu sein. „Der Plan von damals war ein Masterplan für die Entwicklung der ganzen Gegend. Darin war eine Straße angegeben, doch es war nie die Rede von einer Autobahn dieses Ausmaßes“, sagt Anwalt Kais Nasser, der eine Anwohnerinitiative gegen den Bau vor Gericht vertritt. „Als Teilstücke der Autobahn am Rande jüdischer Nachbarschaften gebaut wurden, wurden Anwohner über die Pläne informiert und hatten das Recht, Einspruch zu erheben. Pläne wurden gegebenenfalls angepasst. Die Menschen in Beit Safafa aber wurden nie gefragt und sollen nun einfach schlucken, was man ihnen vorsetzt.“

Anwohner gingen vor Gericht

Im September 2012 informierte die Stadtverwaltung Khalil Alian, man werde die Bauarbeiten an der Schnellstraße in einigen Wochen aufnehmen. „Wir forderten Einsicht in die Pläne und Gelegenheit zum Einspruch“, sagt Alian, „doch nach einigen ergebnislosen Treffen begannen sie im Dezember einfach zu bauen.“ Am 12. Dezember legte eine Anwohnerinitiative vor Gericht Einspruch gegen das Verfahren ein.

Das Gericht wies die Klage der Anwohner mit der Begründung ab, eine solche Beschwerde hätte bei der Planung im Jahr 1990 eingereicht werden müssen. Die Kläger gingen in Berufung – das Verfahren dauert an. In der Zwischenzeit haben Anwohner zahlreiche Demonstrationen und Protestaktionen durchgeführtund fordern ihre Rechte ein. Bei Protesten an der Baustelle, vor dem Rathaus und vor dem israelischen Parlamentsgebäude kamen auch viele israelische und ausländische Aktivisten und Aktivistinnen, um ihre Unterstützung zu signalisieren.

Gebaut wird weiter – nun besonders schnell, sagen die Anwohner

Die Bauarbeiten sind trotz des Gegenwinds in vollem Gange. Bulldozer graben wenige Meter entfernt von Wohnhäusern: Obgleich die Stadtverwaltung sich wiederholt auf Pläne von 1990 beruft, erteilte man in den vergangenen zwei Jahrzehnten Baugenehmigungen für Grundstücke unmittelbar neben der jetzigen Autobahn-Trasse. Ala Selman hat hier ein Haus für seine Familie gebaut und hat die Proteste mit initiiert. „Wenn sie hier eine Straße für das Wohl der Menschen bauen wollen, bitteschön. Aber dann baut nicht über unsere Köpfe hinweg!“, mahnt er.

Die Forderungen der Initiative betreffen denn auch nur die Ausgestaltung der Straße: „Wir können die Straße nicht mehr verhindern“, sagt ein anderer Dorfbewohner, der sich in der Initiative engagiert. „Wir wollen den Schaden für unser Dorf begrenzen und fordern, die Straße tiefer zu legen und teilweise zu überdachen. Zwei Brücken würden das Dorf verbinden.“ Doch die Stadtverwaltung sperrt sich bislang dagegen, die Straße tiefer zu bauen. Es sei zu teuer, lässt man verlauten. Anwohner bezweifeln, dass die Kosten tatsächlich höher lägen: „Sie wollen die Straße nicht überdachen, weil sie mittelfristig weitere Verbindungsstraßen anfügen wollen. Sie werden das Dorf nach und nach zerstückeln“, sagt Selman.

Zerstückelt man bewusst palästiensisch-arabische Gemeinschaften?

Beit Safafa ist heute durch jüdisch-israelische Nachbarschaften von anderen palästinensischen Orten isoliert. Die Bewohner sind untereinander eng verbunden, soziale Bindungen ins Westjordanland und zu arabischen Israelis aber sind schwächer geworden. Im Vergleich zu anderen palästinensisch-arabischen Gemeinschaften haben sie relativ privilegierten Zugang zum israelischen Arbeitsmarkt. Beit Safafa ist heute ein Ort der Mittelklasse.

Die sozioökonomische Anpassung hat Beit Safafa politisch ruhig gestellt. Seit der ersten Intifada hat das Dorf kaum Schlagzeilen mit Widerstand gegen die Besatzung gemacht – ganz im Gegensatz zu anderen Gebieten im palästinensischen Ost-Jerusalem. Die Proteste gegen Straße Nr. 4 haben Beit Safafa jetzt auf den politischen Radar zurückgeholt. Die Bewegung hat begonnen, sich mit Initiativen in der Westbank zu vernetzen. Die Demonstranten und Demonstrantinnen sind meist jung und organisieren Aktionen über Facebook.

Die Vertreter des Dorfes drücken ihre Enttäuschung aus über eben jene Autoritäten, an die sie sich einst anpassten: „Seit 1949 haben die Menschen in Beit Safafa weder der Bevölkerung, noch dem Staat Israel Probleme bereitet. Und was bekommen wir dafür? Nichts“, sagt Khalil Alian, der hier aufwachsen ist. Die Strategie, Konfrontation nach außen zu meiden, um Ruhe und Frieden für das Dorf zu sichern, scheint nicht mehr aufzugehen: „Israel hat in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr von unserem Land um das Dorf enteignet. Doch das hier ist neu: Sie nehmen Land direkt aus dem Innern des Dorfes.“

Langsam wächst das Interesse der Politik

Seit Kurzem interessiert sich auch das politische Establishment verstärkt für den Fall: Anfang vergangener Woche besuchten die Parlamentarier Ahmad Tibi (Ta’al) und Micky Rozenthal (Labor) das Protestzelt am Rande der Baustelle. „Wir werden uns dafür einsetzen, dass die Pläne angepasst werden. Sie schaden dem Dorf. Doch ich kann nichts versprechen“, erklärte Rozenthal.

Die Aufmerksamkeit aus der Politik ist in weiterem Kontext zu begreifen.Vor rund einem Jahr beschloss der Stadtrat von Jerusalem eine Kampagne zur Verbesserung städtischer Dienstleistungen in arabischen Stadtvierteln, die nach Jahrzehnten der Vernachlässigung immer stärker Slums gleichen. Unter der Ägide von Bürgermeister Nir Barakat wurde ein Fünf-Jahres-Plan mit einem Budget von rund einer Million Euro überwiegend für Infrastrukturprojekte ausgearbeitet.

Die Autobahn für ein „geeintes Jerusalem“

Der Schritt fällt unter das weiter reichende politische Ziel, Ost-Jerusalem vollends zu annektieren.„Wir müssen Jerusalem als geeinte Hauptstadt stärken und zeigen, dass es uns dabei um alle Bürgerinnen und Bürger geht“, erklärte Barakats Verkehrsminister Yisrael Katz im Februar 2012. Barakat, vor seinem Posten als Bürgermeister ein erfolgreicher und reich gewordener Geschäftsmann, verfolgt den Plan von „Groß-Jerusalem“ mit viel Pragmatismus. Seine technokratische Regierungsführung basiert auf der einfachen Gleichung, dass wirtschaftlicher Aufschwung bei gleichzeitig klar definierten sozialen Grenzen die politischen Ansprüche der palästinensischen Bevölkerung Ost-Jerusalems klein halten wird.

Während Israel Ost-Jerusalem immer fester im Griff hält, scheint sich die Segregation paradoxerweise zu vertiefen. Zwar durchziehen Straßen zu jüdisch-israelischen Stadtvierteln arabische Wohngegenden, doch hält kaum ein Auto an. Wirklich gemischte Stadtviertel gibt es in Jerusalem nicht. Jüdisch-arabischer Austausch ist im besten Falle oberflächlich: Seit Ausbruch der zweiten Intifada und dem Bau der Sperranlage sind Kontakte zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern rar, meist begrenzt auf Arbeitsverhältnisse. Adaption ist einseitig: Beit Safafas Nachbarn und Nachbarinnen in Gilo werden das Dorf kaum besuchen kommen oder gar Arabisch lernen. Die Moral von Khalil Alians Geschichte von Katz und Maus gilt fast ausschließlich für die palästinensisch-arabischen Bewohner Israels.

„Die Regierung möchte Araber und Juden segregieren. Straße Nr. 4 wird durch Beit Safafa verlaufen, doch eine Auffahrt für uns ist nicht vorgesehen. Die Straße ist nicht für uns und wir wissen das“, sagt Alian. Die Autobahn, als Teil des größeren Ganzen, ist Beispiel für das Gesicht der Besatzung in Jerusalem, wo technokratische Regierungsmaßnahmen den modus operandi der Unterdrückung darstellen.

 

Der Artikel erscheint in englischer Fassung auf der Seite des Alternative Information Center (AIC). Das AIC ist eine palästinensisch-israelische Organisation für alternative Medienberichterstattung zum Nahostkonflikt. Lea Frehse und Johanna Wagman arbeiten zur Zeit als Journalistinnen für dasAIC in Jerusalem und Beit Sahour.

Lea ist seit 2011 bei Alsharq. Sie hat Internationale Politik und Geschichte in Bremen und London (SOAS) studiert und arbeitet seitdem als Journalistin. Mehrere Jahre hat sie in Israel und Palästina gelebt und dort auch Alsharq-Reisen geleitet. Lea ist heute Redakteurin bei der Wochenzeitung Die Zeit.